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Berliner Zeitung 06.11.2018

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 259 · D ienstag, 6. November 2018 – S eite 19 *<br />

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Feuilleton<br />

Arte-Doku<br />

begleitet Journalisten<br />

der New York Times<br />

Seite 21<br />

„Schon die ersten zehn Minuten sind eine Qual.“<br />

Ralf Schenk über den Siegerfilm beim Leipziger Dokumentarfilmfestival Seite 20<br />

Buchumschläge<br />

Sieht aus wie<br />

eine Keksdose<br />

Cornelia Geißler<br />

mag Waldseegrün und<br />

Blaue-Flecken-Blau<br />

Auf dem Titel des Buches<br />

„Schwimmt Brot in Milch?“ sieht<br />

man ein Mädchen, um deren Kopf<br />

sich eine Katze klammert. Vondort<br />

wirft das Tier etwas in die mit einer<br />

weißen Flüssigkeit gefüllte Schüssel,<br />

die das Mädchen in der Hand hält.<br />

Das von Katrin Stangl gestaltete Kinderbuch<br />

hat vor zwei Monaten den<br />

Preis der Stiftung Buchkunst erhalten,<br />

die höchste Auszeichnung in diesem<br />

Bereich. Vieles an dem Buch ist<br />

besonders,vor allem aber die Farben.<br />

Die Künstlerin nennt sie Blaue-Flecken-Blau,<br />

Süßkram-Rot, Ei-Gelb<br />

und Minzgrün. Da ist klar,warum sie<br />

Kinderaugen magisch anziehen.<br />

Auf meinem Tisch liegt ein Buch,<br />

dessen Titelzeile Bibliophile lockt.<br />

„Die Kleider der Bücher“ heißt sie.Es<br />

ist klein wie ein Taschenkalender,<br />

aber in Pappe gebunden wie ein erwachsenes<br />

Buch. Das Vorsatzpapier<br />

ist golden. Die Autorin Jhumpa Lahiri<br />

verbindet ihre Worte über das<br />

Aussehen der Bücher mit der Erinnerung<br />

an ihreKindheit, als ihreMutter<br />

wünschte,dass sie traditionelle bengalische<br />

Kleider trüge. Das in London<br />

geborene Mädchen fühlte sich<br />

jedoch in Jeans und T-Shirts wohler.<br />

„Schlecht gekleidet zu sein ist immer<br />

eine Strafe“, schreibt sie.Nicht selten<br />

habe sie gehört, dass ein Buch wegen<br />

eines falschen Umschlags zu wenig<br />

Aufmerksamkeit bekommen hätte.<br />

„Sieht aus wie eine Keksdose“, stand<br />

als Lesekommentar unter einem ihrerBücher.<br />

Die heute in New York lebende<br />

Autorin ist Vizepräsidentin des PEN<br />

American Center. Dennoch musste<br />

sie erleben, dass Buchgestalter allein<br />

wegen ihres Namens zu indischen<br />

Motiven für das Cover greifen. Das<br />

kleine, bei Rowohlt erschienene<br />

„Kleider“-Buch trägt keine Bilder<br />

vorn,nur den Titel und den Autorennamen.<br />

Es hat die Farbe vonverblassenden<br />

blauen Flecken –nein, es ist<br />

Waldseegrün. Innere Werte zählen,<br />

wie auch hier, bei diesem schön geschriebenen<br />

kleinen Essay.Aber niemand<br />

ist frei davon, dass auch das<br />

ÄußereEindruck macht.<br />

Manchmal ist es gar<br />

nicht so schlimm,<br />

wenn einen ungeahnte<br />

Hindernisse davon<br />

abhalten, pünktlich zur größten<br />

Ballettpremiere des Jahres zu kommen.<br />

Aufeinmal sitzt man per Nacheinlass<br />

auf einem Platz, den man<br />

sonst als Kritikerin nie kennenlernen<br />

würde. Ganz oben, im dritten Rang<br />

auf der Seite.Von dortsieht man nun<br />

in der ersten Hälfte ein anderes<br />

Stück als später in der zweiten Hälfte<br />

unten.<br />

Sicher, alles ist sehr weit weg.<br />

Aber ein großartiges Stummfilm-<br />

Panorama mit ausladenden Gesten<br />

und viel Pomp tut sich von daoben<br />

auf. Ein dramatisches Bildertheater<br />

mit Tanz. Alexei Ratmansky, Petipa-<br />

Experte und einer der wichtigsten<br />

klassischen Choreographen der Gegenwart,<br />

hat für das <strong>Berliner</strong> Staatsballett<br />

die 1877 in St. Petersburg uraufgeführte<br />

„La Bayadère“ rekonstruiert.<br />

Herausgekommen ist ein<br />

großes Ballett, das tatsächlich ein<br />

wenig den Atem einer anderen Zeit<br />

in sich trägt. Natürlich behalten all<br />

die großen klassischen Ballette auch<br />

in den aktualisierten Fassungen, die<br />

heute weltweit aufgeführt werden,<br />

Die Liebe der Tempeltänzerin<br />

Alexei Ratmansky hat die historische „Bayadère“ für das Staatsballett grandios rekonstruiert<br />

ihren Charakter. Aber die Bewegungen<br />

sind athletischer. Oft werden Figuren<br />

psychologisiert, die Handlung<br />

wird gestrafft und oft auch subtiler<br />

gestaltet. Auf Pantomimen wird wo<br />

immer möglich verzichtet. Dasführt<br />

zum Teil zu herausragenden Ergebnissen.<br />

Aber im Laufe von mehr als<br />

einem Jahrhundert drohen darüber<br />

die Quellen verloren zu gehen.<br />

Die Bewegung hin zur historischen<br />

Rekonstruktion hat vor zirka<br />

zehn Jahren deutlich Fahrt aufgenommen,<br />

und der Russe Alexei Ratmansky,der<br />

unter anderem Direktor<br />

des Moskauer Bolschoi-Balletts gewesen<br />

ist, ist ihr wichtigster Protagonist.<br />

Die„Bayadère“ ist bereits seine<br />

siebte akribische Petipa-Rekonstruktion.<br />

Zuvor hat er unter anderem<br />

schon historische Fassungen<br />

von „Schwanensee“ und „Dornröschen“<br />

erarbeitet. Jetzt also indischexotistischer<br />

Pomp in Reinkultur auf<br />

der Bühne der Staatsoper Unter den<br />

Linden.<br />

Mit toten Tigern und Elefanten,<br />

mit Tempeldienerinnen, Schlangenbeschwörern,<br />

Fakiren und Feuertänzern.<br />

Mit Polina Semionova als fantastische<br />

Bayadère Nikia, die den<br />

Krieger Solor mit Haut und Haaren<br />

VonMichaela Schlagenwerth<br />

Pomp in Reinkultur.„La Bayadère“ warauch ein Ballett für die adelige Oberschicht des zaristischen Russlands.<br />

liebt. Mit ihrer mächtigen Gegenspielerin,<br />

der Radscha-Tochter<br />

Gamsatti, von Yolanda Correa als<br />

verlogene Denver-Clan-Megäre<br />

stahlhart und virtuos getanzt. Solor<br />

(Alejandro Virelles) ist so etwas wie<br />

ein Spielball zwischen diesen beiden<br />

Frauen. Eine eigentlich erbärmliche,<br />

dem Opiumrausch verfallene, sich<br />

der Macht des Radschas fügende Figur.Sowirderinspäteren<br />

Fassungen<br />

meist nicht gezeigt. Seinen Räuschen<br />

und Halluzinationen entspringen<br />

die bedeutendsten Szenen<br />

des Balletts.Vor allem der legendäre<br />

weiße Akt, bei dem 32 Schatten aus<br />

dem nebelverhangenen Himalaja<br />

herabsteigen und Nikia und Solor<br />

sich im Traum vereinen.<br />

Die„Bayadère“ ist ein Grand Ballet<br />

bei dem das Staatsballett alles<br />

aufbietet, was es hat, auch Kinder<br />

und Jugendliche der Ballettschule<br />

sind beteiligt. Daseinen hier so ganz<br />

eine lang vergangene Zeit anspringt<br />

hat vor allem mit der anderen Weise<br />

zu tanzen zu tun. Mit den anderen<br />

Weisen, die Beine anzuwinkeln, zu<br />

strecken, zu drehen. Sowie mit den<br />

hochdramatischen, ausladenden<br />

Pantomimen. Ein wenig mehr Mut<br />

zur dramatischen Attitude würde<br />

YAN REVAZOV<br />

man hier den Protagonisten durchaus<br />

noch wünschen. Aber wenn Polina<br />

Semionova als verratene Geliebte<br />

vor dem abtrünnigen Geliebten<br />

und seiner bösen Braut tanzen<br />

muss,ist das schlicht herzzerreißend<br />

schön.<br />

Petipa übernahm für seine Divertissements,sokann<br />

man im hervorragenden<br />

Programmheft nachlesen,<br />

zum Teil eins zu eins Illustrationen,<br />

die auf einer Indienreise des<br />

Prinzen of Wales entstanden waren.<br />

Wie etwa den indischen Tanz mit<br />

Trommlern. Die„Bayadère“ ist auch<br />

das, eine historische Rekonstruktion<br />

eines kolonial-exotistischen Erbes,ein<br />

Ballett für die adelige Oberschicht<br />

des zaristischen Russlands.<br />

Anders als in späteren Fassungen<br />

stehen keine Festgäste auf der<br />

Bühne. Denn unverhohlen sind<br />

diese Gäste, für die all der Rausch,<br />

die Pracht und Virtuosität betrieben<br />

wird, wir,das sich delektierende Publikum.<br />

Ein großer Erfolg, auch für<br />

das neue Leitungsteam Johannes<br />

Öhman und Sasha Waltz.<br />

La Bayadère Staatsoper Unter den Linden,<br />

weitere Termine: 9. November,15., 26.,<br />

28. Dezember,18. Januar<br />

NACHRICHTEN<br />

Baselitz schenkt Fondation<br />

Beyeler Monumentalwerk<br />

GeorgBaselitz hat dem Schweizer<br />

Museum Fondation Beyeler in Riehen<br />

bei Basel ein Monumentalgemälde<br />

geschenkt. DasÖlgemälde<br />

„Wer alles? Wasalles?“ zeigt zwei<br />

Menschen auf den Kopf gestellt, ein<br />

seit den 1960er-Jahren wiederkehrendes<br />

Motiv im Werk des deutschen<br />

Malers.Baselitz malte das gut drei<br />

mal vier Meter große Bild im Jahr<br />

2016. DasMuseum hatte es Anfang<br />

des Jahres im Rahmen einer großen<br />

RetrospektivezuBaselitz’80. Geburtstag<br />

gezeigt. Nunwill es dem<br />

Maler einen eigenen Künstlerraum<br />

widmen. Darinwerden zwei weitere<br />

WerkeimBesitz des Museums sowie<br />

langfristige Leihgaben aus Privatbesitz<br />

ausgestellt. Baselitz war mit dem<br />

Gründer des Museums befreundet.<br />

„Ernst Beyeler hat sich sehr für mich<br />

eingesetzt“, zitiertdas Museum den<br />

Maler. (dpa)<br />

Grütterswill Leipzig mit<br />

Freiheitsdenkmal ehren<br />

DieStadt Leipzig sollte aus Sicht von<br />

Kulturstaatsministerin Monika Grütters<br />

doch noch ihr Freiheits- und<br />

Einheitsdenkmal bekommen. Sie<br />

finde es bedauerlich, „dass ausgerechnet<br />

in Leipzig, wo im Oktober<br />

1989 die Macht vonSED und Stasi<br />

durch ein friedlich aufbegehrendes<br />

Volk gebrochen wurde,immer noch<br />

nicht angemessen an dieses herausragende<br />

Ereignis erinnertwird“,<br />

sagte Grütters am Montagabend in<br />

Leipzig. Dorteröffnete sie die völlig<br />

neu konzipierte Dauerausstellung<br />

des Zeitgeschichtlichen Forums zu<br />

Repression und Widerstand in der<br />

DDR. (dpa)<br />

Angela Merkels Make-up<br />

in Pariser Kunststiftung<br />

DerPuder ist zu einem Haufen angeordnet<br />

und thront auf einem Podest.<br />

DasMake-up legt sich Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel auf, wenn sie vor<br />

die Kameratritt. In Parisist es nun<br />

Teil der Installation „The HappyMuseum“<br />

(Das Glücksmuseum) des<br />

Wahl-<strong>Berliner</strong>s Simon Fujiwarain<br />

der Pariser Kunststifung „Lafayette<br />

Anticipations“ nahe dem Centre<br />

Pompidou. (dpa)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Im Korb<br />

Schlümpfe, Monde<br />

und saure Gurken<br />

VonBarbaraWrede<br />

Was glotzte der so unverschämt in meinen<br />

Einkaufswagen? Fehlte nur noch,<br />

dass er darin herumwühlte. Etwas über mittelalt<br />

war der Typ, schwarzer Anzug. Seine<br />

Begleitung, ganz in Rot gekleidet, etwas dicker,<br />

Spitzbart, hielt eine 500-Gramm-Tüte<br />

mit Fruchtgummischlümpfen in der Hand<br />

und schüttelte sie. Dass es die gab, hatte ich<br />

fast vergessen. Einige Jahre lang hatte ich<br />

mich fast ausschließlich von ihnen und anderem<br />

Gummizeugs ernährt, ganz besonders<br />

schmackhaft fand ich es damals, sie in<br />

schwarzen Tee zu tunken. Ich war süchtig<br />

nach sauren Gurken, weißen Gummibären<br />

aus dem Kühlschrank, grünen Halbmonden.<br />

Mit dem Entzug hatte ich lange zu kämpfen<br />

gehabt. Deshalb mied ich in Discounterndie<br />

Gänge, wo diese Süßigkeiten in Großpackungen<br />

angeboten wurden. Hier war doch<br />

gar nicht der Großpackungsfruchtgummigang,<br />

ich schnupperte nach dem entsprechenden<br />

Duft, aber stattdessen roch es verbrannt.<br />

Kokelte hier jemand? Die beiden<br />

Männer steckten ihreKöpfe zusammen, von<br />

irgendwo her hatte der in Schwarz eine Box<br />

mit Gummierdbeeren aufgegabelt und pulte<br />

amVerschluss herum. Kicherndes Gemecker<br />

wie von Ziegen. Schnell weg hier. Bezahlen,<br />

einpacken und raus aus dem Laden.<br />

Die beiden Typen waren schon da. Wie<br />

konnte das sein?Warteten die etwa auf mich?<br />

Achnee,der Rote nahm Kurs auf eine Limousine,<br />

dass er ein Bein nachzog, sah ich erst<br />

jetzt. Aber was machte der Schwarze da?<br />

Fummelte an meinem Fahrrad herum. Ich<br />

pfiff auf zwei Fingern. Einige Leute drehten<br />

sich um, der Fahrradfummler nicht. Jetzt<br />

schmiss er etwas in meinen Fahrradkorb.<br />

BARBARA WREDE<br />

Wasdort schon alles reingelegt worden war!<br />

Ichhasse es,wenn Leute das machen, genau<br />

so wie die Leute, die ihre Pfandflaschen stehen<br />

lassen und meinen, Flaschensammler<br />

könnten davon reich werden. Können die<br />

das Leergut nicht einfach selbst zurückbringen<br />

und den Sammlern das Pfandgeld so in<br />

die Hand drücken?<br />

Ichpfiff noch einmal. Keine Reaktion. Ob<br />

ich ihn erwischen würde,bevor er zu seinem<br />

Kumpel in die Limousine sprang? Washatte<br />

der mir in den Korb gelegt? DerKorb war mit<br />

Kabelbindern befestigt. Es kam immer wieder<br />

vor, dass die mir zerschnitten wurden,<br />

deshalb habe ich in jeder Handtasche Kabelbinder,sicher<br />

ist sicher.Vor einiger Zeit hatte<br />

mir jemand die Schrauben der Gepäckträgerhalterung<br />

abmontiert, alles klappte während<br />

der Fahrt nach hinten und auf die<br />

Straße. Glück, dass gerade kein Auto kam.<br />

Seitdem ruckeleich mein Radvor jeder Fahrt<br />

ordentlich durch. Waswackelt, wird festgezurrt.<br />

So schaffe ich locker 250 Kilometer in<br />

der Woche.<br />

Der Typ hatte mir eine Riesentüte mit<br />

Schlümpfen, Erdbeeren, Gurken und Monden<br />

in den Korb gepackt. Bestimmt ein Kilo.<br />

Na, warte. Ich sprang auf mein Rad, erwischte<br />

den Wagen gerade noch und klopfte<br />

hinten an die Scheibe.<br />

Zzzzzz ging sie herunter.Ja, bitte? Diebeiden<br />

Herren auf der Rückbank starrten zu mir<br />

heraus.−Das hierhabenSie versehentlich in<br />

meinem Fahrradkorb abgelegt, sagte ich und<br />

warfdie Tüte durch das Fenster.Klatsch. Satanisches<br />

Gelächter hallte zu mir heraus.<br />

Das verfolgt mich bis heute, verbunden<br />

mit einem unwiderstehlichen Schmacht<br />

nach Fruchtgummi. Merke: Es gibt sicher<br />

gute Gründe, etwas in Limousinen zu werfen,<br />

aber Obacht! Es könnte sein, dass man<br />

den Teufel samt Beelzebub trifft.

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