Berliner Zeitung 13.12.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 291 · D onnerstag, 13. Dezember 2018 17 *<br />
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Wissenschaft<br />
Aufstehen gestattet<br />
Noch immer wird vielen Schwangeren bei Warnzeichen für eine Frühgeburt strenge Bettruhe verordnet. Dabei ist die Maßnahme nur mit Risiken verbunden<br />
VonMichael Brendler<br />
Dreieinhalb Monate im<br />
Bett können endlos sein.<br />
Die Tage schleppen sich<br />
dahin, auf den x-ten<br />
Tierfilm folgt die nächste TV-Reisereportage.Schon<br />
Spielfilme und Bücher,<br />
erinnert sich Andrea Blesser<br />
(Name geändert), seien ihr damals<br />
zu komplizierterschienen.„Man findet<br />
sich damit ab,man weiß ja, wozu<br />
man es tut“, erzählt die <strong>Berliner</strong>in. Es<br />
war für ihr eigenes Kind – für die<br />
bange Hoffnung, es irgendwie bis in<br />
die dreißigste Schwangerschaftswoche<br />
im Bauch zu behalten.<br />
Mehr als den Gang zur Toilette<br />
hatte der Arzt der 38-Jährigen nicht<br />
erlaubt, nachdem im Ultraschall ein<br />
zu kurzerGebärmutterhals aufgefallen<br />
war –ein bekanntesWarnzeichen<br />
für eine Frühgeburt. Als der Sohn<br />
schließlich in der 32. Woche zur Welt<br />
kam, war die Mutter so schwach,<br />
dass sie mit dem Rollstuhl zum Neugeborenen<br />
geschoben werden<br />
musste.<br />
Inzwischen weiß Andrea Blesser,<br />
dass sie sich die Tortur hätte sparen<br />
können. „Eine strenge Bettruhe hält<br />
keine Frühgeburt auf, sie bringt nur<br />
Komplikationen mit sich“, sagt Irene<br />
Hösli, Chefärztin der Geburtshilfe<br />
am Universitätsspital Basel. Das sehen<br />
auch andere Experten so. „Es<br />
gibt keinerlei Belege dafür, dass<br />
diese Praxis hilfreich sein könnte“,<br />
urteilte vor drei Jahren eine Expertengruppe<br />
der Cochrane Collaboration<br />
nach Prüfung des gesamten wissenschaftlichen<br />
Wissens.<br />
Herumgesprochen hat sich das<br />
offensichtlich noch nicht. US-amerikanischen<br />
Daten zufolge wird immer<br />
noch jeder fünften Schwangeren<br />
wegen drohender Frühgeburt<br />
oder anderer Probleme konsequentes<br />
Liegen verordnet. Für Deutschland<br />
existierten keine vergleichbaren<br />
Daten, sagt Ekkehard Schleußner,<br />
Chef der Klinik für Geburtsmedizin<br />
am Universitätsklinikum Jena.<br />
KomplexeUrsachen<br />
Der Frühgeburts-Experte vermutet<br />
jedoch, dass sich die Quoten in ähnlicher<br />
Größenordnung bewegen.<br />
Mindestens. Denn es sei auch hierzulande<br />
schwierig, in Kliniken und<br />
Praxen die 150 Jahre alte Idee aus<br />
den Köpfen zu bekommen, nach der<br />
man bloß die Schwerkraft ausschalten<br />
muss, um den Geburtsprozess<br />
aufzuhalten. „Heute wissen wir: Das<br />
ist zu simpel gedacht, die Ursachen<br />
einer Frühgeburt sind viel komplexer“,<br />
sagt Schleußner.<br />
So gibt es mehrere Faktoren, die<br />
das gefürchtete Ereignis zu begünstigen<br />
scheinen. Dazu zählen zum Beispiel<br />
eine Schwangerschaft im ganz<br />
jungen, aber auch im höheren Alter,<br />
Rauchen, Infektionen, Mehrlinge<br />
oder entsprechende Ereignisse im<br />
engen Verwandtenkreis.Die meisten<br />
Dicker Babybauch: Wenn die 37. Schwangerschaftswoche geschafft ist, müssen sich werdende Mütter keine Gedanken mehr über eine Frühgeburtmachen.<br />
dieser Faktoren machen eine Frühgeburt<br />
keineswegs unausweichlich,<br />
sie verdoppeln lediglich das eigentlich<br />
geringe Risiko.<br />
EinMysterium nennt Roberto Romero,<br />
Leiter der perinatalen Forschung<br />
der amerikanischen National<br />
Institutes of Health, deshalb die Ursachen<br />
des Leidens. Sicher ist er sich<br />
nach jahrzehntelanger Suche nur in<br />
einem: Eine Frühgeburtist nicht einfach<br />
nur ein vorzeitig eingeleiteter<br />
Geburtsprozess oder eine einzelne<br />
Krankheit. Sie ist die gemeinsame<br />
Endstrecke und das tragische<br />
Symptom von zahlreichen ganz unterschiedlich<br />
ausgelösten Leiden:<br />
Als Frühgeburt gilt, wenn ein<br />
Kind früher als drei Wochen<br />
vordem errechneten Termin<br />
zur Welt kommt, also vordem<br />
Ende der 37. Schwangerschaftswoche.<br />
Das trifft nach<br />
Angaben der Bundeszentrale<br />
für gesundheitliche Aufklärung<br />
auf bis zu zehn Prozent<br />
aller Kinder zu.<br />
VOR DER 37. SCHWANGERSCHAFTSWOCHE<br />
Drei Gruppen vonFrühgeborenen<br />
werden unterschieden:<br />
Extrem früh Geborene<br />
haben weniger als 28 Wochen<br />
im Mutterleib verbracht,<br />
sehr früh Geborene<br />
28 bis 31 Wochen und mäßig<br />
früh Geborene kommen<br />
nach 32 bis 37 Schwangerschaftswochen<br />
zur Welt.<br />
Das Geburtsgewicht von<br />
Frühgeborenen liegt in der<br />
Regel unter 2500 Gramm.<br />
Manche der extrem früh oder<br />
sehr früh Geborenen wiegen<br />
weniger als 1500 oder<br />
1000 Gramm. Es gibt auch<br />
Kinder,die mit einem Geburtsgewicht<br />
vonlediglich<br />
500 Gramm überleben.<br />
GETTY IMAGES<br />
beispielsweise fehlgeleitete Immunreaktionen,<br />
Hormonstörungen, anatomische<br />
Fehlbildungen und Infektionen.<br />
Kein Wunder, dass sich die Medizin<br />
sehr schwergetan hat, erfolgreich<br />
einzugreifen. Im Prinzip ist die Geschichte<br />
des Kampfes gegen die<br />
Frühgeburt eine Geschichte des<br />
Scheiterns. Nicht nur wegen des<br />
sinnlosen Versuchs, diese per Bettruhe<br />
aufzuhalten. „Früher haben wir<br />
die Frauen wochenlang mit Wehenhemmern<br />
behandelt, das war<br />
falsch“, sagt Ekkehard Schleußner.<br />
Länger als 48 Stunden, heißt es<br />
heute, sollten diese Mittel in der Regel<br />
nicht gegeben werden –und das<br />
auch nur,umdas Kind möglichst optimal<br />
auf die Geburt vorzubereiten.<br />
Was nicht bedeutet, dass sich alle<br />
daran halten. Seit Jahren predigt er<br />
das neueWissen auf Kongressen und<br />
Reisen: „Manchmal fragt man sich,<br />
wozu es überhaupt Forschung gibt,<br />
wenn so viele Kollegen ihre veralteten<br />
Therapien beibehalten“, klagt er.<br />
Dabei sind sowohl bei langer Wehenhemmung<br />
als auch bei Bettruhe<br />
gefährliche Nebenwirkungen zu befürchten.<br />
Um den Faktor 15 erhöht<br />
sich beim Dauerliegen zum Beispiel<br />
das Thromboserisiko, das in der<br />
Schwangerschaft ohnehin steigt.<br />
Gleichzeitig führt esauch zu Knochen-<br />
und Muskelabbau und macht<br />
Depressionen wahrscheinlicher. Zu<br />
den Risiken einer Wehenhemmung<br />
zählen Herzrhythmusstörungen,<br />
Übelkeit und Muskelzittern –vor allem<br />
wenn sie, wie oft der Fall, mit<br />
längst überholten sogenannten Betamimetika<br />
durchgeführtwird.<br />
Aber es gebe im Kampf gegen die<br />
Frühgeburtauch Erfolge zu verzeichnen,<br />
sagt Daniel Surbek, Chefarzt der<br />
Geburtshilfe am Inselspital Bern. So<br />
sei inzwischen bekannt, dass ein bisschen<br />
Bewegung für das Kind sogar<br />
förderlich ist, solange man schwere<br />
Anstrengungen vermeidet.<br />
Der wichtigste Durchbruch der<br />
letzten Zeit ist Surbek zufolge aber<br />
der Einsatz von Progesteron gewesen.<br />
Das Geschlechtshormon beruhigt<br />
die Muskulatur der Gebärmutter<br />
und des Uterus. Ohne Progesteron,<br />
das weiß man schon lange,<br />
kommt es zum Abbruch der<br />
Schwangerschaft. Inzwischen hat<br />
sich herausgestellt, dass das Hormon<br />
das Risiko einer Frühgeburtum<br />
40 bis 60 Prozent verringern kann,<br />
wenn bei der Ultraschalluntersuchung<br />
eine Verkürzung des Gebärmutterhalses<br />
auffällt.<br />
Verängstigte Frauen<br />
„Sobald dieWehen jedoch eingesetzt<br />
haben, lässt sich durch die Gabe wenig<br />
erreichen“, sagt der Frauenarzt.<br />
In bestimmten Fällen, bei vorausgegangener<br />
Frühgeburt samt anderer<br />
Warnzeichen beispielsweise, kann<br />
auch eine operativeVerstärkung des<br />
Gebärmutterverschlusses, präventive<br />
Cerclage genannt, den Prozess<br />
bremsen. Ein Check auf infektiöse<br />
Keime in der Scheide hilft im dritten<br />
Monat wiederum, das Risiko durch<br />
aufsteigende Keime klein zu halten.<br />
Ob all das dem Mythos von der<br />
heilsamen Bettruhe ein Ende machen<br />
kann? Irene Hösli vom Universitätsspital<br />
Basel hat ihre Zweifel.<br />
Gerade durch das Internet seien<br />
viele Frauen verängstigt und wollten<br />
aus diesem Grund auch selbst nicht<br />
mehr aufstehen. „Soeine Patientin“,<br />
sagt sie, „müssen sie als Arzt sehr,<br />
sehr gut begleiten, um ihr die Furcht<br />
zu nehmen und sie vomGegenteil zu<br />
überzeugen.“<br />
BERLINER EXPERIMENTE<br />
Exzellente Professorin<br />
Forschung klingt gut<br />
Prostatakrebs durchschauen<br />
Janina Kneipp,Professorin für Physikalische<br />
Chemie,erhält die Caroline-von-Humboldt-Professur<br />
2019.<br />
Die <strong>Berliner</strong> Humboldt-Universität<br />
(HU) hat damit die Auszeichnung<br />
zum siebten Malvergeben.<br />
Die Professur ist gedacht für exzellente,<br />
über Dauerstellen verfügende<br />
Professorinnen aller Disziplinen<br />
der HU, die sich durch ihr internationales<br />
Renommee, die Relevanz<br />
ihrer Forschungsergebnisse über das<br />
eigene Fachgebiet hinaus und ihre<br />
herausragende Publikationstätigkeit<br />
auszeichnen. Die Namensprofessur<br />
ist mit einer einjährigen Projektförderung<br />
im Umfang von 80000 Euro<br />
verbunden.<br />
Janina Kneipp betreibe im Grenzgebiet<br />
zwischen Chemie,Physik und<br />
Biologie innovative Grundlagenforschung,<br />
teilte die HU mit. Ihre Forschungsergebnisse<br />
in der Spektroskopie<br />
würden weltweit beachtet<br />
und seien anwendungsrelevant.<br />
Neben ihrer internationalen Profilierung,<br />
zumal als Frau in den nach<br />
wie vor männlich dominierten Naturwissenschaften,<br />
bringe sie sich<br />
mit großem Engagement in der universitären<br />
Selbstverwaltung sowie in<br />
der Nachwuchsförderung ein.<br />
Geräusche und ihre Wahrnehmung<br />
sind Phänomene,die verschiedene<br />
Fachrichtungen von Forscherninteressieren.<br />
Dieeinen optimieren<br />
den Klang vonKonzertsälen,<br />
andere gehen der menschlichen<br />
Stimme auf den Grund oder sie fabrizieren<br />
Geräusche für die Industrie<br />
–etwa den schmatzend satten Klang<br />
einer zuklappenden Autotür.<br />
Die Klangwelt ist bedeutend.<br />
Mittlerweile entfallen angeblich sogar<br />
rund fünf Prozent der Entwicklungskosten<br />
eines Autos auf den Bereich<br />
Sounddesign. Forscher der<br />
Technischen Universität (TU) Berlin<br />
und der Universität der Künste<br />
(UdK) treffen sich am heutigen Donnerstag<br />
zu einem disziplinenübergreifenden<br />
Abend, den 33. Hybrid<br />
Talks, über die Wahrnehmung von<br />
Klängen, zu dem auch die Öffentlichkeit<br />
eingeladen ist.<br />
Nach insgesamt fünf zehnminütigen<br />
Expertenbeiträgen zu Themen<br />
wie „Stimme – der menschliche<br />
Klangabdruck“ (Eleanor Forbes/UdK)<br />
und „Der Klang von Produkten“<br />
(Jochen Steffens/TU) ist<br />
Zeit vorgesehen, damit Forschende<br />
und Kreative miteinander ins Gespräch<br />
kommen.<br />
Forscher der Charité Berlin haben<br />
ein Computermodell entwickelt,<br />
mit dem sich berechnen lässt, wie<br />
Prostatakrebs verlaufen wird. Dabei<br />
geht es vor allem darum, aggressive<br />
Formen zu erkennen. Für ihreArbeit,<br />
über die sie im Fachblatt Cancer Cell<br />
berichten, haben sie zusammen mit<br />
Arbeitsgruppen aus anderen Ländern<br />
das molekulare Profil von fast<br />
300 Prostatatumoren untersucht.<br />
Dabei hatte das Team vor allem<br />
im Blick, wie sich die Erbinformation<br />
einer Prostatazelle auf dem Wegzur<br />
Entartung verändert. „Wir konnten<br />
Tumor-Subtypen identifizieren, die<br />
verschieden schnell fortschreiten<br />
und deshalb unterschiedlich therapiertwerden<br />
müssen“, sagt Thorsten<br />
Schlomm, Direktor der Klinik für<br />
Urologie an der Charité und einer<br />
der leitenden Studienautoren.<br />
Da man nun die frühesten Genveränderungen<br />
kenne, die eine Entartung<br />
von Prostatazellen einleiten,<br />
und auch klar sei, welches die Folgeschritte<br />
sind, seien nun individuelle<br />
Prognosen möglich. Schlomm hofft,<br />
dass das Computermodell in zwei bis<br />
drei Jahren so weit fortgeschritten ist,<br />
dass es in die Behandlungsstrategie<br />
eingebunden werden kann. (abg.)<br />
Die bisherigen Preisträgerinnen aus den Jahren 2013 bis 2018:<br />
www.exzellenz.hu-berlin.de/de/foerderlinien/top-research/bisherige-preistraegerinnen<br />
Hybrid Talks XXXIII „Klang“ im Hybrid Lab,TUBerlin, Villa Bell, Marchstraße 8, 10587 Berlin,<br />
Donnerstag,13. Dezember,18Uhr.Der Eintritt ist frei. Weitere Infos: www.hybrid-plattform.org<br />
Die Publikation: www.cell.com/cancer-cell/pdfExtended/S1535-6108(18)30482-3,<br />
Infos über Prostatakrebs: www.krebsinformationsdienst.de/tumorarten/prostatakrebs