Berliner Zeitung 20.10.2018
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10 20./21. OKTOBER 2018<br />
<strong>Berliner</strong> Linde<br />
DieSchönheit der Chemie<br />
Dass sich ihre Blätter im Herbst verfärben und<br />
abfallen, ist eine Überlebensstrategie der Bäume.<br />
Ganz nebenbei aber auch eine Augenweide<br />
Sie ist der <strong>Berliner</strong> Straßenbaum schlechthin.<br />
Nachdem sie im Frühsommer lieblich duftete<br />
und Autos mit ihrem Nektar verklebte, bildet sie<br />
nun an den Straßen leuchtend gelbe, mal<br />
orangeüberhauchte, mal grün grundierte<br />
Bänder.Natürlich wächst sie auch in ländlichen<br />
Regionen, vorHöfen oder als Alleebaum.<br />
Linden, insbesondere die in Städten gern<br />
gepflanzte Winterlinde, sind anspruchslos und<br />
verzeihen auch stärkeren Rückschnitt –das ist<br />
neben Häusernund Straßen wichtig.Und sie<br />
sind eine ausgezeichnete Bienenweide.<br />
VonSabine Rohlf<br />
Es beginnt mit dem Wilden<br />
Wein, der sich plötzlich<br />
in tiefem Purpurrot<br />
zeigt. Oder mit goldenen<br />
Strähnen im grünen Birkenlaub,mit gelben<br />
Tupfen im Apfelbaum. Diese Veränderungen<br />
leiten ein betörend schönes Naturschauspiel<br />
ein, in dessen Verlauf Ahornbäume<br />
erröten, Buchenwälder in satten Honigtönen<br />
aufflammen, ja eigentlich alle<br />
Blätter, die ein bisschen später von den Ästen<br />
fallen, ihr kühles Grün mit warmem<br />
Leuchten vertauschen. In den USA nennt<br />
man das Indian Summer,Zigtausende reisen<br />
dort alljährlich in die Wälder, auch in<br />
Japan huldigen Touristen dem Herbstlaub.Bei<br />
uns in Europa begegnet man<br />
ihm eher mit zerstreutem Schulterzucken<br />
oder der Klage über<br />
die kalte Jahreszeit. Denn die Voraussetzung<br />
für das Farbspiel sind kürzere<br />
Tage und sinkende Temperaturen.<br />
Das ist auch der Grund, warum sich die<br />
Bäume vonden Blätterntrennen: Es geht darum,<br />
nicht zu verdursten, denn bei Frost können sie nicht<br />
trinken. Nur wenn das Grün sehr wenig Wasser verdunstet,<br />
bleibt es am Ast –darum fallen Nadeln nicht<br />
ab.Der alljährliche Laubfall ist also eine Überlebensstrategie.<br />
Obein Baum oder Strauch davor eher in<br />
Gold- oder Scharlachtönen erstrahlt, regeln Farbstoffe,<br />
unter dem grünen Chlorophyll, das im<br />
Herbst aus den Blättern verschwindet. Ist es<br />
weg, werden Karotinoide (gelb, orange<br />
und rot) oder Xanthophylle (gelb)<br />
sichtbar. Die für tiefes Dunkelrot<br />
verantwortlichen Anthocyane<br />
entstehen dagegen<br />
neu, sie dienen<br />
bei sonniger Kälte als<br />
eine ArtUV-Filter.Alles also eine Frage der Chemie,<br />
wie auch das Braun, dass am Ende des Farbenspektakels,oft<br />
schon am Boden, via Oxidation vonGerbstoffen zu<br />
braunen Farbstoffen (Phlobaphene) entsteht. Aber auch der Zustand<br />
der Bäume spielt eine Rolle, die von Dürre und Miniermotte<br />
erschöpften Kastanien zum Beispiel zeigen schon seit Wochen<br />
traurig vertrocknetes Braun. Daswar nicht immer so,eigentlich<br />
werden sie um diese Zeit rahmgelb.<br />
Auch vomWetter hängt ab, wie schön die Blätter leuchten. Ein Sturm<br />
oder strenger Frost machen der Pracht schnell ein Ende.Dennoch sollten<br />
wir bei der Gartenplanung an die Herbstfarben der Gehölze denken,<br />
meinte schon Gartenikone Vita Sackville-West: „In manchen Jahren ist<br />
ihreSchönheit flüchtig, aber wenn sie auch nur für eine Wocheleuchten,<br />
dann lohnt es sich wirklich, Bäume und Sträucher zu pflanzen, die in ihremplötzlichen<br />
Auflodernsoverwirrend an das erste Leuchten des Sommers<br />
erinnern.“<br />
Wenn die ganze Pracht schließlich von den Bäumen segelt, macht sie<br />
Arbeit. Die BSR räumt jeden Herbst rund 44 000 Tonnen Laub aus der<br />
Stadt. Dies geschieht unter anderem mit Laubsaugernund -bläsern. Auch<br />
Privatleute greifen gernzusolchen Geräten. Zumindest sie sollten es lassen:<br />
Laubbläser erreichen spielend die Lautstärke eines Presslufthammers,<br />
verbreiten Feinstaub, CO2 und üble Gerüche, die saugenden Modelle<br />
töten Kleintiere von Assel bis Igel. Wie viel angenehmer, gesünder<br />
und umweltfreundlicher ist da doch der Griff zur Harke.<br />
Spektakulärer Ahorn<br />
Der internationale Star unter den laubwechselnden Bäumen<br />
ist der Ahorn. Er verfärbt sich spektakulär vonGrün über alle<br />
Stufen vonRot undOrangebis zum hellen Gelb,oft in mehrfarbigen<br />
Blattzeichnungen. Zwar gibt es bei uns nicht so imposante<br />
Ahornwälder wie in den USA, wo die Färbung des besonders<br />
bunten Zuckerahornvia „FoliageReport“ fast tagesgenaunachzuvollziehen<br />
ist. Aber auch einzelne Bäume machen<br />
was her.Wenn in Wäldernund Parks, an Landstraßen<br />
oder Feldrändernetwas besonders bunt leuchtet, ist es meist<br />
ein Feld-, Berg- oder Spitzhorn.<br />
GETTY (5), IMAGO<br />
Wilder Wein<br />
Werkeine Zeit für Ausflügehat, kann sich in der Stadt am Wilden Wein berauschen, der noch die<br />
hässlichste Brandschutzmauer in einen Traum in Dunkelrot verwandelt. Ausgesprochen zäh und<br />
wuchsfreudig überwucherterFassaden, Mauernund Lärmschutzwände, gern hangelt er sich<br />
auch in Bäume. Das sieht man aber nur im Herbst, wenn es dortplötzlich in allen Nuancen von<br />
zartem Rosa bis zum sattesten Bordeaux leuchtet.<br />
Goldene Buche<br />
Der unsere Laub- und Mischwälder prägende<br />
Baum ist die Buche, nicht nur im Herbst, wenn sie<br />
noch intensiver leuchtet als die Eiche. Die Buche<br />
verändertsichvor allem Richtung Orangeund<br />
Gelb,bis sieganzzum Schluss mit rotbraunem<br />
Laub raschelt, das langebraucht, bis es sich vom<br />
Ast trennt. Werjetzt unter besonders vielen goldenenBlätternspazieren<br />
möchte, kanndas am<br />
allerbesten im alten Buchenwald Grumsin in de<br />
r<br />
Schorfheide, einer Unesco-Weltnaturerbestätte,<br />
wie die Nationalparks Hainich<br />
in Thüringen oder<br />
Jasmund auf Rügen. Aber auchinPotsdamer<br />
Parks, rund um Beelitz oder im<br />
Schlaubetal ste-<br />
hen viele alte Buchen.<br />
Felsenbirne und andere Gehölze<br />
Zu allen Jahreszeiten hübsch ist die gute alte Fel-<br />
weißen, von<br />
senbirne mit ihrer überschäumenden<br />
Bienen umschwärmten Frühlingsblütenpracht,<br />
mit ihren leckeren Früchten im<br />
Sommer und ihrem<br />
ganz speziellen Orange-Rosa-Rogibt sie in einer europäischen<br />
und einer kanadi-<br />
im Herbst. Es<br />
schen Variante, der Kupfer-Felsenbirne, die noch<br />
intensiver leuchtet. Als Strauchvon fünf bisacht<br />
Meternpasst sie in jeden Garten. Gehölze ähnli-<br />
cher Größe und Farbenpracht<br />
sind zum Beispiel<br />
Pfaffenhütchen, Vogelkirsche,Heckenberberitze,<br />
der Schneeball und schließlichder Hartriegel.<br />
Letzterer ist mit seinen roten Ästen sogar ganz<br />
ohne Laub dekorativ.Und danngibt es ja auch<br />
noch denjapanischen Zierahornmit seinen zart<br />
gefiederten Blättern. Kleine Sorten passen auch<br />
in Kübel und auf den Balkon.<br />
Geheimtipp Blasenesche<br />
Vita Sackville-West empfahl unter anderem die<br />
aus China stammende, damals wie heute eher<br />
selten gepflanzte Blasenesche (Koelreuteria pani-<br />
prächtigen Herbstkleid, sonderneiner üppigen,<br />
bei Bienen außerordentlich beliebten Sommer-<br />
blüte. Das unterscheidet ihn vompopuläreren<br />
rot<br />
culata). Dieser Baum besticht nicht nur mit einem<br />
lodernden Amberbaum und dem strahlend gelben<br />
Ginkgo, die leider beide Insekten weder Pollen<br />
noch Nektar bieten.<br />
Leo<br />
Gutsch<br />
Gestern sagte meine Tochter Nadja:<br />
„Papa, ich bin froh, dass ich nicht deinen<br />
Mund geerbt habe.“ Ich fragte, was sie<br />
denn gegen meinen Mund habe, und sie<br />
sagte: „Er ist zu groß und ganz schön schief<br />
und hat unten so einen seltsamen Wulst.“<br />
Dann besann sie sich plötzlich ihrer diplomatischen<br />
Tugenden und erklärte, für einen<br />
Mann sei so ein Mund vermutlich völlig okay.<br />
Später ging ich ins Badezimmer und betrachtete<br />
im Spiegel mein schiefes,wulstiges<br />
Riesenmaul, das immer abstoßender wurde,<br />
je länger ich es ansah. Dabei fiel mir ein, dass<br />
ich als Kind große Angst davor hatte,den verkrüppelten<br />
mittleren Zeh meiner Mutter zu<br />
erben. Dieser Zeh war nicht direkt hässlich,<br />
aber er hatte sich aus irgendeinem Grund<br />
über die beiden Nachbarzehen gelegt, was<br />
ihn ein wenig hilflos erscheinen ließ. Womöglich<br />
waren die Füße meiner Mutter zu<br />
klein, um fünf Zehen ausreichenden Platz zu<br />
bieten. Aufjeden Fall sah es seltsam aus.Zehenmäßig<br />
habe ich bis heute Glück gehabt,<br />
Wulstiges<br />
Riesenmaul<br />
VonMaxim Leo<br />
aber ansonsten kommt es mir manchmal so<br />
vor, als hätten meine Eltern sich abgesprochen,<br />
um mir das Schlimmste ihrer Körper<br />
zu vermachen. Vonmeinem Vater habe ich<br />
zum Beispiel die faltigen, ledrigen Schlupflider,<br />
die mittlerweile kaum noch Licht an<br />
meine Augen lassen. Auch die Warzen, die<br />
auf seinem Rücken so vortrefflich gedeihen,<br />
teilte er generös mit mir. Indiesem Zusammenhang<br />
sollten die dichten Haarbüschel<br />
nicht unerwähnt bleiben, die wie Bonsai-<br />
Wälder auf seinen Schultern wuchern –und<br />
auf meinen jetzt eben auch. Sein volles<br />
Haupthaar behielt mein Vater hingegen stolz<br />
für sich.<br />
Vonmeiner Mutter habe ich die schiefen<br />
Schneidezähne, aber leider nicht ihre wunderbar<br />
glatte Haut, die sie bis heute wie eine<br />
Zwanzigjährige erscheinen lässt. Zudem war<br />
es meiner Mutter offenbar wichtig, mir ihre<br />
krummen Beine und ihre problematischen<br />
Füße zu vermachen. Manmuss dazu wissen,<br />
dass die Füße meiner Mutter eine Art medizinisches<br />
Wunder sind, weil sie vermutlich<br />
die einzige Frau auf der Welt ist, die zugleich<br />
Spreiz-, Senk-, Knick- Hohl- und Plattfüße<br />
hat. Außerdem trägt sie ein stattliches Muttermal<br />
zwischen ihren Schulterblättern, was<br />
bei ihr durchaus charmant wirkt, bei mir<br />
aber in Kombination mit den Bonsai-Wäldernund<br />
der Warzen-Prärie den Gesamteindrucknicht<br />
unbedingt verbessert.<br />
Zum Glück ist bei meinen Töchtern so<br />
überhauptgar nichts angekommen vonmeinem<br />
schweren Erbe.Ich sehe allerdings auch<br />
sonst kaum Ähnlichkeiten zwischen ihnen<br />
und mir. Manchmal frage ich mich, ob ich<br />
überhaupt der Vater bin. Anais zum Beispiel<br />
hat einen südländischen Teint und dichte,<br />
sehr dunkle Augenbrauen, die denen des<br />
Straßenarbeiters ähneln, der wochenlang<br />
vor unserem Haus arbeitete, kurz bevor<br />
meine Frau zum ersten Mal schwanger<br />
wurde. Nadja hat krauses, schwarzes Haar.<br />
Ist esein Zufall, dass just vor der zweiten<br />
Schwangerschaft meiner Frau derselbe (üb-<br />
rigens kraushaarige) Straßenarbeiter des<br />
Längeren vorunserem Haus tätig war?<br />
Also, ich will da jetzt gar nichts hineininterpretieren,<br />
ich will mich da auch nicht reinsteigern,<br />
ich stelle nur Fragen, das wird ja<br />
wohl noch erlaubt sein. Außerdem, wenn ich<br />
jetzt darüber nachdenke, finde ich es natürlich<br />
schade,dass meine Kinder so gar nichts<br />
von mir haben. Weil es schon ein paar Sachen<br />
an mir gibt, auf die ich ein bisschen<br />
stolz bin, die ich ihnen gerne weitergeben<br />
würde. Mein rechter Daumen zum Beispiel.<br />
Der wirkt auf den ersten Blick wie ein ganz<br />
normaler Daumen, aber wenn ich ihn nach<br />
oben strecke und ein wenig nach innen drücke,<br />
dann entstehen aus den kleinen, symphatischen<br />
Hautfalten am Daumenschaft<br />
die Initialen „M L“.<br />
Meine Mutter meint übrigens, ich hätte<br />
viel von ihrem Vater geerbt. Das schüttere<br />
Haar,das meckernde Ziegenlachen. Undich<br />
denke, wie schön es doch ist, Teil einer solchen<br />
Familie zu sein.