Berliner Zeitung 13.12.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 291 · D onnerstag, 13. Dezember 2018 3 *<br />
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Terror in Frankreich<br />
Einsatzkräfte der deutschen Polizei überprüfen am Mittwoch an der deutsch-französischen Grenze bei Kehl den Autoverkehr,<br />
der sich zwischen den beiden Ländernbewegt. Hunderte Sicherheitskräfte sind im Einsatz.<br />
AFP/FREDERICK FLORIN<br />
Ein Mann entzündet in Straßburg eine Kerze zum Gedenken an die Opfer.Auf zwei Schildernsteht „Je suis Strasbourg“ –Ich bin<br />
Straßburg –inAnlehnung an das Attentat auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015.<br />
AFP/PATRICK HERTZOG<br />
An diesem Mittwoch, am Tag danach,<br />
bleiben die Glühweinstände<br />
und Maronen-Buden geschlossen.<br />
Es gibt keine gebrannten Mandeln<br />
auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt, es<br />
wirdkeine Christbaum-Deko verkauft. Auch<br />
viele Museen und Sportzentren der Stadt legen<br />
einen Ruhetag ein. Um elf Uhrwirdeine<br />
Minute lang geschwiegen.<br />
DerVerantwortliche für den Weihnachtsmarkt<br />
und stellvertretende Bürgermeister,<br />
Alain Fontanel, beschreibt die Stimmung mit<br />
bitteren Worten. „Straßburg wacht mit dem<br />
Geschmack von Blut im Mund auf. Weil wir<br />
eine Stadt in Trauer sind, haben wir heute<br />
alle Veranstaltungen abgesagt.“<br />
Diesonst so lebendige elsässische Metropole<br />
sei kaum wiederzuerkennen, sagt die<br />
EU-Abgeordnete Kerstin Westphal, die sich<br />
wegen der Sitzungswoche des Parlaments<br />
dort befindet. Am Dienstagabend aß die<br />
SPD-Politikerin mit Mitarbeitern ineinem<br />
Restaurant im Stadtzentrum, als die Wirtin<br />
plötzlich die Tür abschloss und die Fenster<br />
zuhängte: Draußen habe es einen Anschlag<br />
gegeben. „Im ersten Moment stehst du neben<br />
dir.Man macht sich erst später bewusst,<br />
dass man eine halbe Stunde vorher noch<br />
selbst am Tatort einen Glühwein getrunken<br />
hat“, sagt Westphal. Gegen Mitternacht habe<br />
sie schließlich den Heimweg gewagt, während<br />
Hubschrauber die Stadt überkreisten.<br />
In die Weihnachtsbeleuchtung mischte sich<br />
Blaulicht.<br />
Kurz vor 20Uhr hatte ein Mann in einer<br />
verkehrsberuhigten Straße im Zentrum Passanten<br />
mit einer Handfeuerwaffe und einem<br />
Messer angegriffen. Zwei Menschen tötete<br />
er, darunter einen Touristen aus Thailand<br />
mit einem Schuss in den Kopf. Eine Person<br />
ist hirntot und zwölf weitere Opfer wurden<br />
verletzt, acht vonihnen schwer.<br />
DerTäter lieferte sich einen Schusswechsel<br />
mit Soldaten der Anti-Terror-Operation<br />
„Sentinelle“, bei dem er am Arm verletzt<br />
wurde.Dann bestieg er ein Taxi und ließ sich<br />
in das südlich gelegene Stadtviertel Neudorf<br />
bringen. DerFahrer meldete sich später in einem<br />
Polizei-Kommissariat, um zu berichten,<br />
dass er einen bewaffneten und verletzten<br />
Mann chauffiert habe. Dieser habe ihm erzählt,<br />
dass er gerade ein Attentat begangen<br />
und zehn Menschen getötet habe.<br />
In Neudorfstieß derTäter auf eine Polizei-<br />
Patrouille,eskam zu einem weiteren Schusswechsel,<br />
dann verlor sich seine Spur.Blieb er<br />
im Umkreis oder hat er sich nach Deutschland<br />
abgesetzt? 600 Einsatzkräfte fahndeten<br />
im ganzen Umkreis nach ihm und auch seinem<br />
Bruder Sami C., während das französische<br />
Innenministerium die höchste Sicherheitsstufe<br />
ausrief. Sie erlaubt verstärkte<br />
Grenz- und Sicherheitskontrollen, auch bei<br />
anderen Weihnachtsmärkten im Land, um<br />
mögliche Nachahmungstaten zu verhindern.<br />
VomAusnahmezustand, der vorgut einem<br />
Jahr aufgehoben wurde, als ein verschärftes<br />
Gesetz zur Inneren Sicherheit in<br />
Kraft trat, sah man ab.<br />
Noch in der Nacht hatte die Antiterror-<br />
Abteilung der Pariser Staatsanwaltschaft Ermittlungen<br />
aufgenommen. Beieiner Pressekonferenz<br />
ließ Staatsanwalt Rémy Heitz keinen<br />
Zweifel an der Motivation des Täters,der<br />
laut Zeugenaussagen„Allahu Akbar“ gerufen<br />
Eine Stadt<br />
im Blaulicht<br />
In die Weihnachtsbeleuchtung mischen<br />
sich die Signale der Polizeiautos und Krankenwagen. Straßburg ist<br />
verwundet –und Frankreich debattiert wieder die Frage:<br />
Hätte die Tatverhindertwerden können?<br />
WEIHNACHTEN 2000<br />
Anschlagsplanung: Vier Algerier wollten<br />
mit einer selbst gebastelten Bombe Ende<br />
Dezember 2000 einen Anschlag auf den<br />
Weihnachtsmarkt in Straßburg verüben.<br />
Dortsollte ein mit Nägeln gefüllter Sprengstoffbehälter<br />
explodieren. Sie wurden vorher<br />
in FrankfurtamMain festgenommen.<br />
Al-Kaida-Verdacht: Für eine Verbindung gab<br />
es keine Beweise, nur Indizien: Alle hatten<br />
ab 1998 Schulungen in afghanischen Ausbildungslagernabsolviert,<br />
bevor sie ab<br />
Sommer 2000 unter falscher Identität nach<br />
Frankfurteinreisten. Sie hielten telefonischen<br />
Kontakt mit hochrangigen Al-Kaida-<br />
Angehörigen in Italien und London.<br />
Urteil: Die vier Männer wurden im März<br />
2003 zu Haftstrafen zwischen zehn und<br />
zwölf Jahren verurteilt –wegen Verabredung<br />
zum vieltausendfachen Mord und der<br />
Vorbereitung einer Sprengstoffexplosion.<br />
VonBirgit Holzer,Paris<br />
Anschlag auf Straßburger Weihnachtsmarkt<br />
In diesen Straßen wurde der Täter gesichtet<br />
Europaparlament<br />
Neudorf<br />
1km<br />
Rhein<br />
DEUTSCHLAND<br />
Place Kleber<br />
Versorgung der Verletzten<br />
Grand’Rue<br />
Innenstadt<br />
Rue des<br />
Grandes Arcades<br />
habe: „Der Terrorismus hat ein erneutes Mal<br />
auf unserem Staatsgebiet zugeschlagen.“<br />
Noch in der Nacht wurden mehrere Wohnungen<br />
durchsucht und vier Personen aus<br />
dem Umfeld des Täters festgenommen.<br />
Dieser konnte im Laufe des Abends rasch<br />
identifiziert werden als Chérif C., 29 Jahre<br />
Jahrealt und in Straßburggebürtig. DenPolizei-<br />
und Justizbehörden ist er seit langem vor<br />
allem durch Diebstahl und Gewalttaten bekannt,<br />
die er in Frankreich, Deutschland und<br />
der Schweiz beging. Bereits 27-mal wurde er<br />
verurteilt und saß mehrere Haftstrafen ab.<br />
Auch in Deutschland kam er 2016 ins Gefängnis,<br />
bis er nach Absitzen seiner Strafe<br />
2017 nach Frankreich abgeschoben wurde.<br />
Just am Dienstagmorgen durchsuchte die<br />
Polizei seine Straßburger Wohnung im Zusammenhang<br />
mit einer Untersuchung wegen<br />
eines versuchten Tötungsdelikts. Sie<br />
fand dabei eine Granate, eine Schusswaffe,<br />
Munition und vier Messer,trafChérif C. aber<br />
nicht an, während mehrere seiner Komplizenverhaftet<br />
wurden.<br />
Bei einem Gefängnisaufenthalt 2015 war<br />
C., der Kontakte zur islamistischen Szene in<br />
Straßburgpflegte,erstmals als religiöser Eiferer<br />
aufgefallen. Er wurde in die „S“-Datei für<br />
„Staatssicherheit“ aufgenommen, in der die<br />
französische Sicherheitsbehörden mehr als<br />
20 000 mögliche Gefährder führen. Auch<br />
stand er unter „aktiver Beobachtung“ des Inlandsgeheimdienstes<br />
DGSI, sagte Innenstaatssekretär<br />
Laurent Nuñez. Allerdings<br />
habe sich der 29-Jährige nie in Syrien aufgehalten.<br />
Er sei zwar als „radikalisiert“ bekannt<br />
Präfektur<br />
Rue des Orfèvres<br />
Angriff mit Pistole und Messer<br />
Rathaus<br />
Straßburger<br />
Münster<br />
Pont du Corbeau<br />
Täter betritt den Markt,<br />
erste Schüsse fallen<br />
Straßburg<br />
Paris<br />
200 m<br />
BLZ/REEG; QUELLE: AFP, DPA<br />
gewesen, aber „für keinerlei Delikte in Zusammenhang<br />
mit Terrorismus“. So erscheint<br />
es noch offen, ob es einen Auftraggeber gab<br />
oder ob C. Teil einer Terror-Zelle war.<br />
Da auch bei früheren Attentaten die Urheber<br />
bereits vorher als potenzielle Gefährder<br />
bekannt gewesen waren, warfdie Opposition<br />
der Regierung Laxheit vor. „Wie viele<br />
Anschläge, verübt von Leuten mit S-Vermerk,<br />
müssen wir noch erleiden, bevor unser<br />
Rechtanden Kampf gegen den Terror angepasst<br />
wird?“, fragte der Chef der konservativen<br />
Republikaner, Laurent Wauquiez.Wiederholt<br />
hat Wauquiez gefordert, die als<br />
besonders gefährlich eingestuften Gefährder<br />
präventiv wegzusperren, während Juristen<br />
eine Internierung ohne Verurteilung ausschließen.<br />
Auch die Rechtspopulistin Marine<br />
Le Penforderte einen „radikalen Wandel“ bei<br />
der Terrorbekämpfung. Sie schlug vor, alle<br />
Ausländer auf der S-Liste auszuweisen.<br />
Chérif C. hat zwar nordafrikanischeWurzeln,<br />
aber die französische Staatsbürgerschaft<br />
und wäredavon nicht betroffen gewesen.<br />
MehrerePolitiker nicht nur aus der Regierungspartei<br />
appellierten derweil an die Bewegung<br />
der „Gelbwesten“, neue Proteste<br />
auszusetzen. Diese wurden in den vergangenen<br />
Wochen mehrmals von gewaltsamen<br />
Ausschreitungen begleitet. EinStopp der Aktionen<br />
dränge sich aus Respekt vor den Opfern<br />
auf, aber auch um die Einsatzkräfte zu<br />
schonen, sagte Republikaner-Vizechef Damien<br />
Abad. Seit Präsident Emmanuel Macron<br />
amMontag auf einige Forderungen der<br />
„Gelbwesten“ wie eine Anhebung des Mindestlohns<br />
eingegangen war, bröckelte die<br />
Unterstützung der Öffentlichkeit für die Bewegung.<br />
Deren Wortführer hatten sich bereits<br />
vordem Anschlag uneins über das weitere<br />
Vorgehen gezeigt – einige riefen nun<br />
aber dazu auf, den Protest fortzusetzen. In<br />
den sozialen Netzwerken zirkulierten Theorien,<br />
nach denen die Staatsspitze zueinem<br />
Komplott gegriffen habe, um die unbequeme<br />
Protestbewegung einzudämmen.<br />
„Das Attentat kommt allzu passend“, hieß es<br />
auf einer der einschlägigen Facebook-Seiten.<br />
Kritik wurde auch an den Sicherheitsvorkehrungen<br />
laut, da der bewaffnete Täter problemlos<br />
in die Innenstadt gelangen konnte.<br />
Diese wies derVerantwortliche für denWeihnachtsmarkt,<br />
Fontanel, scharf zurück: Seit<br />
den Attentaten von Paris 2015 und dem Anschlag<br />
auf den <strong>Berliner</strong> Weihnachtsmarkt an<br />
der Gedächtniskirche 2016 seien die Kontrollmaßnahmen<br />
stets verschärft worden.<br />
Täglich würden Hunderte Polizisten, private<br />
Sicherheitskräfte sowie einige Dutzend Soldaten<br />
eingesetzt. Nach einer konkreten Bedrohung<br />
durch eine in Deutschland sitzende<br />
Terrorzelle im Jahr 2000 sei auch 2016 ein Attentat<br />
verhindertworden, heißt es.<br />
Während Adventsbräuche und -feiern in<br />
Frankreich weit weniger verbreitet sind als in<br />
Deutschland, hat der Weihnachtsmarkt in<br />
Straßburgeine große Strahlkraft. Zwei Millionen<br />
Besucher zieht er jede Saison an. Auch<br />
aufgrund der europäischen Dimension der<br />
Stadt durch die geografische Nähe zu<br />
Deutschland undden Sitz des Europäischen<br />
Parlamentes sowie des Europarates galt er<br />
aber auch als besonders bedrohtes Ziel.<br />
Während Präsident Macron, der einen<br />
Krisenstab im Innenministerium einrichtete,den<br />
Opfern und ihrenFamilien die„Solidarität<br />
der ganzen Nation“ ausdrückte,<br />
sagte der Bürgermeister von Straßburg, Roland<br />
Ries, seine Stadt, derWeihnachtsmarkt<br />
unddie Gewohnheiten derMenschen hätten<br />
einen „schweren Schlag“ erlitten. Dennoch<br />
rief er alle dazu auf, nach derZeitder Trauer<br />
„soschnell wiemöglich unsereLebensweise<br />
wiederzufinden“. Auf dass Straßburg so lebendig<br />
bleibe wie vorher. Ob der Weihnachtsmarkt<br />
am heutigen Donnerstag wiederöffnet,<br />
stand zunächst noch nicht fest.<br />
Birgit Holzer hatte gehofft, nicht<br />
mehr über Terroranschlägein<br />
Frankreich berichten zu müssen.