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Berliner Zeitung 06.11.2018

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 259 · D ienstag, 6. November 2018 – S eite 9 *<br />

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Berlin<br />

WieComputerspieler<br />

der Wissenschaft auf<br />

die Sprüngehelfen<br />

Seite 16<br />

In Berlin und Brandenburg wird das Analogfernsehen abgeschaltet Seite 10<br />

Die Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters scheitert vor Gericht Seite 15<br />

Stadtbild<br />

Das gespürte<br />

Lächeln<br />

BarbaraWeitzel<br />

sieht in zwei<br />

hellblaue Augen<br />

Man soll keine Leute anstarren,<br />

dennoch kann ich den Blick<br />

nur mit Anstrengung weglenken.<br />

Mehr als einmal kehrt er zu der<br />

Dame zurück, die hinter mir an der<br />

Kasse im Rollstuhl sitzt. Als hätte er<br />

einen eigenen Willen, mein Blick, einen<br />

der stärker ist als meiner und<br />

immun gegen vorlanger Zeit Gelerntes<br />

und Etikette an sich.<br />

Es sind ihreAugen, die mich in den<br />

Bann ziehen. Milchig blau sind sie,<br />

wie komplett entrahmte Milch oder<br />

wie der Himmel an manchen Tagen.<br />

Den Himmel hält man dann kaum<br />

aus,weil er so blendet in seinem Fastnichtmehrblau,<br />

gefühlt gleich über<br />

den Bäumen anfängt und alles diffus<br />

macht. DieAugen der Frau aber saugen<br />

mich regelrecht an. Dabei sieht<br />

sie gar nicht in meine Richtung. Oder<br />

doch? Ich kann es nicht sagen. Ihre<br />

Erscheinung hat etwas Entrücktes.<br />

Das weiße, dünne Haar ist sorgfältig<br />

frisiertund geföhnt und umgibt ihren<br />

Kopf wie ein zu großer Helm, so deutlich<br />

ist der Luftraum zwischen Strähnen<br />

und Kopfhaut. Sie ist sehr klein<br />

und schmal und sitzt ganz aufrecht.<br />

Siesieht aus wie ein sehr altes Kind.<br />

Im Schoß der Frau liegen eine<br />

Packung Toast, zwei Bananen und ein<br />

Päckchen Käse. Sie hat ihre Hände<br />

darumgelegt, als könnten die Nahrungsmittel<br />

wegspringen. Oder wie<br />

um einen Schatz, den es zu behüten<br />

gilt vor den Blicken der anderen. Wie<br />

meinem. Ich zwinge ihn Richtung<br />

Kassenband und sortiere meinen<br />

Einkauf darauf. „Ich wünschte, ich<br />

könnte sehen, was es hier alles so<br />

gibt“ sagt da die Frau in meinem<br />

Rücken, sehr leise und mit hoher<br />

Stimme, die jedoch nichts Piepsiges<br />

hat. Wieder schaue ich auf und klebe<br />

gleich wieder an ihren Augen.<br />

DieBegleiterin, sehr adrett gekleidet<br />

und zurechtgemacht, erzählt ihr<br />

von den Süßigkeiten, die auf Kinderblickhöhe<br />

dargeboten werden, von<br />

den Gummitieren, den Kochheften<br />

und den Schnäpsen. Obwohl es<br />

klingt, als hätten die beiden dieses<br />

Gespräch schon sehr oft geführt, beschreibt<br />

sie die Umgebung liebevoll<br />

und detailgetreu. Ihre Hand liegt dabei<br />

auf der Schulter der Blinden. Ich<br />

sehe jetzt beide abwechselnd an und<br />

habe alle Zurückhaltung abgelegt.<br />

Versuche, etwas Entschuldigendes in<br />

meinen Blick zu legen, weil ich so<br />

starre, und es scheint mir zu gelingen,<br />

denn die Begleiterin nickt mir mit den<br />

Augen zu. Vielleicht weiß sie um die<br />

Wirkung ihrer Freundin, oder ist es<br />

die Mutter?<br />

Ichlasse den Blick schweifen und<br />

versuche mir vorzustellen, wie es<br />

wäre, das alles nicht zu sehen. Und<br />

auch den Herbst nicht und die Gesichter<br />

der Menschen, die ich liebe.<br />

Und nicht dieses Hellblau, das sich<br />

jetzt, oder täusche ich mich, direkt<br />

auf mich richtet.<br />

Obwohl mir ganz schwer ist von<br />

meinen Gedanken und ich zugleich<br />

so berührt bin vom vertrauten Miteinander<br />

der beiden Frauen, muss<br />

ich lächeln, direkt in diese Augen. Sie<br />

lächeln zurück und nehmen die<br />

Mundwinkel mit. Vielleicht gehört<br />

das Lächeln zu den Erscheinungen,<br />

die man gar nicht unbedingt sehen<br />

muss. Die man spüren kann. Wie ein<br />

nur gedachtes letztes Winken im Rücken.<br />

Ichwill das gerade glauben.<br />

Abenteuerspielplatz, Ortder Zerstörung und des politischen Desinteresses: Das Gelände des Teufelsbergs verwahrloste, seit die Alliierten abzogen.<br />

Teufelsberg unter Denkmalschutz<br />

Die frühere Abhörstation bleibt erhalten. Doch kaufen will Berlin das historisch wertvolle Grundstück nicht<br />

VonStefan Strauß<br />

Die Geschichte des Teufelsbergs<br />

ist geprägt von<br />

großen Plänen, die meist<br />

gescheitert, aber dennoch<br />

so spannend sind wie ein<br />

Agententhriller. Es ist eine Geschichte<br />

vonNiedergang und Verfall.<br />

Undein Ende ist nicht absehbar.<br />

An dieser Entwicklung ändert<br />

auch erst einmal nichts, dass die Senatskulturverwaltung<br />

das Gelände<br />

jetzt unter Denkmalschutz gestellt<br />

hat. „Der Teufelsbergist ein einzigartiges<br />

und vielschichtiges Geschichtsdenkmal<br />

des 20. Jahrhunderts,das in<br />

dieser Art wohl nur in Berlin –als<br />

Hauptstadt des Nazireichs und geteilter<br />

Stadt im Kalten Krieg –entstehen<br />

konnte“, sagte Kultursenator<br />

Klaus Lederer (Linke) am Montag.<br />

Für Reinhard Naumann, den Bezirksbürgermeister<br />

von Charlottenburg-Wilmersdorf,<br />

kommt die<br />

Schutzklausel der Denkmalschützer<br />

viel zu spät. „Der Verfall der letzten<br />

Jahre war ein Sündenfall!“, sagte der<br />

SPD-Politiker. „Diese Entscheidung<br />

war längst überfällig!“<br />

Symbol des Kalten Krieges<br />

Der <strong>Berliner</strong> Teufelsberg besteht aus<br />

den Trümmern, die Hitlers Größenwahn<br />

in der Hauptstadt hinterlassen<br />

hat. Im Jahr 1937 sollte dort die nationalsozialistische<br />

Wehrtechnische<br />

Fakultät errichtet werden, als Teil<br />

von Hitlers Plänen einer Welthauptstadt<br />

Germania. 1940 gab es einen<br />

Baustopp. In der Nachkriegszeit<br />

wurde die Anlage gesprengt, auf dem<br />

Gelände entstanden zwei Schuttberge,<br />

zusammengetragen aus den<br />

Trümmern der zerbombten Häuser.<br />

Im Laufe von 22Jahren wurden 26<br />

Millionen Kubikmeter Schutt und<br />

Trümmer abgeladen, derTeufelsberg<br />

wuchs zum größten Berg der Stadt –<br />

er wurde zum Symbol für die Nazizeit,<br />

denWiederaufbau der Stadt und<br />

die Zeit des Kalten Krieges.<br />

Aufdie 120 Meter hohe Spitzedes<br />

Teufelsbergs setzten amerikanische<br />

und britische Militärs Anfang der<br />

60er-Jahre eine riesige Abhöranlage.<br />

Die Abhörstation Ende der 90er-Jahre: Damals wollte das Areal niemand schützen. IMAGO<br />

Bis zu1500 Mitarbeiter hörten den<br />

Telefon- und Funkverkehr in den<br />

Ostblockstaaten ab. Als Amerikaner<br />

und Briten Anfang der 90er-Jahre<br />

Berlin verließen, begann der Verfall<br />

des Teufelsberg-Geländes.<br />

Den Namen<br />

bekam das Areal wegen<br />

des nahen Teufelssees.<br />

B5<br />

Die Abhörstation<br />

mit ihren abgelegenen<br />

Gebäuden und<br />

Abhöranlage<br />

Radartürmen wurde<br />

zum Treffpunkt für Wilmersdorf<br />

Abenteurer und<br />

Sprayer. Es gab etliche<br />

Partys und viele<br />

Zerstörungen. Berlin<br />

Postfenn<br />

Heerstr.<br />

Teufelsberg<br />

120 Meter<br />

Stiftung mit tausend Studenten<br />

gründen wollte. Sie sollten auf dem<br />

Berg transzendentale Meditation<br />

und yogisches Fliegen lernen.<br />

Vordrei Jahren pachtete Marvin<br />

Schütte, Sohn des<br />

Miteigentümers<br />

Teufelsseechaussee<br />

BLZ/GALANTY<br />

interessierte sich Teufelssee<br />

nicht dafür. Die Forderung<br />

nach Denkmalschutz<br />

lehnte der<br />

Senat damals ab. Ein Fehler, wie<br />

heute alle wissen. Berlin verkaufte<br />

das Gelände 1996 an private Investoren<br />

um den Architekten Hanfried<br />

Schütte. Die neuen Besitzer planten<br />

ein Hotel, Luxuswohnungen und einen<br />

Aussichtsturm. Daraus wurde<br />

nichts,ebenso wenig aus den Plänen<br />

des Hollywoodregisseurs David<br />

Lynch, der auf dem Teufelsberg eine<br />

Friedensuniversität der Maharishi-<br />

Hanfried Schütte,<br />

das Gelände. Der<br />

junge Immobilienkaufmann<br />

hatte die<br />

Idee, aus dem Teufelsbergeinen<br />

Ortfür<br />

Kunst, Kultur, Freizeit<br />

und Sportzuentwickeln.<br />

Den Verfall<br />

des Geländes konnte<br />

auch er nicht stoppen.<br />

Künstler bezogen<br />

Ateliers, Schütte<br />

gab ihnen Freiräume<br />

und einen Rückzugsort.<br />

Er organisierte<br />

Führungen. Filmteams nutzten die<br />

marode Kulisse für Filmarbeiten.<br />

Im Mai 2018 sperrte die Bauaufsicht<br />

das Hauptgebäude wegen<br />

schwerer Baumängel. Miteigentümer<br />

des Teufelsberg-Geländes hatten<br />

ein Gutachten anfertigen lassen,<br />

das alle Mängel aufführte.Der Bezirk<br />

reagierte. Die Eigentümer gelten als<br />

zerstritten. Und Pächter Marvin<br />

Schütte will nichts mehr sagen. Er<br />

IMAGO<br />

habe das Gefühl, die Stadt werfeihm<br />

Steine vordie Füße.<br />

Im Koalitionsvertrag haben SPD,<br />

Linke und Grünevor zwei Jahren geschrieben,<br />

sie wollten den Teufelsberg<br />

als „Erinnerungs- und Naturort“<br />

zugänglich machen. Doch wäre<br />

es dafür nicht am besten, das Land<br />

Berlin kaufte das Gebäude-Ensemble<br />

vonden Eigentümernzurück? 5,2<br />

Millionen Mark zahlten die gescheiterten<br />

Investoren damals, mittlerweile<br />

soll auf der Immobilie eine<br />

Schuldsumme liegen – von einem<br />

zweistelligen Millionenbetrag ist die<br />

Rede. „Das Grundstück ist deutlich<br />

zu teuer“, sagt Daniela Billig, stadtentwicklungspolitische<br />

Sprecherin<br />

der Grünen. „Preislich sind wir uns<br />

bisher nicht einig geworden.“<br />

Der Teufelsberg liegt im Naturschutzgebiet;<br />

das 4,8 Hektar große<br />

Gelände, das nun ein Denkmal ist,<br />

wirdals Waldgebiet ausgewiesen. Zuständig<br />

sind die <strong>Berliner</strong> Forsten und<br />

die Senatsumweltverwaltung. „Wir<br />

haben kein Interesse an einem Rückkauf“,<br />

sagt Sprecher Derk Ehlert.<br />

Anwohner und Naturschützer<br />

vom Aktionsbündnis Teufelsberg<br />

würden die Ruinen am liebsten abreißen<br />

und im Stahlbetonturm ein<br />

Turmmuseum einrichten. Die CDU<br />

wollte im Oktober noch ein Sportund<br />

Erholungszentrum errichten,<br />

mit Möglichkeiten zum Laufen, Skaten,<br />

Klettern, Drachenfliegen und Rodeln<br />

imWinter.<br />

„Viele Dinge sind jetzt nicht mehr<br />

möglich“, sagt Frank Jahnke, kulturund<br />

wirtschaftspolitischer Sprecher<br />

der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus.Seine<br />

Idee:eine Ausstellung zur<br />

Geschichte und Erlebnisgastronomie<br />

–„bei diesem Ausblick!“ ,sagt Jahnke.<br />

Wasmöglich ist, bleibt trotz Denkmalschutz<br />

ungewiss. Konkrete Pläne<br />

gebe es nicht, heißt es aus dem Landesdenkmalamt.<br />

Die Unterschutzstellung<br />

desTeufelsbergs bedeute erst<br />

einmal nur, dass die Denkmalpfleger<br />

mitreden dürfen, wenn es um das<br />

Areal geht. Eine Bestandsaufnahme<br />

sei geplant. „Erst dann kann darüber<br />

nachgedacht werden,was sich erhalten<br />

oder sanieren lässt“, heißt es.<br />

NACHRICHTEN<br />

Gewerkschaft hält nichts<br />

von Senatsplan für S-Bahn<br />

Eine Firmafährtdie <strong>Berliner</strong> S-Bahn,<br />

die andererepariertsie –dieseVariante<br />

im Konzept des Senats stößt auf<br />

Gewerkschaftsseite auf Kritik. Einzuverlässiger<br />

Betrieb sei nur möglich,<br />

wenn„der S-Bahnbetrieb mit allem,<br />

was dazu gehört, aus einer Hand angeboten<br />

wird“, teilte die EisenbahnundVerkehrsgewerkschaft<br />

(EVG)am<br />

Montag mit. Zusätzliche Schnittstellen<br />

zwischen Betrieb und Instandhaltung<br />

müssten vermieden werden.<br />

Derzeitwirddie S-Bahn aus einer<br />

Hand betrieben –von einer Tochter<br />

der Deutschen Bahn.Weil das aber<br />

nicht immer ohne Probleme lief, erwägt<br />

der Senat Änderungen für die<br />

Nord-Süd-und die Ost-West-Strecken.<br />

(dpa)<br />

Vier Verletzte bei<br />

Unfall mit Polizeiauto<br />

In der Lahnstraße in Neukölln ist am<br />

Montagvormittag ein Polizeiauto<br />

mit einem Opel Corsa zusammengestoßen.<br />

DieFahrerin des Opel kam<br />

mit schweren Verletzungen in eine<br />

Klinik. Diebeiden Streifenbeamten,<br />

die mit eingeschaltetem Blaulicht<br />

und Martinshornunterwegs waren,<br />

wurden leicht verletzt. EinPassant<br />

erlitt ebenfalls leichte Verletzungen.<br />

DiePolizisten waren auf dem Weg<br />

zum Einsatz wegen einer ausgelösten<br />

Alarmanlage in einem Geschäft.<br />

DerEinsatz stellte sich später als<br />

Fehlalarmheraus. (ls.)<br />

Kulturszene engagiertsich<br />

gegen rechts<br />

Kultursenator Klaus Lederer (Linke)<br />

hat das Engagement der Kulturszene<br />

gegen rechtspopulistische und völkisch-nationale<br />

Strömungen begrüßt.<br />

Es gehöreindie Kompetenz<br />

und Autonomie vonKultureinrichtungen,<br />

sich gesellschaftspolitisch zu<br />

äußern, sagte der Linke-Politiker im<br />

Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses.„Wenn<br />

Unterstützungsanfragen<br />

auf uns zukommen, werden wir<br />

unsdem sehr offen widmen.“ Mehr<br />

als 90 Institutionen undVerbände<br />

wollen am Freitag eine„Erklärung der<br />

Vielen“ vorstellen, die für Toleranz,<br />

Solidarität und die Freiheit der Kunst<br />

wirbt. (dpa)<br />

WWF: Zustand der <strong>Berliner</strong><br />

Flüsse mäßig bis schlecht<br />

DerWWF stellt der Qualität der <strong>Berliner</strong><br />

Flüsse ein mieses Zeugnis aus.<br />

Fließgewässer in sehr gutem oder gutem<br />

ökologischen Zustand und mit<br />

entsprechendem ökologischem Potenzial<br />

gibt es in der Hauptstadt nicht<br />

mehr,wie aus einem am Montag veröffentlichten<br />

Bericht der Umweltschutzorganisation<br />

hervorgeht. (dpa)<br />

Ausflugsdampfer auf der Spree –auch<br />

kein ökologisch gesunder Fluss FRIEDEL BERND

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