Wirtschaftszeitung_04122017
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30 LEBEN &WISSEN<br />
Zwanziger Jahre: Schillernde<br />
Tänze auf dem Vulkan<br />
Der Münsteraner Illustrator Robert Nippoldt hat in fünf Jahren einen Prachtband geschaffen,<br />
der auf ganz besondere Weise an das pulsierende Leben in Berlin erinnert.<br />
Eine der 765 Zeichnungen im Buch zeigt, wie das Licht die vergnügungssüchtigen Menschen anlockt, die in Berlin die Nacht zum Tagzumachen.<br />
Foto: Robert Nippoldt/Taschen-Verlag<br />
Die Zwanziger Jahre sind wieder<br />
sehr in Mode. Die ARD gab grünes<br />
Licht für weitere Staffeln der „Babylon<br />
Berlin“-Serie von Tom Tykwer.<br />
Sie basiert auf dem preisgekrönten<br />
Roman „Der nasse Fisch“ von Volker<br />
Kutscher.AnfangDezembererschien<br />
ein gezeichnetes Buch über das Berlin<br />
der zwanziger Jahre. Fünf Jahre<br />
hat der Münsteraner Robert Nippoldt<br />
darin investiert. Mit Erfolg.<br />
Schon jetzt liegen zahlreiche Vorbestellungen<br />
vor.<br />
Das gleißende Scheinwerferlicht<br />
in dem edlen Ballhaus<br />
fällt auf eine dunkelhäutige<br />
Frau. Sie trägt nur<br />
Schmuck und einen Rock<br />
aus 16Plüschbananen. Zum Charleston<br />
des Orchesters wackelt sie so virtuos mit<br />
dem Po, dass die Zuschauer in Schnappatmung<br />
verfallen. Es ist 1926.Wir sind in<br />
Berlin und Tänzerin<br />
Josephine Baker<br />
notiert in ihren<br />
Memoiren, dass sie<br />
in keiner anderen<br />
Stadt so viele Blumen<br />
und Geschenke<br />
erhalte. Vielleicht<br />
weil sie auch<br />
schon tagsüber die<br />
Extravaganz der<br />
pulsierenden Metropole<br />
feiert und<br />
im Straußengespann<br />
durch die<br />
Straßen fegt. Dem<br />
setzt Marlene Dietrich<br />
ihren weiblichen<br />
Dandy-Look<br />
entgegen, paart<br />
maskuline Accessoires<br />
und Kleidungsstücke<br />
mit<br />
Das großformatige Bild(er)buch „Es wird<br />
Nacht im Berlin der wilden Zwanziger“ erscheint<br />
im renommierten Taschen-Verlag.<br />
kühler Finesse und<br />
Androgynität.<br />
Das sind nur zwei<br />
Ikonen der Unterhaltungskunst, die<br />
Buchkünstler und Zeichner Robert Nippoldt<br />
in seinem neuen Bild(er)-Prachtband<br />
„Es wirdNacht im Berlin der wilden<br />
Zwanziger“ bis in die Bananen-, pardon,<br />
Haarspitzen kongenial mit fl<br />
ottem<br />
Pinselstrich und feiner Tusche schwungvoll<br />
auf edles Leinenpapier zaubert. Der<br />
40-jährige Münsteraner taucht ein in die<br />
Glamour-Welt der damals 170 (!) Berliner<br />
Varietés, stellt ihreAkteureinsilhouettenhaften<br />
Großportraits zum Greifen<br />
nah vor. Mehr noch: Er kontrastiert das<br />
kunterbunteund schrille Nachtleben mit<br />
dem ungeschminkten Alltagsleben zwischen<br />
den beiden Weltkriegen. Zwischen<br />
Konsum und Armut, zwischen Feierkultur<br />
und Arbeitswelt, zwischen freiem Leben<br />
und aufgezwungener Emigration,<br />
zwischen Monarchie und Diktatur.<br />
Wohlhabende Herren im Dreiteiler und<br />
Damen mit Stirnband über dem Garcon-<br />
Haarschnitt oder Boa zum Cocktailkleid<br />
tanzen den Shimmy, als gebe es kein Morgen<br />
mehr –während sich nur ein paar<br />
Seiten weiter die Armen Berlins entscheiden<br />
müssen: für eine warme Mahlzeit<br />
oder ein Dach über dem Kopf. Beides ist<br />
in der trüben Hinterhofw<br />
elt nicht drin,<br />
während auf den hellen Showbühnen<br />
schon wieder die luxuriöse Ausstattung<br />
wechselt. Es ist eben dieser Tanz aufdem<br />
Vulkan zwischen beiden Weltkriegen, die<br />
Robert Nippoldt zum großformatigen<br />
Buch anspornte. „Die Menschen in Europa<br />
wussten, dass die politische und wirtschaftliche<br />
Lage überaus instabil war.<br />
Niemand wusste, ob er das alles überleben<br />
würde –aber die Lebensgier warumso<br />
größer. Alle wollten das Leben genießen.“<br />
Nippoldt schätzt die Zwanziger<br />
sehr: „Es ist eine unvergleichlich intensive<br />
und produktive Zeit, in der es in allen<br />
kulturellen Bereichen bahnbrechende Innovationen<br />
gab.“<br />
Ganze fünf Jahre hat der Münsteraner –<br />
Fünf Jahre brauchte Illustrator Robert Nippoldt aus Münster für sein Buch „Es wird<br />
Nacht im Berlin der wilden Zwanziger.“ Auf 224 Seiten taucht erein in die Sinfonie der<br />
Metropole auf dem Pulverfass zwischen 1918 und 1933. Foto: Peter Sauer<br />
mit Schiebermütze, Stoffhf ose, Hosenträgern<br />
und „Mafia“-Lackschuh selbst gekleidet<br />
wie in den Zwanzigern –inseinem<br />
Atelier am Güterbahnhof an seinem<br />
Berlin-Buch gearbeitet, mit ehrgeiziger<br />
Akribie über tausend Skizzen und Zeichnungen<br />
angefertigt.<br />
Am Anfang standen umfassende Recherchen<br />
in Bibliotheken oder mit Experten.<br />
Dann entstanden unzählige weiße Karteikarten,<br />
auf denen der schlaksigeVater<br />
zweier Kinder mit wenigen Bleistiftstrichen<br />
die Motiveandeutete. Die Kärtchen<br />
heftete erandie Wände, wechselte immer<br />
wieder die Reihenfolge, verwarfEntwürfe,<br />
tauschte Motive aus, um das<br />
Storyboard zuentwickeln. Wie ein Filmregisseur<br />
stellte Robert Nippoldt daraus<br />
65 Großszenen zusammen. „Das war regelrechte<br />
Puzzlearbeit.“ Viel Zeit benötigteder<br />
rote Faden zwischen rauschhaftemExzess<br />
und extremer Armut, Emanzipation<br />
und Extremismus, Tagund Nacht,<br />
Sein und Schein.<br />
Bei der Illustration setzte der Münsteraner<br />
auf ungewöhnliche Perspektiven und<br />
„Film-Noir“-Licht-und-Schatten-Effekte<br />
(atmosphärische Grauschattierungen),<br />
rhythmische Linien und ornamentale<br />
Verzierungen. Nach handgemachtenStrichen<br />
und Schraffuren färbte er später<br />
nachträglich einzelne Passagen am Computer<br />
ein.<br />
„Gestaltung und Illustration sind bei mir<br />
mindestens gleichberechtigt“, sagt der<br />
Perfektionist, der dem Leser das Gefühl<br />
gibt, beim Umblättern der Seiten selbst<br />
zum Kameramannzuwerden, um seinen<br />
Blick wahlweise auf TotaleoderZoom zu<br />
stellen. Oben richten die Techniker die<br />
schweren Bühnenscheinwerfer, unten<br />
auf dem Parkett swingen sich die Tanzschuhe<br />
heiß, draußen strahlen die Reklameschilder<br />
über das Grau der Häuser um<br />
die Wette. ►Fortsetzung auf Seite 31