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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 257 · D ienstag, 5. November 2019 – S eite 19 *<br />
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Feuilleton<br />
Frank Junghänel<br />
über Bob Dylan und<br />
JohnnyCash<br />
Seite 21<br />
„Im Jazz herrschen inzwischen die Kollektive.“<br />
Tobi Müller blickt auf das 56. Jazzfest zurück Seite 20<br />
Tier des Jahres<br />
Unter<br />
Tage<br />
Harry Nutt<br />
hat noch nie einen Maulwurf<br />
gesehen.<br />
Untergraben ist sein Geschäft.<br />
Undobwohl er alsbald ein inneres<br />
Bild evoziert, in dem er listig aus<br />
einem kleinen, vonihm selbst aufgeworfenen<br />
Erdhügel hervorlugt, haben<br />
ihn viele Menschen in natura<br />
noch nie oder allenfalls selten gesehen.<br />
Das hat den Maulwurf jenseits<br />
des Ärgernisses,das er bei Kleingärtnern<br />
durch seine intensiven Grabungsaktivitäten<br />
hervorzurufen vermag,<br />
zu einem mythischen Wesen<br />
gemacht. DasGeheimnisvolle seiner<br />
loriot-haften Erscheinung rührt<br />
wohl von seinen im Verhältnis zur<br />
Körpergröße –zwischen sechs und<br />
22 Zentimetern–immensen Buddelleistungen<br />
her.Der Maulwurfschafft<br />
was weg, aber er ist dabei durchaus<br />
wählerisch. Selbst geschädigte Gartenfreunde<br />
wissen zu schätzen, dass<br />
er als Insektenfresser meist nur dort<br />
unterwegs ist, wo es etwas zu holen<br />
gibt, die Bodenqualität also ertragreich<br />
ist.<br />
Weltweit reüssiert der Maulwurf<br />
in großer Artenvielfalt, in hiesigen<br />
Breitengraden aber gilt der Europäische<br />
Maulwurfals einzigartig. Gegen<br />
den beachtlichen Niedlichkeitsfaktor<br />
spricht, dass er als typischer Einzelgänger<br />
überaus aggressiv gegen<br />
Artgenossen vorzugehen vermag.<br />
Mit den possierlichen Schaufeln<br />
kann er auch anders. Zum Tier des<br />
Jahres 2020 ist der Maulwurfvon der<br />
Deutschen Wildtierstiftung nicht zuletzt<br />
deshalb auserkoren, weil er<br />
durch die Bodenversiegelung durch<br />
Asphalt und Beton selbst im ländlichen<br />
Raum erheblich in Mitleidenschaft<br />
gezogen worden ist. Der Titel<br />
möge ihn schützen.<br />
Der schafft wasweg: ein Europäischer<br />
Maulwurf bei der Arbeit.<br />
DPA<br />
Dietrich Lehmann singt zusammen mit Nina Lorck-Schiernig bei der Geburtstagsgala des Grips-TheatersimJuni 2019.<br />
Der Herr Lehmann vom Grips<br />
Ein kleiner Lobgesang auf einen Schauspieler,der seit 50 Jahren am selben Theater spielt<br />
VonCornelia Geißler<br />
Als das Grips-Theater Anfang<br />
Juni seinen 50. Geburtstag<br />
feierte, ließ er bei<br />
der Gala ganz schön lange<br />
auf sich warten. Dietrich Lehmann<br />
wird doch wohl nicht krank geworden<br />
sein an solch einem Tag? Warer<br />
nicht. Mit Lockenperücke und in<br />
Pelz gehüllt kam er dann mit drei<br />
Kollegen hervor, tanzend, marschierend,<br />
einen der vielen Klassiker aus<br />
dem Musical „Linie 1“ trällernd: „Die<br />
Wilmersdorfer Witwen verteidigen<br />
Berlin …“ Unddas Publikum tobte.<br />
Dietrich Lehmann wird offenbar<br />
sowieso nie krank oder wenn, dann<br />
nur in den Theaterferien. Eine einzige<br />
Vorstellung, erzählt er am Telefon,<br />
hatte er absagen müssen, weil er<br />
eineVerletzung an der Hand hatte.Er<br />
war nicht nur in allen bisher 1917<br />
„Linie 1“-Vorstellungen als Witwe<br />
Agathe und Rentner Hermann zu sehen,<br />
er war an 70 Produktionen des<br />
Grips-Theaters wenigstens in der<br />
Stückentwicklung beteiligt, in 50 davonhat<br />
er mitgespielt, 17 Malwar er<br />
der Regisseur. Neben dem Gründer<br />
Volker Ludwig muss man eigentlich<br />
auch seinen langjährigsten Beschäftigten<br />
mit dem Grips-Theater identifizieren.<br />
Zumal Ludwig sich 2010 von<br />
der Künstlerischen Leitung und sieben<br />
Jahre später auch von der Geschäftsführung<br />
des Theaters zurückzog.<br />
Lehmann aber, der Volker Ludwig<br />
1960 erstmals im <strong>Berliner</strong><br />
Reichskabarett begegnet war und<br />
von ihm 1969 engagiert wurde, bezieht<br />
zwar seit 2005 Rente,ist weiterhin<br />
aber fester Gast. In „Linie 1“ sieht<br />
man ihn also regelmäßig. Außerdem<br />
gehört erzum Ensemble des Kabarett-Stücks<br />
„Eine linke Geschichte“<br />
und von„Ab heute heißt du Sara“, im<br />
Februar 1989 uraufgeführt. Beide<br />
Stücke stehen im März wieder auf<br />
dem Spielplan.<br />
„Ab heute heißt du Sara“ ist dem<br />
Grips-Theater sehr wichtig. Es erzählt<br />
von Inge Deutschkron, die als<br />
jüdische junge Frau im Berlin der<br />
Nazizeit nur überleben konnte, weil<br />
der Bürstenmacher Otto Weidt sie in<br />
seiner Werkstatt beschäftigte. Dass<br />
ihre Geschichte mit diesem Grips-<br />
Stück einen sichtbaren Platz in Berlin<br />
bekommen hat, bewog Inge<br />
Deutschkron, die die Bundesrepublik<br />
Deutschland in den 50er-Jahren<br />
enttäuscht Richtung Israel verlassen<br />
hatte, wieder nach Berlin zu ziehen.<br />
DAVID BALTZER/BILDBÜHNE<br />
Vielleicht ist es sogar ein Grund dafür,<br />
dass der 79 Jahre alte Herr Lehmann<br />
immer noch auf der Bühne<br />
steht, singt und tanzt. Auf die Frage<br />
nach seiner Gesundheit nennt er zunächst<br />
die „guten ostpreußischen<br />
Gene“ –erist in Königsberggeboren,<br />
als er fünf Jahre alt war, floh die Familie<br />
nach Sachsen-Anhalt, später<br />
weiter nach Nordrhein-Westfalen –,<br />
und die Tatsache,dass er im Zuge der<br />
Proben zu „Ab heute heißt du Sara“<br />
das Rauchen aufgab. „Das ist so ein<br />
anspruchsvolles Stück“, sagt er,„das<br />
hätte ich nicht durchgehalten.“<br />
Was Dietrich Lehmann außerdem<br />
auszeichnet, ist ein bewundernswertes<br />
Zeitmanagement.<br />
Nicht nur nahm er wie die meisten<br />
Schauspieler der Theaterarbeit immer<br />
wieder Fernsehrollen an, sondern<br />
erleitet auch eine Schule. Und<br />
das kam so: Zusätzlich zum Studium<br />
von Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte<br />
und Germanistik an der<br />
FU absolvierte er von 1961 bis 1964<br />
eine Schauspielausbildung in der<br />
Schauspielschule „Der Kreis“. Diesem<br />
Haus,das heute Fritz-Kirchhoff-<br />
Schule heißt, blieb er zunächst als<br />
Lehrer für Szenenarbeit, Improvisation<br />
und Theatergeschichte erhalten,<br />
1981 übernahm er den Chefposten.<br />
So hängt es zusammen, dass die<br />
Premiere von „Maximilian Pfeiferling“,<br />
einem Stück von Carsten Krüger<br />
und Volker Ludwig, uraufgeführt<br />
am 5. 11. 1969 im Reichskabarett Berlin,<br />
am 5. 11.2019 zur Ehrung für<br />
Dietrich Lehmann zum 50-jährigen<br />
Bühnenjubiläum wird, obwohl er gar<br />
nicht mitspielt. Damals agierte er als<br />
strenger Hausbesitzer. Diesmal entstand<br />
die Inszenierung auf Lehmanns<br />
Wunsch als Koproduktion<br />
mit der Fritz-Kirchhoff-Schule.<br />
Der Jugend auf diese Weise eine<br />
Chance zu geben, ehrtihn selbst, der<br />
andersals viele Kollegen nie eine Kinder-Rolle<br />
gespielt hat. Er spielt nicht<br />
nur vornehmlich für Kinder und Jugendliche,wie<br />
am Grips üblich, er bildet<br />
Nachwuchs aus.Als Dietrich Lehmann<br />
zur Galavorstellung im Juni<br />
noch mal auf die Bühne kam, sang er<br />
den Song „Weniger ist mehr“. Er<br />
passt in unsereGegenwart, da Schüler<br />
ihreElterndarauf stoßen müssen,<br />
wie schlecht es ums Klima bestellt<br />
ist. „Noch mehr Autos um uns her/<br />
machen uns das Atmen schwer/<br />
Mehr Verschwendung, mehr Konsum/<br />
bringt woanders Menschen<br />
um“, heißt es im Lied.<br />
NACHRICHTEN<br />
Schlüsselübergabe der<br />
sanierten Staatsbibliothek<br />
Nach umfassender Sanierung und<br />
Modernisierung ist die <strong>Berliner</strong><br />
Staatsbibliothek Unter den Linden<br />
wieder bereit zur kompletten Nutzung<br />
(<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> vom2.11.).<br />
DieGeneraldirektorin der Staatsbibliothek,<br />
BarbaraSchneider-Kempf,<br />
übernahm am Montag symbolisch<br />
die Schlüsselgewalt für den renovierten<br />
Komplex vonder Präsidentin des<br />
bei den Arbeiten federführenden<br />
Bundesamtes für Bauwesen und<br />
Raumordnung, PetraWesseler.Kulturstaatsministerin<br />
Monika Grütters<br />
(CDU) sprach während eines Festaktesvon<br />
derStaatsbibliothek als Teil<br />
des „Gedächtnis unseres Landes“,<br />
das bewahrtwerden müsse.Die<br />
Staatsbibliothek ist die größte wissenschaftliche<br />
Universalbibliothek<br />
im deutschsprachigen Raum. (dpa)<br />
Schriftsteller Ernst Augustin<br />
92-jährig gestorben<br />
Wenige Tage nach seinem 92. Geburtstag<br />
ist der Autor Ernst Augustin<br />
am Sonntag in München gestorben.<br />
Dasteilte der Verlag C.H. Beck mit.<br />
Augustin war Mitglied der Deutschen<br />
Akademie für Sprache und Dichtung.<br />
Sein literarisches Schaffen war eng<br />
verbunden mit seiner Arbeit als Mediziner<br />
und Psychiater.Augustin<br />
wurde 1927 in HirschbergimRiesengebirge<br />
geboren und wuchs in<br />
Schwerin auf. Er war Assistenzarzt für<br />
Neurologie und Psychiatrie in Ost-<br />
Berlin, ehe er 1958 in denWesten floh.<br />
Sein Roman„Robinsons blaues<br />
Haus“ stand 2012 auf der Shortlist<br />
für den Deutschen Buchpreis. (dpa)<br />
Billie Eilish erhält MTV<br />
Europe Music Award<br />
Für ihren Hit„BadGuy“ ist Billie Eilish<br />
mit dem MTVEurope Music<br />
Awardausgezeichnet worden. Die<br />
17-jährige US-Sängerin wurde bei<br />
der Preisverleihung am Sonntag in<br />
Sevilla außerdem zur besten Newcomerin<br />
gekürt. Leer ging hingegen<br />
Ariana Grande aus –trotz sieben Nominierungen.<br />
DerPreis für das beste<br />
Musikvideo ging an Taylor Swift für<br />
ihr Video „ME!“. Als bester Künstler<br />
wurde der kanadische Popstar<br />
Shawn Mendes geehrt. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Meine Tiere<br />
Bilder<br />
von Kühen<br />
VonHilal Sezgin<br />
Im Oktober sendeten landwirtschaftliche<br />
Lobbyisten auf allen Kanälen. Es fing mit<br />
dem Streit um den neuen Werbespot für Katjes<br />
an. Für vegane Schokolade hatte Katjes<br />
einen Cartoon gedreht, in dem eine Armee<br />
aus grauen Kühen den Melkmaschinen entgegenstampft.<br />
Der Text dazu: „Jedes Leben<br />
ist wertvoll. Und Kühe sind keine Milchmaschinen,<br />
auch nicht für Schokolade.“<br />
Schön ausgedrückt, nicht wahr? DerBayerische<br />
Bauernverband allerdings reichte<br />
beim Deutschen Werberat Beschwerde ein:<br />
„In dem Fernsehspot werden Kühe als<br />
,Milchmaschinen’ bezeichnet ...“– (nein, gerade<br />
nicht!) –„... und wird Tierhaltern die<br />
Ausbeutung ihrer Kühe unterstellt. Das ist<br />
diskriminierend und ungerechtfertigt.“ Auch<br />
das Landvolk Diepholz hat sich an den Deutschen<br />
Werberat gewandt: „Es muss doch<br />
möglich sein, ein veganes Produkt zu bewerben,<br />
ohne Lügen über die Landwirtschaft zu<br />
verbreiten.“– Was genau ist die Lüge –ist<br />
etwa nicht jedes Leben wertvoll? Oder sind<br />
Kühe jetzt doch Milchmaschinen?<br />
Ob die Cartoon-Kühe „alle“ Bauern als<br />
„Ausbeuter“ dastehen lassen, darüber kann<br />
man geteilter Meinung sein. Zumindest<br />
wenn man noch nie einen Zeichentrickfilm<br />
gesehen hat. Aber wenn Werbespots erlaubt<br />
sind, in denen lilafarbene Kühe Milch geben<br />
und Plüschteddys Kaffeesahne aus einem Eimer<br />
umfüllen, müsste eine graue Cartoon-<br />
Kuhauch okay sein, oder? Dennoch hat sich<br />
der Deutsche Werberat so ins Bockshorn jagen<br />
lassen, dass er eine Stellungnahme von<br />
Katjes verlangte,denn:„Der Clip ist eine sehr<br />
einseitige und überzogene Visualisierung<br />
von Massentierhaltung.“ Ja, genau. Anders<br />
HENDRIK JONAS<br />
als andereWerbung, die unparteiisch ist und<br />
voller Sachinformationen steckt.<br />
Sogar Landwirtschaftsministerin Julia<br />
Klöckner –die ebenfalls für ihre große Unparteilichkeit<br />
und Sachlichkeit bei landwirtschaftlichen<br />
Themen bekannt ist –hat auf<br />
Facebook von einem „Landwirtschaftsbashing<br />
+plumpem Abwerten aller Milchbauern“<br />
gesprochen, das „nicht anständig“ sei.<br />
Klöckners neues „Agrarpaket“ wird bekanntlich<br />
von Natur- und Tierschützern für<br />
zu wenig Reformen –und vomGrosder Bauern<br />
für das exakte Gegenteil kritisiert. Wiederum<br />
empfanden Landwirte das ihnen zugefügte<br />
Leid als so stark, dass sie vehement<br />
gegen das Agrarpaket protestierten und mit<br />
Traktoren in diversen Städten Einzug hielten.<br />
In allen Branchenmedien und auf dazugehörigen<br />
Online-Foren wurden bejubelt, dass<br />
sich Bauern endlich dagegen zur Wehr setzten,<br />
als „Sündenböcke“, als „Tierquäler,Umweltvergifter<br />
oder Klimaschädiger“ abgestempelt<br />
zu werden.<br />
Am selben Abend zeigte das ARD-Magazin<br />
„ReportMainz“ heimlich gefilmtes Material<br />
aus zwei großen deutschen Schweineställen.<br />
Schweine,die verletzt waren und deren<br />
Mast bis zur Schlachtung sich ökonomisch<br />
nicht lohnte, wurden mit etlichen<br />
Schlägen zu Tode geprügelt. Man sah Tiere<br />
schwer verletzt über den Boden robben. Das<br />
waren Bilder, die hundertmal grausamer<br />
sind als jede Cartoon-Kuh-Armee. Und anders<br />
als jene: ganz real.<br />
Wieder habe ich auf allen mir bekannten<br />
Bauernverbands-Seiten und bei Klöckner<br />
auf Facebook vorbeigeschaut: kein Wort<br />
dazu. Dabei könnte es so einfach sein: Wer<br />
als Tierfreund gelten will, schlachtet, erschlägt,<br />
verstümmelt, unterwirft und knechtet<br />
keine Tiere. Dafür braucht man weder<br />
Werberat noch Pressesprecher.