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Altavista: Ausgabe Sommer 2017

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J<br />

ahrelang habe ich ein bewundernswertes<br />

Ehepaar besucht.<br />

Beide waren um die 70 Jahre alt<br />

und der Mann hat sich auf<br />

eindrückliche Weise um seine<br />

Frau gekümmert, die an Amyotrophen Lateralsklerose<br />

(ALS) erkrankt war. Bei meinen<br />

ersten Besuchen war eine eingeschränkte<br />

Kommunikation noch möglich.<br />

Zwar konnte sie nicht mehr sprechen, doch<br />

auf Fragen konnte sie per codierten Fingerzeichen<br />

mit «Ja» und «Nein» Antwort geben.<br />

Mit der Zeit «verstummten» die Fingerzeichen<br />

und die Krankheit nahm<br />

erbarmungslos ihren Lauf. Eines Tages rief<br />

mich ihr Mann an und teilte mir mit, dass<br />

die Frau im Sterben liege. Was war passiert?<br />

Wegen einer gebrochenen Magensonde<br />

musste sie ins Spital und nach Beratung<br />

mit den Ärzten entschied sich der<br />

Ehemann gegen eine Operation und nahm<br />

seine Frau nach Hause. Als ich die beiden<br />

besuchte, war sie sehr abgemagert, die Augen<br />

durch die Lähmung der Lider geschlossen.<br />

Zwei Wochen lag sie schon so da. Aus<br />

den vergangenen Besuchen wusste ich,<br />

dass beide eine tiefe Leidenschaft für klassischen<br />

Musik hatten.<br />

Ein Streichquartett für die Seele<br />

Der Ehemann erzählte immer wieder von<br />

verschiedensten Konzertbesuchen und sie<br />

hatte damals mit wachen Augen mitgehört.<br />

Es ging um Bayreuther Festspiele, Maria<br />

Callas an der Mailänder Scala, die Musikwochen<br />

in Luzern und vieles mehr. So<br />

fragte ich den Ehemann, ob ich in den<br />

nächsten Tagen mit einem Streichquartett<br />

vorbeikommen dürfe für ein halbstündiges<br />

Konzert. Er willigte ein und so – ich weiss<br />

es noch genau – klopfte ich an einem heissen<br />

Sonntagnachmittag mit dem Streichquartett<br />

an seiner Tür. Der Ehemann sass<br />

während des halbstündigen Konzerts links<br />

an ihrer Seite, die vier Musiker an der Fussseite<br />

der Sterbenden, ich neben ihrem<br />

Mann, ihren schwachen aber ruhigen Atem<br />

kontinuierlich beobachtend. Am Abend des<br />

nächsten Tages rief mich ihr Ehemann an,<br />

um mir vom Tod zu berichten.<br />

Hat die Musik<br />

sie in den<br />

Tod «gespielt»?<br />

Hat die Musik sie in den Tod «gespielt»?<br />

Diese Frage wird wohl offenbleiben.<br />

Doch etwas anderes war geschehen.<br />

An diesem Abend – nach dem Konzert –<br />

sass der Ehemann lange an ihrem Bett und<br />

erzählte nochmals von den vielen schönen<br />

gemeinsamen Erlebnissen und beendete<br />

seine «Liebes»-geschichten mit: «Du darfst<br />

jetzt gehen.» In all den Jahren hat er nie<br />

über den Tod reden wollen und er hielt immer<br />

an ihr fest.<br />

Gesang ist stärker als Sprache<br />

Die Anthropologin Dean Falk geht der Frage<br />

nach, welchen Nutzen die Musik für die<br />

Menschen hat. «Motherese» nennt sie ihre<br />

interessante Hypothese und diese scheint<br />

in einem erweiterten Sinn plausibel für<br />

jenen beschriebenen Abschiedsmoment.<br />

Beim frühen Menschen klammerte sich<br />

das Baby noch ans Fell der Mutter und dieser<br />

dauernde Körperkontakt der Mutter mit<br />

ihrem Kind gilt als die sichere Bindung, die<br />

für die Entwicklung wichtig und wesentlich<br />

ist. Beim Homo Sapiens oder dem<br />

«nackten Affen», wie ihn Desmond Morris<br />

betitelt, ist dieser Halt so nicht mehr möglich.<br />

Wenn die Mutter nun durch eine Tätigkeit<br />

gezwungen wird, ihren Säugling auf<br />

den Boden zu setzen, beginnt sie intuitiv zu<br />

singen, um ein Schreien des Kleinkindes<br />

zu verhindern. Diesen einfachen Sing-Sang<br />

nennt Dean Falk das Kontinuum des körperlichen<br />

Mutter-Kind-Kontakts. Die Psychologin<br />

Mechthild Papoušek hat in Versuchen<br />

nachgewiesen, dass Singen in diesem<br />

Kontext stärker wirkt als Reden.<br />

Musik als Kontinuum für eine sichere<br />

Bindung – wie von Dean Falk beschrieben<br />

– können wir in einen grösseren Zusammenhang<br />

stellen. Jeden Menschen<br />

treibt die Sehnsucht nach einem Grossen<br />

und Ganzen in irgendeiner Form um. Wir<br />

reden vom nie erreichbaren perfekten<br />

Glück, vom Eingebundensein in ein grosses<br />

Ganzes. Sören Kierkegaard spricht<br />

von einem notwendigen Urvertrauen<br />

des Menschen über die Mutter-Kind-<br />

Beziehung hinaus. Ist Musik ein Kontinuum<br />

zu diesem weltanschaulich offenen<br />

«Kontakt», ein universelles «motherese»?<br />

Nietzsche bringt es auf den Punkt, wenn<br />

er sagt: «Ohne Musik wäre das Leben<br />

sinnlos.» Bei diesem feierlichen Moment<br />

mit klassischer Musik trat bei dem Ehemann<br />

am Sterbebett eine Wandlung ein.<br />

In die musikalische Atmosphäre eingebunden<br />

und spürend umfangen konnte ➔<br />

Thema Musik & ALS <strong>Sommer</strong> <strong>2017</strong> ALTA VISTA 21

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