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Berliner Zeitung 05.11.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 257 · D ienstag, 5. November 2019 11 *<br />

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Berlin<br />

Welle von rechts<br />

Seit 2016 gab es 55 mutmaßliche rechtsextremistische Anschläge im Süden Neuköllns. Betroffene fordern nun einen Untersuchungsausschuss<br />

VonKatrin Bischoff<br />

Nach einem Anschlag brennt das Auto von Ferat Kocak lichterloh. Das Fahrzeug stand sehr dicht am Haus der Elterndes Linken-Politikers.<br />

In der Nacht zu Montag hat<br />

Ferat Kocak wieder bei seinen<br />

Eltern inRudow übernachtet.<br />

Mit einem mulmigen Gefühl.<br />

Er habe kein Auge zugemacht, sagt<br />

er.Immer in Angst, dass wieder so etwas<br />

geschehen würde wie in der<br />

Nacht zum 1. Februar vorigen Jahres.<br />

Damals wurde Kocak in seinem Elternhaus<br />

durch einen hellen Schein<br />

wach. Er glaubte zunächst, verschlafen<br />

zu haben. Doch es war drei Uhr<br />

morgens,das Licht stammte vonden<br />

Flammen vordem Fenster.Sein Auto<br />

brannte. Esstand nahe der Gasleitung.<br />

Kocak weckte seine Eltern, er<br />

rannte hinaus, versuchte den Brand<br />

zu löschen.<br />

„Die Feuerwehr sagte mir damals,<br />

fünf Minuten später hätte das ganze<br />

Haus gebrannt“, erinnert sich der<br />

Linken-Politiker aus Neukölln, der<br />

sich gegen Rechts engagiert. Seine<br />

Mutter habe in jener Nacht einen<br />

Herzinfarkt erlitten. Verfassungsschutz<br />

und Landeskriminalamt<br />

wussten offenbar, dass Kocak seit<br />

langem von zwei Rechtsextremisten<br />

ausgespäht wurde – doch gewarnt<br />

wurde er nicht.<br />

Der40-Jährige übergab an diesem<br />

Montag zusammen mit weiteren Opfern<br />

rechtsextremistischer Anschläge<br />

im Süden Neuköllns die Petition<br />

„Rechter Terror in Berlin –Untersuchungsausschuss<br />

jetzt!“ an Vertreter<br />

von SPD, Linken und Grünen im Abgeordnetenhaus.<br />

Vertreter von CDU<br />

und FDP waren nicht erschienen.<br />

Miteinem Untersuchungsausschuss<br />

sollen die Ermittlungen und eventuelle<br />

rechte Strukturen innerhalb der<br />

Polizei beleuchtet werden.<br />

25 679 Menschen haben die Petition<br />

bisher unterschrieben. Sie<br />

wurde auf den Taggenau acht Jahre<br />

nach der „Selbstenttarnung des<br />

NSU“ überreicht, wie Kocak sagte.<br />

Sie sei notwendig, weil seit Jahren<br />

eine Welle rechten Terrors Neukölln<br />

überziehe. Und man nicht warten<br />

wolle, bis aus Brandanschlägen<br />

Morde würden. Seit 2016 gab es in<br />

Neukölln 55 Anschläge,hinter denen<br />

Rechtsextremisten vermutet werden.<br />

Betroffen waren Menschen, die<br />

sich gegen Rechts engagieren.<br />

Lasse Jahn vonder sozialistischen<br />

Jugendorganisation „Die Falken“ aus<br />

Neukölln bestätigt Kocaks Angaben.<br />

Zuerst hätten man einfache Drohungen<br />

erhalten. Dann seien Schmierereien<br />

dazugekommen, später telefonische<br />

Morddrohungen oder Morddrohungen,<br />

die mit der Post kamen:<br />

„die besagen sollten: Wir wissen, wo<br />

du wohnst“. Höhepunkt sei der<br />

Brandanschlag auf das Falkenhaus<br />

gewesen, in dem in der Nacht zuvor<br />

noch Kinder geschlafen hätten. Seit-<br />

IMAGO IMAGES<br />

dem gebe es einen Sicherheitszaun<br />

mit Überkletterschutz und Kameras.<br />

„Wir dachten, nun ist Ruhe, bis die<br />

nächste Brandserie gegen Mitarbeiter<br />

der Falken und ehrenamtlich aktive<br />

Elternbegann“, sagt Jahn.<br />

Die Politikwissenschaftlerin<br />

Claudia von Gélieu spricht hinsichtlich<br />

der rechtsextremistischen Übergriffe<br />

in Neukölln vonVersagen und<br />

Pannen bei den Sicherheitsbehörden.<br />

Im Februar 2017 brannte ihr<br />

Auto.Ihr Anwalt habe davon gesprochen,<br />

„selten so schlampig geführte<br />

Ermittlungen gesehen“ zu haben.<br />

Ergebnis sei, dass die Täter nichts<br />

befürchten müssten, dass sie einfach<br />

weiteragieren könnten.<br />

DieBetroffenen haben sich bereits<br />

an den Generalbundesanwalt in<br />

Karlsruhe gewandt mit der Bitte, die<br />

Serievon Anschlägen als Terrorismus<br />

einzustufen.VorwenigenWochen hat<br />

das auch Innensenator Andreas Geisel<br />

(SPD) getan. Ohne Erfolg. Karlsruhe<br />

erklärte sich für nicht zuständig.<br />

Eine im Maigegründete Sonderkommission<br />

Fokus soll nun die Ermittlungen<br />

noch einmal prüfen.<br />

Fraktionschef Raed Saleh, der die<br />

Petition an diesem Montag im Abgeordnetenhaus<br />

für die SPD entgegennimmt,<br />

plädiert für einen Sonderermittler.<br />

Ersagt, der rechte Terror sei<br />

derzeit die größte Gefahr in Deutschland.<br />

Auch Susanne Kahlefeld von<br />

den Grünen spricht sich für einen solchen<br />

Ermittler aus.Die Linken-Abgeordnete<br />

Anne Helm unterstützt hingegen<br />

einen Untersuchungsausschuss.Ein<br />

Sonderermittler sei zu allgemein.<br />

DiePolitiker wollen sich nun<br />

mit den Überbringern des Antrags<br />

noch einmal treffen.<br />

Für Ferat Kocak ist das ein erster<br />

Erfolg im Kampf gegen den rechten<br />

Terror in Neukölln. Er ist nach dem<br />

Brandanschlag weggezogen aus Rudow–umseine<br />

Elternnicht weiter zu<br />

gefährden.<br />

Neue Fragen zum<br />

Mietendeckel<br />

CDU bezeichnet Rückwirkung als „offenbar rechtswidrig“<br />

VonUlrich Paul<br />

Ist es rechtlich zulässig, die Mieten<br />

in Berlin mit dem geplanten Mietendeckel<br />

rückwirkend auf dem<br />

Stand vom 18. Juni 2019 einzufrieren?<br />

Mit dieser Frage hat sich jetzt<br />

derWissenschaftliche Dienst des Abgeordnetenhauses<br />

auf Bitten der<br />

CDU-Fraktion auseinandergesetzt.<br />

Das Ergebnis ist jedoch alles andere<br />

als eindeutig: Ein rückwirkendes<br />

Verbot von Mieterhöhungen<br />

zum 18. Juni ist nach Ansicht der Experten<br />

zwar „nicht gänzlich ausgeschlossen“,<br />

aber zugleich „nicht als<br />

rechtssicher“ einzustufen. Hintergrund:<br />

Am 18. Juni hatte der rot-rotgrüne<br />

Senat die Eckpunkte für den<br />

geplanten Mietendeckel beschlossen.<br />

Nach dem für Anfang 2020 vorgesehenen<br />

Inkrafttreten des neuen<br />

„Ein Gericht wird<br />

entscheiden, ob<br />

der Mietendeckel<br />

Bestand hat.“<br />

Katrin Dietl, Sprecherin der<br />

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung<br />

und Wohnen<br />

Gesetzes sollen die Mieten mit Stand<br />

vom 18. Juni 2019 für fünf Jahre eingefroren<br />

werden. So soll verhindert<br />

werden, dass Vermieter die Zeit bis<br />

zum Inkrafttreten des Gesetzes nutzen,<br />

um die Miete zu erhöhen. Tatsächlich<br />

hatte der Eigentümerverband<br />

Haus und Grund vor dem Senatsbeschluss<br />

dazu aufgerufen, die<br />

Mieten bis zum 17. Juni heraufzusetzen.<br />

Darauf folgte eine Welle von<br />

Mieterhöhungen. Die Rückwirkung<br />

des Mietendeckels soll Mietern ermöglichen,<br />

eine Rückzahlung von<br />

Mieten zu verlangen, die ab 18. Juni<br />

vereinbartwurden. Nach Ansicht des<br />

Wissenschaftlichen Dienstes ist an-<br />

gesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts<br />

nicht sicher prognostizierbar,wie<br />

dieses Gericht oder der <strong>Berliner</strong><br />

Verfassungsgerichtshof den<br />

Stichtag 18. Juni 2019 beurteilen<br />

wird. Gewichtige Gründe sprächen<br />

jedoch dafür, dass der Stichtag 18.<br />

Juni 2019 einer gerichtlichen Überprüfung<br />

nicht standhalten werde.<br />

Zur Begründung verweisen die<br />

Gutachter auf eine Entscheidung des<br />

Bundesverfassungsgerichts aus dem<br />

Jahr 1997. Die Richter entschieden,<br />

dass der rückwirkende Wegfall von<br />

steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten<br />

für Schiffe und Flugzeuge<br />

auf den Tagder Ankündigung durch<br />

die Bundesregierung zulässig sei –<br />

um zu verhindern, dass es zu „Mitnahmeeffekten“<br />

komme, also zu<br />

weiteren Bestellungen von Flugzeugen<br />

und Schiffen nach dem bisherigen<br />

Modell. Die damalige Ankündigung<br />

der Bundesregierung zur Abschaffung<br />

der Steuervorteile und die<br />

Ankündigung des Senats zum Mietendeckel<br />

sind laut Parlamentsdienst<br />

zwar„als vergleichbar anzusehen“.<br />

In einem zweiten Schritt sei jedoch<br />

zu prüfen, ob die Rückwirkung<br />

der Regelung mit den Grundrechten<br />

der Betroffenen zu vereinbaren sei.<br />

Während es im Fall von 1997 um<br />

Subventionen gegangen sei, deren<br />

Erhalt grundrechtlich nicht geschützt<br />

sei, handele es sich beim<br />

Mietendeckel„um einen Eingriff in<br />

das Eigentumsrecht“, so die Gutachter.<br />

Eine rechtssichere Einschätzung<br />

darüber, ob die Rückwirkung des<br />

Mietendeckels zulässig ist, ist laut<br />

den Experten aber nicht möglich.<br />

DieCDU stellt in einer Mitteilung<br />

trotzdem fest, dass ein „rückwirkender<br />

Preisstopp offenbar rechtswidrig“<br />

sei. Im Hause vonStadtentwicklungssenatorin<br />

Katrin Lompscher<br />

(Linke) zeigt man sich zurückhaltender.<br />

„Allen Beteiligten war von Anfang<br />

an bewusst, dass sie an dieser<br />

Stelle juristisches Neuland betreten“,<br />

sagt eine Sprecherin. „Am Ende<br />

wirdein Gericht entscheiden, ob der<br />

Mietendeckel Bestand hat.“<br />

Für <strong>Berliner</strong>,<br />

von <strong>Berliner</strong>n.<br />

Silke und Holger Friedrich,<br />

dieneuen Verleger der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,<br />

mit einer Sonderedition am 8. November und der<br />

Wochenendausgabe zum 9./10. November.

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