Berliner Zeitung 20.10.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 245 · 2 0./21. Oktober 2018 3<br />
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Report<br />
Hertha-Follower bei Twitter 2018<br />
340 000<br />
Hertha-Fans bei Facebook 2018<br />
362 000<br />
BLZ/GALANTY<br />
dann wird es schon schwieriger,<br />
komplizierter. Nicht nur im Fußball.<br />
Jede Branche verändert sich, muss<br />
sich verändern, heißt es. Und plötzlich<br />
laufen dann Change Manager<br />
durchs Haus,wollen über die Unternehmenskultur<br />
sprechen, über Assets,<br />
Benchmarks, Feedback, Synergieeffekte<br />
oder Turnarounds.<br />
Um zu vermeiden, dass sich die<br />
Mitarbeiter bloß im Kreis drehen,<br />
werden Arbeitsgruppen gebildet, die<br />
aber meist einen klangvolleren Namen<br />
tragen. Es werden neue Aufgaben<br />
mit neuen Methoden, neue Profile<br />
mit neuen Jobtiteln verknüpft.<br />
Manchmal ist das Neue lediglich<br />
neu etikettiert. Keuter will kein Etikettenschwindler<br />
sein. Er sagt: „Es<br />
braucht den Wandel, um in der Zukunft<br />
agil und erfolgreich zu sein.<br />
Aber ich kann nicht jedes Detail der<br />
Digitalisierung erklären, da wird<br />
selbst mir schwindelig.“<br />
Natürlich haben sie auch bei Hertha<br />
Arbeitsgruppen gebildet, Tiefeninterviews<br />
mit den Angestellten geführt,<br />
sogenannte Deep Dives. „Alle<br />
vier Mitglieder der Geschäftsleitung“,<br />
sagt Keuter, „haben sich in<br />
Therapie begeben, sich gefragt: Wer<br />
sind wir eigentlich? Wofür stehen<br />
wir? Werwollen wir sein?“<br />
Die Gruppentherapie<br />
DerKlub hat neue Arbeitsstrukturen<br />
in der Geschäftsstelle errichtet, eine<br />
Fehlerkultur etabliert, den Mut und<br />
die Eigenverantwortung auch in der<br />
Onlineredaktion gefördert. Es entstand<br />
eine Digital Roadmap, ein<br />
Strategieplan mit Zwischenstationen<br />
und Zielvereinbarungen, von<br />
CRM bis SEO –die Change Manager<br />
waren auch mal da.<br />
Die Fans hätten sich gewünscht,<br />
öfter nach ihren Vorstellungen gefragt<br />
zu werden. Die Kurve ist ja<br />
durchaus kreativ. Neulich stand da:<br />
„In Berlin kannst du alles sein. Auch<br />
arbeitslos – Keuter raus!“ Darüber<br />
konnte er noch lachen.<br />
Nach der Gruppentherapie standen<br />
zwei zentrale Werte, denen das<br />
Klubleben unterordnet werden soll.<br />
Erstens: Innovation –deswegen die<br />
Behauptung, Berlins ältestes Startup<br />
zu sein, deswegen der Einstieg in<br />
den eSport und die neuen Formate<br />
auf Twitter, Facebook, Instagram.<br />
Zweitens: Vielfalt – deswegen die<br />
Schöneberger Dragqueens, deswegen<br />
die Solidarität mit Deniz Yücel<br />
und #takeaknee vor einem Jahr, als<br />
die Mannschaft im Mittelkreis ein<br />
Zeichen gegen Rassismus setzte.<br />
In Teilen der Fanszene wurde der<br />
Kniefall kritisiert, auch weil die Werbeagentur<br />
Jung von Matt für diese<br />
Aktion einen Cleo Award inBronze<br />
gewann, es aber öffentlich hieß, die<br />
Idee sei innerhalb der Mannschaft<br />
entstanden. DerVorwurflautete mal<br />
wieder: Hertha tue alles für ein plakatives<br />
Image, für junge Zielgruppen,<br />
neue Märkte.„Ichkann die Kritik<br />
verstehen“, sagt Keuter.„Ichfinde<br />
es trotzdem wahnsinnig merkwürdig,<br />
dass sich viele Leute auf die<br />
Frage versteifen: Wieist das entstanden?<br />
Und weniger darauf, wie wir<br />
hinter dem Statement stehen.“<br />
Dazu wäre esvon Vorteil, wenn<br />
Klubführung und Fanszene miteinander<br />
sprechen würden. Das tun sie<br />
aber nicht mehr.Vertreter der Ultras<br />
haben den Kontakt abgebrochen.<br />
Ein Mitglied der Harlekins sagte der<br />
<strong>Berliner</strong> Morgenpost im März: „Wir<br />
werden nicht als Gesprächspartner<br />
auf Augenhöhe wahrgenommen.<br />
Für den Verein ist der Dialog nur ein<br />
Feigenblatt.“ Hertha ist bereit, die<br />
Gespräche wieder aufzunehmen.<br />
Keuter plant neue Dialogforen.<br />
Im Aprilstand dann in der Kurve:<br />
„Wer zu viel postet, hat irgendwann<br />
nichts mehr zu lachen. Keuter, dein<br />
Ende naht!“ Und: „Keuter, der Ball<br />
fliegt immer noch analog ins Tor.“<br />
Die Bildzeitung hatte Herthas Kommunikationschef<br />
zuvor mit dieser<br />
Aussage zitiert: „Wer sagt, dass die<br />
Digitalisierung den Fußball kaputtmacht,<br />
hat den Schuss nicht gehört.“<br />
Im Kleinen bedeutet Digitalisierung<br />
nichts Schlimmes: Man kann<br />
den „Gartenzwerg Currywurst“ mit<br />
wenigen Klicks im Onlineshop bestellen<br />
oder Tickets auf das Smartphone<br />
laden; Stadionzuschauer werden<br />
auf der Anzeigetafel über die<br />
Ballbesitzstatistik und den Videobeweis<br />
informiert; und jeder <strong>Berliner</strong><br />
Kiezklub muss jedes Ergebnis in ein<br />
zentrales System eingeben. Über die<br />
Appvon Fußball.de können Fans Tabellen<br />
und Torschützenlisten abrufen,<br />
runter bis zur untersten Liga.<br />
Undwer will, kann zu jedem Spiel einen<br />
Liveticker schreiben.<br />
Im Großen kann Digitalisierung<br />
das bedeuten, was der FC Bayern demonstriert.<br />
Mit all seiner Branchengröße<br />
und der Speicherkraft eines<br />
Rechenzentrums, für das der Klub<br />
ein Gebäude in Stadionnähe errichten<br />
ließ. Mit eigener Kühlung und<br />
Stromversorgung, stets in der Lage,<br />
Backups zu erstellen, um sicher und<br />
unabhängig zu sein. DieBayernsind<br />
die wahre Bavaria One, natürlich<br />
auch der aktuelle deutsche Social-<br />
Media-Meister,der seine Homepage<br />
in acht Sprachen betreibt, über dreißig<br />
Kanäle bespielt und im vergangenen<br />
Jahr knapp elf Milliarden<br />
Fans,User oder Customer erreichte.<br />
Im Januar veranstalteten die Bayern<br />
einen mehrtägigen Hackathon<br />
Kurvenbotschaft im Olympiastadion. Darüber kann Paul Keuter noch lachen.<br />
mit über 200 Teilnehmern aus über<br />
40 Ländern und stellten zum Beispiel<br />
solche Ausgangsfragen, Challenges<br />
genannt: „Was sind deine<br />
Ideen, um das Mobile-Erlebnis und<br />
die emotionale Bindung an Produkte<br />
zu verbessern? Wie können Fan-<br />
Emotionen zum Spiel, im Stadion, in<br />
Sportsbars und vor Screens intelligent<br />
vernetzt werden? Wie können<br />
wir neue Gestaltungsmöglichkeiten<br />
zur Interaktion mit FC Bayern Fans<br />
während ihrer Autofahrtfinden?“<br />
Daten sind das neue Geld<br />
DieAntworten der Hacker sollen dabei<br />
helfen, die digitale Vorherrschaft<br />
des Klubs auszubauen. Wenn eine<br />
Idee gut ist, wird sie umgesetzt, implementiert.<br />
Big Data ist das große<br />
Ding. Daten sind das neue Geld.<br />
Noch schießen auch sie keine Tore.<br />
Bringt man aber Finanzkraft und<br />
Analysefähigkeiten zusammen, erhöht<br />
sich die Wahrscheinlichkeit,<br />
richtige Entscheidungen zu treffen.<br />
Bei der Kommunikation mit den<br />
Fans, die personalisierte Werbebotschaften<br />
bekommen sollen; und in<br />
anderen datenbasierten Bereichen<br />
MATTHIAS KOCH<br />
wie Taktik, Transfers,Trainingssteuerung,<br />
medizinische Vorsorge oder<br />
Stadionausstattung, die ein Sporterlebnis<br />
immer mehr zu einem Showevent<br />
macht. Fußball wird zur digitalen<br />
Droge.Die Klubs sind die Dealer.<br />
Und die Bayern? Haben im Mai<br />
die Gründung der Digital- und Medientochter<br />
FCB Digital &Media Lab<br />
GmbH beschlossen.<br />
Ambitioniert sind auch die Ziele<br />
von Eintracht Frankfurt. Der Klub<br />
versteht sich als Botschafter der lokalen<br />
Gründerszene, hat mit der<br />
Ideenbörse TechQuartier einen Kooperationspartner<br />
gewonnen und<br />
veranstaltet dort regelmäßig Bootcamps,<br />
eine Art Trainingslager für<br />
Start-ups.Die Eintracht will vondem<br />
Wissen der auf Sportbusiness fokussierten<br />
Branche profitieren und der<br />
digitalste und innovativste Klub der<br />
Bundesliga werden. So wie die TSG<br />
1899 Hoffenheim, die mithilfe von<br />
SAP einen Digital Boardroom entwickelt<br />
hat, eine Kommandozentrale,<br />
wo über einen tischgroßen Touchscreen<br />
alle Leistungswerte der Spieler,<br />
der Stand des Kartenvorverkaufs<br />
oder alle Daten zu den bereits generierten<br />
Einnahmen aus der Champions<br />
League aufgerufen werden<br />
können.<br />
Doch das zurzeit wohl ehrgeizigste<br />
Projekt findet sich in der Regionalliga.<br />
Das Unternehmen Haalo<br />
Technology hat die SG Wattenscheid<br />
09 gekapert und träumt davon,<br />
in fünf Jahren die Reichweite<br />
des FC Barcelona zu übertreffen. Mit<br />
Millionen Spielerdaten aus dem<br />
Nachwuchsbereich soll es auch<br />
sportlich nach oben gehen, ein Fußballcampus<br />
entstehen, eSportist ein<br />
Thema. Noch wird über Crowdfunding<br />
Geld gesammelt, später will<br />
Haalo selbst fünf Millionen Euro in-<br />
vestieren. Undinirgendeiner fantastischen<br />
Zukunft könnten sich dann<br />
auch die Fans an einer ausgegliederten<br />
09 Soccer GmbH beteiligen, Mikroanteilseigner<br />
auf Kryptowährungsbasis<br />
werden, bei der Trikotauswahl<br />
mitbestimmen.<br />
Werbereits den Überblick verlorenhat,<br />
dem sei die Dissertation von<br />
Tobias Haupt empfohlen, Titel: „Social<br />
Media Marketing und Kapitalisierungsmöglichkeiten<br />
im Spitzensport–Eine<br />
empirische Erfolgsfaktorenanalyse<br />
im Rahmen der 1. Fußball-Bundesliga“.<br />
Haupt war der<br />
jüngste Professor für Sportmanagement<br />
in Deutschland, seit Oktober<br />
leitet er die DFB-Akademie in Frankfurt,<br />
die „Heimat und Kompetenzzentrum<br />
des deutschen Fußballs“<br />
werden soll. Dagegen wirken Herthas<br />
Pläne wie das Bemühen einer<br />
Brieftaube,eine E-Mail einzuholen.<br />
Nichts ist alternativlos<br />
Die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten,<br />
es gibt keinen Wegzurück in<br />
eineWelt, in der Fußballklubs Identifikation<br />
allein über ihr Logo,ihreFarben<br />
herstellen konnten und Einnahmen<br />
zum Großteil aus dem Ticketverkauf<br />
erlöst wurden.<br />
Doch muss das Undenkbare immer<br />
gedacht werden? Wollen die Bayern<br />
Fan-Emotionen irgendwann<br />
auch während des Duschens verkaufen?<br />
Werden die Fans nicht überreizt?<br />
Oder sind wir selbst daran schuld,<br />
weil wir alles konsumieren? Eine Studie<br />
hat ergeben, dass acht von zehn<br />
Stadionzuschauern während eines<br />
Spiels zum Smartphone greifen.<br />
Keuter nennt den digitalen Wandel<br />
alternativlos.Aber diesmal hat er<br />
den Schuss nicht gehört. Alternativlos<br />
ist das Unwortdes Jahres 2010. In<br />
der Begründung der Jury heißt es:<br />
„Das Wort suggeriert sachlich unangemessen,<br />
dass es bei einem Entscheidungsprozess<br />
von vornherein<br />
keine Alternativen und damit auch<br />
keine Notwendigkeit der Diskussion<br />
und Argumentation gebe.“<br />
Die Zukunft muss verhandelbar<br />
bleiben.Vorallem darum geht es den<br />
Fans. Paul Keuter sagt dazu: „Ja,<br />
doch, dem kann ich folgen, hätte<br />
man besser formulieren können.“<br />
Hertha hat übrigens beschlossen,<br />
dass Einladungen zu Mitgliederversammlungen<br />
nur online verschickt<br />
werden, der Klub ist aber noch postalisch<br />
erreichbar. Alternativen zu<br />
Beschimpfungen und Beleidigungen<br />
werden zugestellt. UndauchInitiativbewerbungen,<br />
falls jemand im<br />
digitalen Fußballshowbusiness arbeiten<br />
will. In der Unterabteilung<br />
Kommunikation ist bestimmt noch<br />
Platz für analoge Fanansichten.<br />
Paul Linke<br />
hat nur drei Fußball-Apps<br />
auf seinem Smartphone.<br />
HERTHA IN SPRÜCHEN<br />
„We try. Wefail.<br />
We win“<br />
Die Haltung: Dieser 2016 eingeführte<br />
Claim soll das Auf und Ab<br />
der Klubgeschichte abbilden –und<br />
den neuen Mut zu Scheitern betonen.<br />
Kritikpunkt: Ist halt nicht auf<br />
Deutsch. Und: Stammt von der<br />
Werbeagentur Jung von Matt.<br />
Im Original heißt es übrigens:<br />
„Ever tried. Ever failed. No matter.<br />
TryAgain. Fail again. Fail better.“<br />
Wer war’s? Samuel Beckett.<br />
„Die Zukunft<br />
gehört Berlin“<br />
Das Versprechen: Diese großen<br />
Worte sind eine Ableitung aus der<br />
Klubhaltung, eingeführt imgroßen<br />
Jubiläumsjahr 2017. Damit verbindet<br />
Hertha das boomende Berlin<br />
mit den eigenen Ansprüchen.<br />
61 Prozent der Fans sollen das gut<br />
finden. Die Ankündigungen<br />
„Deutscher Meister 2024“ und<br />
„Double-Sieger 2027“ sind nicht<br />
ganz so ernst gemeint.<br />
„In Berlin kannst<br />
du alles sein.<br />
Auch Herthaner“<br />
Die Kampagne: Hertha hat festgestellt,<br />
dass Bezüge zuBerlin am<br />
besten ankommen. Also bat der<br />
Klub seine Fans im Sommer,<br />
Teil der neuen Saisonkampagne zu<br />
werden: „Sagt uns, was euch zum<br />
ganz besonderen Herthaner macht<br />
und erzählt uns eure blau-weiße<br />
Geschichte.“ Die besten<br />
Geschichtenerzähler kann man<br />
zurzeit auf Plakaten im gesamten<br />
Stadtbild sehen.