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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 257 · D ienstag, 5. November 2019 3 *<br />
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Seite 3<br />
Roberto und ich hatten nur zwei Mal<br />
Kontakt, und das auch nur per<br />
Mail. Und doch verbindet uns etwas.<br />
Ein Schatten, für den wir<br />
nichts können.<br />
Ichhatte Roberto Yanezgeschrieben, weil<br />
die Redaktion sich fragte,wie wohl der Enkel<br />
von Erich Honecker, der seit 30 Jahren in<br />
Chile lebt, heute auf den Mauerfall und auf<br />
seinen Opablickt. Ichselbst wollte eher wissen,<br />
ob er die neue Ost-West-Debatte verfolgt<br />
und wie er sieht, was seit der Flucht seiner<br />
Familie 1990 aus jenem Landstrich<br />
wurde, indem einst in jeder Schule das Porträt<br />
seines Großvaters hing.<br />
Wasaus Roberto selbst geworden ist, hat<br />
er in Interviews,einem Dokumentarfilm und<br />
einem Buch erzählt. Es erschien nach dem<br />
Todseiner OmaMargot, den er darin seinen<br />
persönlichen Mauerfall nennt. Daher wusste<br />
ich, dass ich zwar zur gleichen Generation<br />
gehörewie er,der Sohn der Honecker-Tochter<br />
Sonja und des Exil-Chilenen Leo Yanez:<br />
Wir sind beide Mitte der Siebziger in der<br />
DDR geboren worden, er in der Hauptstadt,<br />
ich wie seine Großmutter in Halle/Saale.Ich<br />
ahnte,dass sich unsereLeben vordem Mauerfall<br />
ähnlicher waren als danach. Obwohl<br />
meine Eltern weder privilegiert noch Honecker-Fans<br />
waren, im Gegenteil. Aber der<br />
Schnitt von 1989, der im Osten auch die für<br />
immer prägt, die noch Kinder waren, hat<br />
mich beflügelt –und Roberto traumatisiert.<br />
Mit 15endete über Nacht sein Leben als<br />
Lieblingsenkel des Staatschefs, wurde der<br />
Opa von der Respekts- zur Unperson, von<br />
der eigenen Partei aus dem Häuschen geworfen,<br />
auf der Flucht vor wütenden DDR-<br />
Bürgern. Honecker an den Galgen, stand auf<br />
Plakaten. Robertos Eltern gingen mit ihm<br />
und der kleinen Schwester in die Heimat des<br />
Vaters,woRoberto nicht zurechtkam, die Eltern<br />
sich trennten, Opa Erich nach einer<br />
Odyssee todkrank ankam, starb. Roberto<br />
rutschte in Drogensucht und Depression. Es<br />
dauerte lange, bis er aus der Krise fand, die<br />
1989 für ihn begann.<br />
Seine Antwort auf meine E-Mail kam<br />
trotzdem schnell und war sehr freundlich.<br />
Über uns als Vertreter derselben DDR-Generation<br />
zu sprechen, „ist natürlich interessant“,<br />
schreibt er, sieben Tage nach seinem<br />
45. Geburtstag. „Prinzipiell aber mache ich<br />
Interviews nur gegen Bezahlung, denn –das<br />
wissen Siebestimmt –wir leben im Kapitalismus.<br />
Niemand kann es sich leisten, etwas<br />
kostenlos zu tun, ich auch nicht.“<br />
DerOpa schenkt Westspielzeug<br />
Ichkenne diesen halb sarkastischen, halb resignierten<br />
Ton, den Subtext, dass heute auch<br />
nicht alles Gold ist, sehr gut. Aus meiner<br />
sächsischen Heimat. Aber nicht von meiner<br />
Generation, sondernvon der unserer Eltern.<br />
Sie erkämpften vor 30Jahren die Wende, sie<br />
spürten damals Hass auf Honecker, der für<br />
uns Jüngere nur noch ein allgegenwärtiger<br />
Opi war, dem die Stimme wegkippte, wenn<br />
er mal wieder dasselbe faselte.<br />
Kapitalismus war sein Wort, sein Dauerfeindbild.<br />
Nun verwenden es unsere Eltern,<br />
wenn sie über ihreEnttäuschungen mit dem<br />
Westen sprechen, über die Schwächen des<br />
Sozialstaats, über die hohen moralischen<br />
Ansprüche des Westens,andenen er ständig<br />
selbst scheitert.<br />
Anfang der Neunziger, als Roberto längst<br />
in Chile lebt und sein Großvater in Berlin wegen<br />
der Mauertoten vorGericht steht, sagten<br />
die Erwachsenen uns Wendekindern: Ihr<br />
werdet die Einheit vollenden. Wenn erst unsere<br />
Generation die Verantwortung trage,<br />
würde niemand mehr entlang einer innerdeutschen<br />
Grenzedenken.<br />
Heute blickt der Westen verständnisloser<br />
denn je auf die Wahlergebnisse,den Krawall,<br />
die Ansichten im Osten. Wir 2,5 Millionen,<br />
die zwischen Mitte der Siebziger und Mitte<br />
der Achtziger in der DDR geboren sind, sind<br />
nicht zur ersten gesamtdeutschen, sondern<br />
zur „Dritten Generation Ost“ geworden: in<br />
der DDR nur Kinder, heute trotzdem nicht<br />
assimiliert. Erichs Enkel. Wiekann das sein?<br />
Als Roberto Yanez Betancourt 1974 zur<br />
Welt kommt, ist Oma Margot seit elf Jahren<br />
Bildungsministerin, Opa Erich seit drei JahrenParteichef,<br />
zwei Jahrespäter wirderauch<br />
Staatsratsvorsitzender.Roberto wächst in einer<br />
der begehrten Neubauwohnungen in<br />
Berlins Mitte auf, bekommt vom Opa Westspielzeug,<br />
am Wochenende fährt ihn ein<br />
Chauffeur nach Wandlitz, wo 600 Angestellte<br />
die Waldsiedlung der SED-Kader in Gang<br />
halten. Roberto begleitet Opa zur Jagd,<br />
raucht mit den Personenschützern, spürtim<br />
Schulalltag Omas schützende Hand.<br />
Aber er geht zur Polytechnischen Oberschule<br />
wie wir alle, Privatschulen gibt es<br />
nicht in der DDR.<br />
Unser Schulalltag unterschied sich nicht<br />
vom Westen, mit Kindergeburtstagen und<br />
Pausenbroten, Strebern und Rowdies und<br />
Löcherninden Jeans.Nur,dass es auch Fahnenappell<br />
gab und ich, als meine Eltern die<br />
Roberto Yanez, Sohn der Honecker-Tochter Sonja und des Exil-Chilenen Leo Yanez<br />
Erich Honeckers echter Enkel Roberto Yanez, 1974 geboren,<br />
floh 1990 nach Chile. Und tat sich lange schwer mit dem Leben.<br />
Die Gleichaltrigen, die wie er in der DDR aufwuchsen<br />
und –anders als er –inDeutschland geblieben sind,<br />
kamen nicht so einfach im Westen an wie gedacht<br />
Nase von „diesem Staat“ längst voll hatten,<br />
zum Republikgeburtstag in Pionieruniform<br />
Ehrenwache voreinem Parteidenkmal in der<br />
Innenstadt stand.<br />
Über die Pioniernachmittage schrieb ich<br />
als stellvertretender Gruppenratsvorsitzender<br />
Rechenschaftsberichte, indenen ich sicher<br />
auch mal Honecker zitierte. Daheim<br />
hörten wir Stones und Lindenbergund wurden<br />
darauf eingeschworen, in der Schule<br />
nicht zu erzählen, dass wir fast nurWestfernsehen<br />
gucken.<br />
VordemWehrkundeunterricht ab Klasse 9<br />
(den Margot Honecker einst eingeführt<br />
hatte) und der Pflichtzeit bei der Nationalen<br />
Volksarmee fürchtete ich mich –aber nur,<br />
weil ich unsportlich war.<br />
Ehe es für mich ernst wurde,war alles vorbei.<br />
Mein Vater ging heimlich zu den Montagsdemos<br />
in Leipzig, meine Mutter zu Diskussionsveranstaltungen,<br />
dann entfiel<br />
meine Popsendung im ZDF für Sondersendungen<br />
zum Mauerfall. Da war ich knapp 13.<br />
Der Westen brach über alle Familien,<br />
Freundschaften, auch über uns Pubertierende<br />
herein wie ein Tsunami. Als sich das<br />
WirEnkel<br />
Roberto Yanez mit seinem Großvater<br />
VonSteven Geyer<br />
PRIVATARCHIV<br />
Wasser wieder senkte, gab es Gewinner und<br />
Verlierer, wobei die Verlierer fast alle in Ostdeutschland<br />
lebten. Und wenn man im Osten<br />
Gewinner und jung genug war,sowie ich,<br />
dann blieb man nicht mehr lange da. Der<br />
Aufbruch der Jugend war halb Flucht vor<br />
dem Mangel an Möglichkeiten, halb die Verlockung<br />
der Freiheit, der wir westwärts folgten<br />
–oft weit über Westdeutschland hinaus.<br />
Roberto spürt 1990 in Chile keine neue<br />
Freiheit. Er geht zur deutschen Schule, ist<br />
aber überlastet mit der fremden Welt, der<br />
zerrütteten Familie, der Belagerung durch<br />
die Medien, dem gnadenlosen Umgang mit<br />
dem Opa. Honecker erliegt 1994 dem Krebs.<br />
Roberto überwirft sich mit der Mutter,dafür<br />
zieht er bald zu OmaMargot, damals Anfang<br />
70. Für uns DDR-Kinder war sie „der lila Drache“<br />
(wegen des Violettstichs im weißen<br />
Haar), für Roberto bietet sie ein Zuhause.<br />
Das Kommando hatte sie schon geführt, als<br />
Opanoch Staatschef war.<br />
In der WG mit „Robi“ gelten preußische<br />
Disziplin und sozialistische Ideologie, doch<br />
dem Gestrauchelten gibt das Halt. Undwährend<br />
Oma Kontakte zu Altkommunisten aus<br />
DPA/JÖRG CARSTENSEN<br />
allerWelt pflegt, Kuba besucht und die Dankbarkeit<br />
Tausender Chilenen genießt, die<br />
einst vor der Militärdiktatur in der DDR untergeschlüpft<br />
waren, bricht nun auch Roberto<br />
auf: in Poesie und Kunst. Sein Ausweg<br />
ist der Surrealismus.<br />
Äußerlich erinnert nichts an ihm an den<br />
Großvater. Erist groß, stämmig, sein Haar<br />
schütter und lang, er trägt Bart und Latino-<br />
Hippie-Klamotten. Offen kritisiert er bald<br />
Selbstgerechtigkeit und Dogmatismus der<br />
Großeltern. 1999 erscheint sein erster Gedichtband.<br />
Seit 2002 lebt er von der Kunst,<br />
eher schlecht als recht. Seit 2004 ist er clean.<br />
2013 stellt er seine Bilder in Berlin aus,betritt<br />
erstmals „großdeutschen“ Boden, wie Oma<br />
sagt. 2016 stirbt Margot Honecker.<br />
„Sie war leider niemals in der Lage, ihre<br />
revolutionäre Gesinnung mit Selbstkritik zu<br />
verbinden“, sagt er später. Solange sie lebte,<br />
war er deshalb „von der DDR eingefangen:<br />
ihr letzter Bürger“.<br />
Ichbin da nicht so sicher.Esstimmt zwar:<br />
Als ich zum vorigen Mauerfalljubiläum in dieser<br />
<strong>Zeitung</strong> über uns Wendekinder schrieb,<br />
war auch ich sicher,dass es das letzte Malist.<br />
30 Jahre nach dem Mauerfall würde die<br />
Mauer ja länger weg sein, als sie überhaupt<br />
stand. Auch ich glaubte,wir könnten die Einheit<br />
vollenden. Für mich hieß das da allerdings<br />
längst nicht mehr, dass wir Ostler einfach<br />
genauso werden, wie es die Westler<br />
schon immer waren. „Zusammenwachsen“<br />
würde bedeuten, dass auch wir den Westen<br />
verändern. Etwas einzubringen hätten.<br />
Gleichberechtigung der Frau, flächendeckende<br />
Kitas, Polikliniken, längeres gemeinsames<br />
Lernen, Brücke nach Osteuropa.<br />
Wir hatten inzwischen das nötige Selbstbewusstsein.Wirwaren<br />
imWesten wie im Osten<br />
zuHause, hatten einen fundamentalen<br />
Umbruch gemeistert, dann Auslands- und<br />
Praktikumsstationen. Ich habe inFrankfurt<br />
am Main und in Ohio gelebt, in Südafrika und<br />
Washington gearbeitet und fühle mich doch<br />
als Ostler. Das sei folglich keine Schwäche<br />
mehr,„nur weil wirvon derWestnormabweichen“,<br />
endete mein Text damals.Und: „Wenn<br />
das mit den eingetretenen Wegen nicht vereinbar<br />
ist, bitteschön. Es wäre nichtdas erste<br />
Mal, dass wiruns eigene suchen.“ Es war optimistisch<br />
gemeint, konstruktiv. Eswar mein<br />
Traum vonDeutschland.<br />
Er endete mit Pegida und AfD,mit Heidenau<br />
und Höcke, mit Chemnitz und den Statistiken,<br />
wonach Ossis nicht mal im Osten<br />
eine nennenswerte Zahl an Spitzenpositionen<br />
besetzen. Was die „dritte Generation<br />
Ost“ einbringen wollte,hatte sich im Westen<br />
schnell versendet. Wir hatten übersehen,<br />
dass wir hochqualifizierten und weltoffenen<br />
Ossis zwar erfolgreich waren – aber anderswo.<br />
Wenn wir zuWeihnachten heimkehrten,<br />
erwartete uns nicht unsere unter einer Zeitglocke<br />
konservierte Kindheit, vonder unsere<br />
Altersgenossen aus Schwaben, Bayern und<br />
Westfalen schwärmten. Unsere Heimat, das<br />
waren plötzlich die Städte und Dörfer in völlig<br />
neuem Glanz. Aber auch menschenleere<br />
Innenstädte; ein schleichender Niedergang,<br />
für den die Schließung der großen Fabriken<br />
alserste Mauerfall-Folge nur der Anfang war;<br />
die mal lauten und mal unausgesprochenen<br />
Klagen der Eltern, dass davon im Fernsehen<br />
wenig die Rede war. Es war Westfernsehen<br />
geblieben.<br />
Im Gutenwie im Schlechten<br />
WirWeihnachtsbesucher sind wie glückliche<br />
Versionen vonRobertoYanez:Wirhaben den<br />
Osten hinter uns gelassen und da vor allem<br />
jene,die den abschätzigenBlick des Westens<br />
und dasschlecht nachgeäffte Sächsisch bald<br />
nicht mehr weglächeln mochten; und auch<br />
die, die als Jugendliche in den wilden NeunzigernOrientierung<br />
am rechten Rand gefunden<br />
hatten. Ich hatte mich nie gefragt, was<br />
aus ihnen geworden war, seit sie erwachsen<br />
und selbst Elternsind.<br />
Nun wissen wir es. Die Ossis gehen tatsächlich<br />
eigene Wege.Ich hatte nurnicht geahnt,<br />
wie sehr der Frust dabei die Richtung<br />
weisen würde.<br />
Werdas immer noch mit Erichs Erbe erklären<br />
will, wurde gerade vonder größten Jugendstudie<br />
des Landes widerlegt: Sie ergab,<br />
dass auch die 12- bis 25-Jährigen imOsten<br />
ganz anders ticken als im Westen, imGuten<br />
wie imSchlechten. Ich habe die Studie gerade<br />
in mein Regal gestellt, zwischen DutzendeBücher<br />
über Mauerfall,Einheitsprobleme<br />
und, ja, auch über die DDR. Die„Letzten<br />
Aufzeichnungen“, die Erich Honecker<br />
1992 im Knast in Moabit niedergeschrieben<br />
hatte,fandich 2012 so spannend, dass ich sie<br />
sofort gekauft und gelesen habe. ImUrlaub.<br />
Im Ernst. Wann mich die DDR und ihr Personal<br />
samt Nachfahren wohl nicht mehr interessiert?<br />
Nach 40 Jahren Mauerfall? Einem<br />
halben Jahrhundert?<br />
In meiner zweiten Mail an ihn habe ich<br />
Roberto Yanez gefragt, ob er noch über die<br />
DDR nachdenkt oder spricht, drüben in<br />
Chile.Auch weil ichvermute,dassesvielseltener<br />
ist als bei mir.Das dürfte stimmen, sagt<br />
mancher,der noch sporadischen Kontakt zu<br />
ihm hat.<br />
Yanezselbstschrieb in seiner letzten Mail<br />
nichts dazu. „Einige meiner Beiträge erhalten<br />
hohe Einschaltquoten, die Medien verdienen<br />
damit“, antwortete er nur auf meinen<br />
Hinweis, dass wir Interviewpartner nie bezahlen.<br />
„Warum sollte ich ohne einen Euro<br />
nach Hause kommen? Ist das nicht ein klassisches<br />
Ausbeutungsschema?“<br />
Heute lädt er auf YouTube Videos hoch, in<br />
denen er zur Gitarre eigene Lieder vorträgt.<br />
„Ein alter Vogel hat schwere Augen. Er weiß<br />
zu viel“, singt er in einem der melancholischen<br />
Stücke. „Es wird genossen, dass er<br />
nicht hier ist. Er istweit weg.“<br />
Egal, wen Roberto damit meint: Weit genug<br />
ist er wohl noch nicht weg.<br />
Steven Geyer hat schon mit vielen<br />
über den Mauerfall gesprochen, aber<br />
nie mit einem der Honeckers.