Altavista: Ausgabe Sommer 2017
- Keine Tags gefunden...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
J<br />
ahrelang habe ich ein bewundernswertes<br />
Ehepaar besucht.<br />
Beide waren um die 70 Jahre alt<br />
und der Mann hat sich auf<br />
eindrückliche Weise um seine<br />
Frau gekümmert, die an Amyotrophen Lateralsklerose<br />
(ALS) erkrankt war. Bei meinen<br />
ersten Besuchen war eine eingeschränkte<br />
Kommunikation noch möglich.<br />
Zwar konnte sie nicht mehr sprechen, doch<br />
auf Fragen konnte sie per codierten Fingerzeichen<br />
mit «Ja» und «Nein» Antwort geben.<br />
Mit der Zeit «verstummten» die Fingerzeichen<br />
und die Krankheit nahm<br />
erbarmungslos ihren Lauf. Eines Tages rief<br />
mich ihr Mann an und teilte mir mit, dass<br />
die Frau im Sterben liege. Was war passiert?<br />
Wegen einer gebrochenen Magensonde<br />
musste sie ins Spital und nach Beratung<br />
mit den Ärzten entschied sich der<br />
Ehemann gegen eine Operation und nahm<br />
seine Frau nach Hause. Als ich die beiden<br />
besuchte, war sie sehr abgemagert, die Augen<br />
durch die Lähmung der Lider geschlossen.<br />
Zwei Wochen lag sie schon so da. Aus<br />
den vergangenen Besuchen wusste ich,<br />
dass beide eine tiefe Leidenschaft für klassischen<br />
Musik hatten.<br />
Ein Streichquartett für die Seele<br />
Der Ehemann erzählte immer wieder von<br />
verschiedensten Konzertbesuchen und sie<br />
hatte damals mit wachen Augen mitgehört.<br />
Es ging um Bayreuther Festspiele, Maria<br />
Callas an der Mailänder Scala, die Musikwochen<br />
in Luzern und vieles mehr. So<br />
fragte ich den Ehemann, ob ich in den<br />
nächsten Tagen mit einem Streichquartett<br />
vorbeikommen dürfe für ein halbstündiges<br />
Konzert. Er willigte ein und so – ich weiss<br />
es noch genau – klopfte ich an einem heissen<br />
Sonntagnachmittag mit dem Streichquartett<br />
an seiner Tür. Der Ehemann sass<br />
während des halbstündigen Konzerts links<br />
an ihrer Seite, die vier Musiker an der Fussseite<br />
der Sterbenden, ich neben ihrem<br />
Mann, ihren schwachen aber ruhigen Atem<br />
kontinuierlich beobachtend. Am Abend des<br />
nächsten Tages rief mich ihr Ehemann an,<br />
um mir vom Tod zu berichten.<br />
Hat die Musik<br />
sie in den<br />
Tod «gespielt»?<br />
Hat die Musik sie in den Tod «gespielt»?<br />
Diese Frage wird wohl offenbleiben.<br />
Doch etwas anderes war geschehen.<br />
An diesem Abend – nach dem Konzert –<br />
sass der Ehemann lange an ihrem Bett und<br />
erzählte nochmals von den vielen schönen<br />
gemeinsamen Erlebnissen und beendete<br />
seine «Liebes»-geschichten mit: «Du darfst<br />
jetzt gehen.» In all den Jahren hat er nie<br />
über den Tod reden wollen und er hielt immer<br />
an ihr fest.<br />
Gesang ist stärker als Sprache<br />
Die Anthropologin Dean Falk geht der Frage<br />
nach, welchen Nutzen die Musik für die<br />
Menschen hat. «Motherese» nennt sie ihre<br />
interessante Hypothese und diese scheint<br />
in einem erweiterten Sinn plausibel für<br />
jenen beschriebenen Abschiedsmoment.<br />
Beim frühen Menschen klammerte sich<br />
das Baby noch ans Fell der Mutter und dieser<br />
dauernde Körperkontakt der Mutter mit<br />
ihrem Kind gilt als die sichere Bindung, die<br />
für die Entwicklung wichtig und wesentlich<br />
ist. Beim Homo Sapiens oder dem<br />
«nackten Affen», wie ihn Desmond Morris<br />
betitelt, ist dieser Halt so nicht mehr möglich.<br />
Wenn die Mutter nun durch eine Tätigkeit<br />
gezwungen wird, ihren Säugling auf<br />
den Boden zu setzen, beginnt sie intuitiv zu<br />
singen, um ein Schreien des Kleinkindes<br />
zu verhindern. Diesen einfachen Sing-Sang<br />
nennt Dean Falk das Kontinuum des körperlichen<br />
Mutter-Kind-Kontakts. Die Psychologin<br />
Mechthild Papoušek hat in Versuchen<br />
nachgewiesen, dass Singen in diesem<br />
Kontext stärker wirkt als Reden.<br />
Musik als Kontinuum für eine sichere<br />
Bindung – wie von Dean Falk beschrieben<br />
– können wir in einen grösseren Zusammenhang<br />
stellen. Jeden Menschen<br />
treibt die Sehnsucht nach einem Grossen<br />
und Ganzen in irgendeiner Form um. Wir<br />
reden vom nie erreichbaren perfekten<br />
Glück, vom Eingebundensein in ein grosses<br />
Ganzes. Sören Kierkegaard spricht<br />
von einem notwendigen Urvertrauen<br />
des Menschen über die Mutter-Kind-<br />
Beziehung hinaus. Ist Musik ein Kontinuum<br />
zu diesem weltanschaulich offenen<br />
«Kontakt», ein universelles «motherese»?<br />
Nietzsche bringt es auf den Punkt, wenn<br />
er sagt: «Ohne Musik wäre das Leben<br />
sinnlos.» Bei diesem feierlichen Moment<br />
mit klassischer Musik trat bei dem Ehemann<br />
am Sterbebett eine Wandlung ein.<br />
In die musikalische Atmosphäre eingebunden<br />
und spürend umfangen konnte ➔<br />
Thema Musik & ALS <strong>Sommer</strong> <strong>2017</strong> ALTA VISTA 21