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Altavista: Ausgabe Sommer 2017

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Kalte Platte<br />

Kolumne<br />

V<br />

iele Menschen haben keine Zeit mehr am Abend zu kochen. Hört man sich<br />

in der S-Bahn um, bekommt man den Eindruck, die ganze Schweiz esse<br />

Aufschnitt zum Z’nacht. «Schatz, ich bringe Salami», wird in die Handys<br />

gesprochen und den Fahrgästen läuft das Wasser im Mund zusammen.<br />

Im Pflegezentrum dagegen hat sich eine Angehörige beschwert, dass ihrem demenzkranken<br />

Mann zu häufig kalte Platte serviert werde – darum esse er nicht mehr.<br />

Appetitlosigkeit kann viele Ursachen haben, nicht zuletzt ein schmerzhaftes Gebiss.<br />

Gewiss ist abwechslungsreiches Essen wichtig, doch liegt der Hauptgrund für die<br />

halbleer gegessenen Teller häufig woanders. Um bei den Mahlzeiten herzhaft zuzugreifen,<br />

muss man sich wohl fühlen und das ist bei Menschen mit Demenz leider nicht immer<br />

der Fall. Viele fühlen sich gerade am Abend wie verloren. Es hilft ihnen wenig, wenn<br />

die Pflegenden sie an einen gemeinsamen Tisch setzen – im Gegenteil! Eine gewaltige<br />

Unruhe fährt plötzlich in Einige. Vergeblich versucht eine Pflegende abzulenken.<br />

«Wollen Sie nicht von dem feinen Fruchtsalat probieren?», schlägt sie vor. «Auf gar<br />

keinen Fall» ruft eine Bewohnerin und dreht sich zu einem Mitbewohner. «Komm!»,<br />

befiehlt sie, «wir müssen nach Hause!» Wahllos ergreifen die Beiden fremde Mäntel<br />

und strömen dem Ausgang zu.<br />

«Ich muss mich als Esskümmerer der Demenzkranken begreifen», sagt der Demenzkoch<br />

Markus Biedermann, der viele Bücher zum Thema verfasst hat. «In einigen Heimen<br />

mussten alle Küchenmitarbeitenden eine Art Götti sein mussten. Sie kannten ihre Bewohner<br />

beim Namen. Sie pressten Früchte auf der Abteilung aus. Die Bewohner schauten<br />

und hörten gespannt zu, wenn wieder so eine Birne oder ein Rüebli zerquetscht wurde.<br />

«Das habe ich extra für euch gemacht», sagte der Küchenangestellte und reichte den<br />

Bewohnern den Saft in kleinen Gläschen. «Greifen Sie zu!» Die Flüssigkeitszufuhr war<br />

nach mehreren Gläschen geregelt.»<br />

Dieser engagierte Demenzkoch konnte seine Crew für die demenzkranken Bewohner<br />

einnehmen. Ein junger Koch wollte einige warme Speisen im Bain-marie auf der<br />

Abteilung stehen lassen. Die Bewohner assen nicht. Stand er aber beim Gerät, rührte in<br />

den Speisen und erzählte Sachen begannen die Bewohner zu essen und liessen keinen<br />

Bissen übrig von den Speisen, die ihnen der junge Koch auf den Teller geschöpft hatte.<br />

Er reichte ihnen eine Serviette aus weissem Stoff und sagte: «So, ein wenig vornehm<br />

wollen wir es haben, nicht wahr? Bon appétit à tout le monde».<br />

Bücher von Markus Biedermann: «Essen als basale Stimulation»<br />

(ISBN 978-3-86630-157-3); «Smoothfood» (ISBN 978-3-7841-1975-5)<br />

Dr. Christoph Held<br />

Dr. Christoph Held, arbeitet als Heimarzt<br />

und Gerontopsychiater beim<br />

Geriatrischen Dienst der Stadt Zürich<br />

sowie im Alterszentrum Doldertal.<br />

Lehrbeauftragter der Universität Zürich<br />

sowie Dozent an den Fachhochschulen<br />

Bern, Careum Aarau und ZAH Winterthur<br />

sowie an der Universität Basel.<br />

Bücher «Das demenzgerechte Heim»<br />

(Karger, 2003), «Wird heute ein guter<br />

Tag sein? Erzählungen» (Zytglogge,<br />

2010), «Accueillir la demence»<br />

(Médecine et Hygiène, 2010), «Was<br />

ist gute Demenzpflege?» (Huber, 2013)<br />

Im Herbst <strong>2017</strong> erscheint «Bewohner»<br />

Erzählungen Dörlemannverlag<br />

Kontakt<br />

christoph.held@bluewin.ch<br />

Kolumne Dr. Christoph Held <strong>Sommer</strong> <strong>2017</strong> ALTA VISTA 9

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