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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 257 · D ienstag, 5. November 2019 – S eite 9 *<br />
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Berlin<br />
Gault&Millau kürt<br />
Günther Jauch zum<br />
„Gastronom des Jahres“<br />
Seite 15<br />
Umstrittener Mietendeckel: Neues Gutachten bringt keine Klarheit Seite 11<br />
Rechte Gewalt: Betroffene fordern Untersuchungsausschuss Seite 11<br />
Stadtbild<br />
Brumm<br />
und bumm<br />
Florian Thalmann<br />
entdeckte dank Fruchtfliegenseinen<br />
Jagdinstinkt.<br />
Die Menschen behaupten oft von<br />
mir,ich könne keiner Fliege was<br />
zuleide tun. Nunhabe ich gelernt: Es<br />
stimmt nicht. Gerade hatte ich Urlaub,<br />
eine Pause vom Redaktionsalltag,<br />
die ich nicht mit Reisen verbrachte,<br />
sondern auf der Couch,<br />
hauptsächlich in liegender Position.<br />
Ohne Auftrag, ohne Ziel. Doch dann<br />
sind sie plötzlich da: Fruchtfliegen.<br />
Am Anfang schenke ich ihnen kaum<br />
Beachtung, auch nicht mein Partner.<br />
Doch dann, als sich unser Blick<br />
schärft, sehen wir sie sitzen: an der<br />
Decke,mal allein, mal in Gruppen.<br />
Nun ist mein Vater im Forst tätig,<br />
sitzt auch auf dem Hochsitz –den<br />
Jagdinstinkt hat er an mich vererbt.<br />
Und: Ich bin Besitzer einer Elektro-<br />
Fliegenklatsche, das Schießgewehr<br />
des kleinen Mannes. Das Gerät sieht<br />
aus wie ein Tennisschläger, mit Metallstreben<br />
dort, wo sonst das Netz ist,<br />
und wirdmit Batterien betrieben. Am<br />
Griff ein Knopf. Er wird gedrückt, die<br />
Fliege anvisiert, gezielt, dann gibt es<br />
einen Knall –und das Insekt sinkt darnieder.<br />
Bevor jetzt Peta kommt: Mir<br />
tut es leid um jede einzelne Fliege.<br />
Die Jagdsaison ist dennoch eröffnet.<br />
Es knallt und zischt, weil Grüppchen<br />
an der Decke sitzen. Drei, vier,<br />
fünf auf einen Streich. Ich schwinge<br />
den Schläger wie Boris Becker in seinen<br />
besten Jahren. Spiel, Satz, Sieg.<br />
Am Ende, als keine Gegner mehr in<br />
Sicht sind, krieche<br />
ich über das<br />
Laminat und<br />
sammle die leblosen<br />
Körper ein,<br />
während ich im<br />
Kopf „’s ist Feierabend“<br />
summe.<br />
Hass-Objekt: Es bleibt die beinahe<br />
wissen-<br />
die Fruchtfliege.<br />
schaftliche Erkenntnis:<br />
Dicke Fliegen knallen leiser.<br />
Je kleiner das Insekt, desto bumm.<br />
Doch dann, ich komme voneinem<br />
Spaziergang, haben es sich neue Fliegen<br />
bequem gemacht. Ich jage, bekämpfe<br />
alle, entsorge sie, Stunden<br />
später sitzen neue da. Ichsuche nach<br />
Tipps gegen Fruchtfliegen und probiere<br />
Omas Klassiker: ein Tellerchen,<br />
eine Mischung aus Essig, Wasser,Saft<br />
und Spüli. DerTeller steht, die Fliegen<br />
scheinen darüber zu lachen. Am<br />
Ende ersäuft eine in der Mische, die<br />
anderen, die nur auf dem Rand landen,<br />
scheinen die Gefahr zu spüren.<br />
Es bleibt die einzige Lösung, der<br />
Plage auf den Grund zu gehen. Also<br />
wird jeder Schrank aus- und wieder<br />
eingeräumt. Mit Rohrreiniger puste<br />
ich die Abflüsse durch, dort nisten<br />
die Plagegeister gern, lese ich. Die<br />
Fliegen bleiben. Im letzten Schrank<br />
entdecke ich den Übeltäter: Eine<br />
Einkaufstüte mit vier Kartoffeln, irgendwann<br />
abgelegt, um sie aus dem<br />
Wegzuhaben. Ich atme durch. Entsorge<br />
sie. Und jage die letzten Fliegen<br />
mit dem Tennisschläger.<br />
Seitdem ist Ruhe, zum Glück.<br />
Nunja, fast. Eine Fliege gibt es noch,<br />
wir sehen sie manchmal, wenn wir<br />
vor dem Fernseher sitzen, galant<br />
durch unser Blickfeld schweben, als<br />
würde sie sich über uns lustig machen.<br />
Aber auch sie werden wir kriegen,<br />
mit dem Schläger, wenn sie am<br />
wenigsten damit rechnet. Vielleicht<br />
wird esdauern. Aber eine Sache haben<br />
wir mehr als Fliegen: Batterien.<br />
IMAGO<br />
Videoinstallation auf dem Alexanderplatz: Erscheinungen aus der alten Welt –Wojciech Jaruzelski, Michail Gorbatschow,Erich Honecker<br />
Nichts ist unendlich<br />
Berlins Regierender Bürgermeister Müller eröffnete die Gedenkwoche „30 Jahre friedliche Revolution“<br />
VonHarry Nutt<br />
Die Trambahnen der Linien<br />
M4, M5 und M6<br />
bahnten sich zischend<br />
und bimmelnd den Weg<br />
über den Alexanderplatz, wo am 4.<br />
November vor30Jahren kein Durchkommen<br />
war. Die stolzeWeltzeituhr<br />
war eine kleine Insel im Menschenmeer,<br />
viele Fotos einer Geschichtsausstellung<br />
auf Wandtafeln erinnern<br />
daran.<br />
Für die Eröffnung der <strong>Berliner</strong> Gedenkwoche<br />
zum 30. Jahrestag der<br />
friedlichen Revolution hätte es kein<br />
besseres Datum geben können. Auf<br />
der großen Demonstration auf dem<br />
Alexanderplatz entdeckte die Bevölkerung<br />
der Hauptstadt der DDR die<br />
demokratischen Kräfte, die in ihr<br />
wuchsen. Ein Passant vermag sich<br />
noch immer darüber empören, dass<br />
am nächsten Taginden <strong>Zeitung</strong>en lediglich<br />
von 30000 Teilnehmern die<br />
Rede war. Die <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> erschien<br />
allerdings mit der Schlagzeile<br />
„Hunderttausende demonstrierten<br />
im Zentrum Berlins“.Tatsächlich warenrund<br />
eine halbe Millionen Bürger<br />
gekommen, um Rednernwie Christa<br />
Wolf, Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer<br />
und anderen zuzuhören.<br />
Geschichte für den Heimweg<br />
Am Montagabend wollten kurz vor<br />
18 Uhrnur ein paar Hundert<strong>Berliner</strong><br />
dabei sein, als der Regierende Bürgermeister<br />
Michael Müller (SPD) das<br />
Startsignal für eine große Videoinstallation<br />
gab, inder Szenen der Demonstration,<br />
aber auch derenVorgeschichte,etwa<br />
O-Ton-Einspielungen<br />
zu den Wahlfälschungen zur Volkskammerwahl<br />
im Mai1989, zu einem<br />
Potpourri zusammengeschnitten<br />
worden waren. Geschichtslektionen<br />
für den Nachhauseweg, einige Passanten<br />
blieben kurz mit dem Fahrrad<br />
stehen, andere rannten der einfahrenden<br />
Tram hinterher.<br />
Unter den Besuchern, die gezielt<br />
zur Eröffnung gekommen waren, befand<br />
sich Wolfgang Thierse.Trotz der<br />
Dunkelheit wurde der frühere Präsident<br />
des Bundestags natürlich erkannt.<br />
„Waren Sievor 30 Jahren auch<br />
Das Theaterkombinat Panzerkreuzer Rotkäppchen spielt auf.<br />
Michael Müller eröffnet knapp und unprätentiös die Gedenkwoche. DPA/PAUL ZINKEN (2)<br />
hier?“ fragte jemand höflich. Thierse<br />
nickte und zeigte stumm auf den Ort,<br />
an dem er sich damals am 4. November<br />
postiert hatte. „Wir waren auch<br />
hier“, so der Fragende.„Genau hier.“<br />
Vielleicht hat Michael Müller es<br />
sich genau so vorgestellt. In einer<br />
kurzen, angenehm unprätentiösen<br />
Rede erläuterte er das Konzept der<br />
Gedenkwoche,inder es darum gehe,<br />
das historische Ereignis der friedlichen<br />
Revolution erlebbar zu machen.<br />
Man wolle ausdrücklich würdigen,<br />
dass es kein Blutvergießen<br />
gab.„Es war danach nicht immer ein<br />
glatter Weg“, sagte Müller. „Aber es<br />
ist etwas gelungen.“<br />
Müllers Understatement wurde<br />
dankbar angenommen. Bereits vor<br />
Veranstaltungsbeginn kam es vor<br />
den Schautafeln, die Überschriften<br />
trugen wie „Auf die Straße“, „Massen<br />
für Veränderung“ und „Die Reaktion“<br />
zu angeregten Diskussionen<br />
über historische Details oder einem<br />
großen: „Was wäre gewesen, wenn<br />
...?“ Eine Mutter erklärte ihrer Tochter<br />
das Foto einer Frau, die weint. Es<br />
ist ein Schnappschuss in das Fenster<br />
eines Zuges, der Familien aus der<br />
Prager Botschaft mit dem Umweg<br />
über die DDR in den Westen beförderte.„Manchmal<br />
gibt es das“, sagte<br />
die Mutter,„dass Menschen weinen,<br />
obwohl sie glücklich sind.“<br />
Solche Regungen gab es am Montag<br />
auf dem Alexanderplatz nicht zu<br />
beobachten. Die assoziativ-kunstvolle<br />
Videoinstallation will zu historischem<br />
Interesse anregen. Mehr als<br />
die Vermittlung geschichtlicher<br />
Ereignisse sollen sie der Auslöser<br />
sein für weiterführende Auseinandersetzungen.<br />
Die Bilder flirren um<br />
die Hausfassaden reihum, aber sie<br />
werden auch jäh unterbrochen an<br />
der hell erleuchteten Weihnachtswerbung<br />
vonGaleria Kaufhof.<br />
Als die warmen Worte zur Gebrauchsanweisung<br />
verklungen waren,<br />
wurde noch ein künstlerisches<br />
Dessert feilgeboten. Das Theaterkombinat<br />
Panzerkreuzer Rotkäppchen<br />
musste sich per Megafon zunächst<br />
einmal den Spielplatz für Performance<br />
und Tanz freikämpfen. Auf<br />
der Bühne erklang eine elegisch verlangsamte<br />
Live-Version des großen<br />
Karussell-Hits „Als ich fortging“.<br />
„Nichts ist unendlich“ heißt es darin,<br />
und so schön gesungen nahm es<br />
umgehend die pathetische Botschaft<br />
der historischen Augenblicke an, auf<br />
die in den nächsten Tagen in rund<br />
200 Veranstaltungen und an sieben<br />
Open-Air-Schauplätzen in der Stadt<br />
angespielt werden soll.<br />
Emotrouble Ost<br />
GETTY/CARSTEN KOALL<br />
Auf dem Rückweg in die Redaktion<br />
führte der kurze Fußweg am Roten<br />
Rathaus und dem wuchtig aufragenden<br />
Humboldt-Forum vorbei. Auf<br />
dessen Ostfassade wurden zu Musik<br />
ebenfalls Filmausschnitte,Fotos und<br />
Transparente projiziert. Immer wieder<br />
waren dabei –von außen und<br />
voninnen –Bilder vomPalast der Republik<br />
zu sehen. Klar,auf den musste<br />
hier am historischen Ort unweigerlich<br />
verwiesen werden. In der Anmutung<br />
der künstlerischen Spielerei<br />
wirkte es aber zugleich auch wie eine<br />
verspätete und vorallem vergebliche<br />
Korrektur des politisch durchgesetzten<br />
Abrisses.<br />
DasTheaterkombinat hatte zu seiner<br />
Vorführung ein großes Transparent<br />
mit dem Schriftzug „Emotrouble<br />
Ost“ aufgehängt. „Erinnern, wiederholen,<br />
durcharbeiten“ könnte die zurückhaltend-eindringliche<br />
Regieanweisung<br />
für diese Gedenkwoche in<br />
politisch umtosten Zeiten sein. Wem<br />
nicht danach ist, nimmt die Tram.<br />
NACHRICHTEN<br />
Bis Donnerstag werden<br />
Autokennzeichen gescannt<br />
DieKfz-Kennzeichen vonAutofahrern<br />
sollen in den kommenden Tagen<br />
an zehn ausgewählten Straßenabschnitten<br />
per Videokameraerfasst<br />
werden. DasZiel ist es,vor den kommenden<br />
streckenbezogenen Dieseldurchfahrtverboten<br />
zu ermitteln,<br />
welche Fahrzeuge unterwegs sind.<br />
Einbesonderes Augenmerkliegt auf<br />
der Bestimmung desAnteils saubererDieselfahrzeuge,<br />
teilte die Senatsverwaltung<br />
fürVerkehr am Montag<br />
mit. DieKennzeichen sollen vom<br />
5. bis 7. November im Auftrag der Senatsverwaltung<br />
erfasst werden. Die<br />
Videokameras registrieren der Senatsverwaltung<br />
zufolge nur das<br />
Kennzeichen, kein Bild des Fahrzeugsoderder<br />
Insassen.Die Daten<br />
gingen ohne Ortsangaben an die Zulassungsbehörde,Halterdaten<br />
würden<br />
nicht abgefragt. (dpa)<br />
Die meisten <strong>Berliner</strong> Taxis<br />
am BER chancenlos<br />
Fluggäste am neuen Hauptstadtflughafen<br />
BER werden voraussichtlich<br />
vorallem in Taxis mit LDS-Kennzeichen<br />
einsteigen. DerLandkreis<br />
Dahme-Spreewald (LDS) wolle <strong>Berliner</strong><br />
Taxen dortnur zulassen, wenn<br />
der Bedarfnicht mit eigenen Taxen<br />
gedeckt werden kann, teilte die Senatsverkehrsverwaltung<br />
mit. „Für<br />
eine Zulassung sämtlicher 8000 <strong>Berliner</strong><br />
Taxen sieht der Landkreis keinen<br />
Raum“, antwortete Staatssekretär<br />
Ingmar Streese auf eine Anfrage<br />
der Linken im Abgeordnetenhaus.<br />
Streese hat im Oktober mit Landrat<br />
Stephan Loge verhandelt. DieKreisverwaltung<br />
geht demnach davon<br />
aus,dass wegen der guten Bahnund<br />
Busanbindung des Flughafens<br />
1000 TaxenamBER reichen. (dpa)<br />
Bürgermeister planen Treff<br />
an früherem Grenzübergang<br />
DieBürgermeister aus Pankowund<br />
Mitte treffen sich am 30. Jahrestag des<br />
Mauerfalls am früheren Grenzübergang<br />
an der Bornholmer Straße.Die<br />
symbolische Begegnung der beiden<br />
Vertreterder Bezirke östlich und<br />
westlich der ehemaligen Grenze ist<br />
für 21 Uhrander Bösebrücke geplant,<br />
teilte Mittes Bezirksbürgermeister<br />
Stephanvon Dassel mit. Er hat sich<br />
dortmit seinem PankowerKollegen<br />
Sören Benn verabredet. (dpa)<br />
Schießstandaffäre: Ein<br />
Polizist verklagt das Land<br />
EinPolizist im Ruhestand will vor<br />
Gericht erreichen, dass eine Schwermetallvergiftung<br />
als Berufskrankheit<br />
anerkannt wird. DerProzess gegen<br />
das Land Berlin wirdamnächsten<br />
Montag das Verwaltungsgericht in<br />
der Hauptstadt beschäftigen, teilte<br />
ein Sprecher am Montag mit. Der<br />
54-Jährige argumentiertlaut Gericht,<br />
er habe sich die Vergiftung<br />
durch seine Tätigkeit auf unzureichend<br />
belüfteten Schießständen der<br />
<strong>Berliner</strong> Polizei zugezogen. DieParteien<br />
streiten nach Gerichtsangaben<br />
um einen Zusammenhang zwischen<br />
der Schadstoffbelastung und der Erkrankung<br />
des Klägers.Voraussichtlich<br />
werdesich auch die Frage stellen,<br />
ob der Beamte,der die Krankheit<br />
erst 2016 angezeigt hat, gesetzliche<br />
Meldefristen versäumt habe.Erwar<br />
laut Angaben bereits seit 2003 durchgängig<br />
dienstunfähig erkrankt. (dpa)