Wirtschaftszeitung_04122017
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LEBEN &WISSEN 31<br />
Grelles Großstadtlicht neben<br />
dem Grau der Hinterhöfe<br />
Der Vergnügungspalast „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz wird inNippoldts Berlin-Band<br />
wie der Querschnitt eines Schiffsrumpfs in seine Einzelteile zerlegt.<br />
Robert Nippoldt setzt auf<br />
große Abwechslung und<br />
ausgefallene Sichtweisen.<br />
So gibt es große silhouettenhafte<br />
Portraits mit präziser<br />
Mimik, paritätisch von unvergessenen<br />
Zeitgenossen wie AlbertEinstein und<br />
Max Reinhardt und vontotal vergessenen<br />
Helden wie Stilikone Anita Berber oder<br />
Chronistin Jeanne Mammen. Es gibt aber<br />
auch Übersichtskarten, auf denen zum<br />
Beispiel der Mode- und Politikzirkus fokussiert<br />
dargestellt wird. Besonders<br />
stark: Wieden Querschnitt eines Schiffsrumpfs<br />
zeichnet Nippoldt den Konsumtempel<br />
„Haus Vaterland“. Jeder einzelne<br />
Saal schält sich heraus wie das tanzende<br />
Kläppchen eines Adventskalenders. Der<br />
Münsteraner ahmt auch 51 Filmplakate<br />
detailreich nach und bringt in 403fingernagelgroßen<br />
Vignetten Hintergrundwissen<br />
fast beiläufig unter. Auch alle Schriftzüge<br />
und Schallplattenetiketten hat er<br />
selbst bearbeitet, handgelettert, manche<br />
selbst entworfen – irgendwo zwischen<br />
Art Deco, Bauhaus und Neuer Sachlichkeit<br />
(von Schmuckinitialen<br />
bis Minuskelnziffern). Nippoldt gelingt<br />
es so, die grellen Lichter der Großstadt<br />
und das Grau der Fabriken,Hinterhöfe<br />
und Mietskasernen, das Geschrei<br />
der Sporthallen und die Stille der Theatersäle<br />
gleichermaßen zu illustrieren.<br />
Das gibt seinemBucheine besondereAtmosphäre<br />
und Ästhetik –als ob man als<br />
Zeitreisender durch das Berlin der Zwanziger<br />
fl<br />
aniert.<br />
Nurden Text für sein Buch gaberaus der<br />
Hand und wählteals AutorenBoris Pofalla<br />
(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung;<br />
Roman„Low“) aus. Eine guteWahl,<br />
da dieser sehr stimmungsvoll und einfühlsam<br />
formuliert. Dem Buch legte Robert<br />
Nippoldt noch eine CD mit raren<br />
Schlagern jener Stadt bei, die niemals<br />
schlief, bevor Weltwirtschaftskrise und<br />
Naziherrschaft Berlin<br />
das Licht ausknipsten.<br />
Die Übermacht<br />
von Adolf Hitler symbolisiert<br />
er dadurch,<br />
dass sein Portrait an der<br />
oberen rechten Ecke<br />
Freizügig ging es in den zwanziger Jahren zu. Nicht nur bei den Tänzerinnen, auch bei Privatfeiern der Boheme<br />
in Berlin.<br />
Foto: Robert Nippoldt/Taschen-Verlag<br />
halb aus dem Buch fällt. „Ich wollte ihm<br />
auch nicht so viel Platz schenken.“<br />
Der prachtvolle Band „Es wird Nacht im<br />
Berlin der wilden Zwanziger“ ist ein sinnliches<br />
Flanieren durch eine Zeit, die überhaupt<br />
nicht gestrig wirkt. Nippoldts sehr<br />
ästhetische Illustrationen, Graphiken<br />
und Schriftzüge sorgen für eine unterhaltsamewie<br />
lehrreiche, aber leichtfüßige<br />
Zeitreise. Limitierte Siebdrucke einzelner<br />
Motive werden übrigens in zwei<br />
Galerien inMünster (Nettels, Steinrötter)<br />
sowie auch in Berlin gezeigt.<br />
Peter Sauer<br />
In Berlin fühlte sich Josephine Baker laut<br />
ihren Tagebucheinträgen am wohlsten. 1926<br />
war dort ihr Jahr. Foto: Robert Nippoldt/Taschen-Verlag<br />
Robert Nippoldt, Boris Pofalla: „Es wird<br />
Nacht imBerlin der wilden Zwanziger“.<br />
224 Seiten mit CD, 23,5 x37cm, ISBN<br />
978-3-8365-6319-2. Taschen, 49,99<br />
Euro. ww<br />
w w.nippoldt.de/de/<br />
Schmelztiegel: Das „Haus Vaterland“ (inklusive „Kempinski“) war<br />
ein Vergnügungspalast am Potsdamer Platz in Berlin mit Steingewölben<br />
über den Bogenfenstern –gezeichnet von Robert Nippoldt.<br />
Foto: Peter Sauer<br />
ZUR PERSON<br />
Robert Nippoldt wurde 1977 in Kranenburg am Niederrhein<br />
geboren. Schon sein Großvater hat gemalt, war Zille-Fan<br />
und Mundart-Dichter. Die Großmutter interessierte<br />
sich für Mode, der Vater nahm die Kinder immer gerne<br />
mit zur Documenta. Zunächst jobbte Nippoldt als Zeichner<br />
bei Gericht: „Da kann man gut Charakterstudien<br />
üben.“<br />
1999 begann er in Münster ein Studium an der Fachhochschule<br />
für Grafik und Illustration. Seine Diplomarbeit war<br />
sein erstes Buch „Gangster“, das 2005 im Verlag Gerstenberg<br />
erschien. 2007 erschien „Jazz imNew York der wilden<br />
Zwanziger“. Eswurde von der Deutschen Stiftung<br />
Buchkunst 2007 zum schönsten Buch des Jahres gewählt.<br />
Für seinen Prachtband mit Goldstaub-Cover „Hollywood<br />
in den 30er Jahren“ (2010) begeisterte er auch Fachmagazine<br />
wie „Vanity Fair“ (New York), „Weekend Knack“ (Belgien)<br />
oder „Curve“ (Libanon). Nippoldt räumte unter anderem<br />
den International Book Award Los Angeles und<br />
den Red Dot Design Award ab.<br />
Für die internationale Vermarktung produzierte er einen<br />
eigenen Stummfilm „The Book Artist“, der auch international<br />
in den Kinos und auf Festivals lief, fast inEigenregie.<br />
Ehefrau Christine schrieb das Drehbuch, spielte selbst<br />
mit –mit Kissen unterm Kleid. Denn sie war zur Entstehungszeit<br />
des Buches schwanger mit Tochter Johanna.<br />
Kaum zu glauben: Zur Veröffentlichung des Stummfilms<br />
war sie erneut schwanger.<br />
Nippoldt arbeitet auch als Dozent (z.B. FH Münster) sowie<br />
als Zeichner für „New Yorker“, „Le Monde“ oder das „Time<br />
Magazine“. Er illustriert auch eigene Brettspiele und Ladenlokale<br />
sowie die „Legendary Albums“, die limitierte<br />
Sammler-Edition für „Die Zeit“ (Miles-Davis-Box). Nippoldt<br />
hat sein Atelier in einem Künstlerkollektiv-Haus am<br />
Güterbahnhof in Münster. Abwerbe-Angebote aus Berlin<br />
hat erbislang erfolgreich abgelehnt. Peter Sauer<br />
Stummfilm „The Book-Artist“: www.youtube.com<br />
Eine poetische und<br />
gleichzeitig amüsante Schau<br />
Robert Nippoldt geht mit dem Trio Größenwahn auf Tournee<br />
Mit dem „Berlin“-Buch geht Robert<br />
Nippoldt bundesweit und auf Kreuzfahrtschiffen<br />
mit dem Trio Größenwahn<br />
auf Tournee. Die poetische<br />
Amüsier-Schau nennt sich „Ein rätselhafter<br />
Schimmer“.<br />
Zu den profund live vorgetragenen<br />
Hits der Zwanziger<br />
zeichnet Nippoldt seine Por<br />
träts mit Zeichenstift und<br />
Stahlfeder live. Alles wirdper<br />
Kamera auf die Leinwand projiziert. Vorgezeichnete<br />
Straßenszenen in Schwarz-<br />
Weiß mit hell funkelnden Lichtspielen<br />
und Breitwand-PerspektivefügtNippoldt<br />
als Hintergrundbilder per Siebdruck-Folie<br />
ein. Auf seinen Fingerspitzen kleben<br />
gezeichnete Porträts wie die Comedian<br />
Harmonists, die er wie tanzende Scherenschnittedurchs<br />
Bild huschen lässt, bis<br />
sie mit ihrem Gesang ein Klavier zerlegen.<br />
Ein Höhepunkt ist das illustrierte<br />
Kartenspiel, bei dem Nippoldt binnen<br />
weniger Sekunden alle Kanzler der Weimarer<br />
Republik auf die Leinwand wirft.<br />
Termine:<br />
Bielefeld, Freitag, 8. Dezember, 20Uhr,<br />
Flink, schwungvoll und detailreich: Illustrator Robert Nippoldt (r.) zeichnete live zuder<br />
Musik des „Just Jazz Trios“, Eva Lotta Stein (Gesang), Christian Manchen (Piano, 2.v.r.) und<br />
Christoph Kopp (Kontrabass), seine Eindrücke vom pulsierenden Berlin der zwanziger Jahre.<br />
Foto: Peter Sauer<br />
Neue Schmiede. Karten unter: Telefon:<br />
0521-1443003 oder ww<br />
w w.neue-schmie-<br />
de.de;<br />
Wermelskirchen, Freitag, 12. Januar<br />
2018; 20 Uhr, Kattwinkelsche Fabrik,<br />
Karten unter: www w.remscheid-live.de;<br />
Münster, Samstag, 3. Februar 2018, 20<br />
Uhr, Friedenskapelle, Karten unter: WN-<br />
Ticketshop, Jörg‘s CD Forum, Reiseland<br />
Ratio: Tel. 0251-6742130 oder 0251-<br />
1364164 sowie ww<br />
w w.friedenskapelle-<br />
ms-ticketshop.reservix.de<br />
www w.ein-raetselhafter-schimmer.de<br />
pesa