altlandkreis - das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel, Ausgabe März/April 2020
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Leben wie im Jahre 1558<br />
„Man muss sich halt<br />
warm anziehen“<br />
Wessobrunn | Es war Liebe auf<br />
<strong>den</strong> ersten Blick. Eine schicksalhafte<br />
Begegnung, an die sich Brigitte<br />
Mitschke noch heute genau<br />
erinnert. Vor bald 60 Jahren fand<br />
die damals 30-jährige Gymnastiklehrerin<br />
und Masseurin mit ihrem<br />
Mann Wilhelm zusammen<br />
ihr Traumhaus. Dem damaligen<br />
Zeitgeist entsprach ihr Traum aber<br />
nicht. In <strong>den</strong> 1960er Jahren wollten<br />
fast alle „modern“ bauen. Es begann<br />
die Zeit, in der alte Bausubstanz<br />
ersetzt wurde. Bausubstanz,<br />
die über Jahrhunderte weitgehend<br />
unverändert Lebensraum von Generationen<br />
gewesen war und die<br />
Dörfer geprägt hatte. Ersetzt durch<br />
Standardbauten, die sich kaum<br />
mehr unterschie<strong>den</strong> von <strong>den</strong>en in<br />
anderen Regionen. „Zeitgemäße“<br />
Wohnräume mit Normmaßen, deren<br />
Einhaltung die Baubehör<strong>den</strong><br />
überwachten. Mit höheren Deckenhöhen.<br />
Mit Türen, bei <strong>den</strong>en man<br />
nicht <strong>den</strong> Kopf einziehen musste.<br />
Mit großen Fenstern, viel Licht.<br />
Mit Annehmlichkeiten durch neue<br />
Wasser- und Strominstallation. Mit<br />
angenehmer Wärme in allen Räumen.<br />
Mit Beton statt Holz aus <strong>den</strong><br />
umliegen<strong>den</strong> Wäldern. Mit soli<strong>den</strong><br />
Fundamenten und großen Kellerräumen.<br />
Das „alte Glump“ hatte<br />
<strong>für</strong> die meisten keinen Wert mehr.<br />
Wer es sich leisten konnte, riss ab<br />
oder baute um.<br />
Die Mitschkes hatten einen völlig<br />
anderen Traum. Sie suchten 1960<br />
genau <strong>das</strong>, was andere verschmähten:<br />
ein altes Haus. Eines mit Charakter.<br />
Dem man seine Geschichte<br />
ruhig ansehen durfte. So schauten<br />
Wohlfühl-Umgebung seit bald 60 Jahren: Jh die heute 89-jährige Brigitte<br />
i<br />
Mitschke in ihrer historischen Stube mit Kassettendecke.<br />
sie sich am zweiten Advent 1960<br />
auch in der Gemeinde Haid um,<br />
heute Ortsteil von Wessobrunn. Ihr<br />
Spaziergang über die damals nur<br />
aufgekieste und schlaglochreiche<br />
Hauptstraße führte sie an der – an<br />
sich unscheinbaren – Stallseite eines<br />
Bauernhauses vorbei, <strong>das</strong> sie<br />
irgendwie anzog. Die Mistlege war<br />
fast leer, es scharrten nur einzelne<br />
Hühner herum, bemerkte Wilhelm<br />
Mitschke. War <strong>das</strong> Haus aufgelassen,<br />
unbewohnt? Ihrem Gefühl<br />
folgend, gingen sie um <strong>das</strong> Haus<br />
herum.<br />
Das älteste<br />
Haus Haids<br />
Auf der Wohnhausseite die erste<br />
Überraschung: Eine Hauswand aus<br />
Baumstämmen – ein offensichtlich<br />
uralter Blockbau aus Rundhölzern.<br />
Sie stan<strong>den</strong> vor dem ältesten<br />
noch erhaltenen Haus des Dorfs,<br />
Hausname „beim Brender“. Die<br />
Rundhölzer stammen, wie spätere<br />
Untersuchungen belegen, aus<br />
dem Jahr 1558. Die zweite Überraschung:<br />
Das Haus war doch bewohnt.<br />
Aber der Eigentümer, der<br />
„Brender Ferdl“, sagte gastfreundlich<br />
zu ihnen: „Wenn sie sich <strong>für</strong><br />
sowas interessieren, müssen sie<br />
schon reinkommen. Hier gibt es<br />
Sachen, die sie sonst nirgends zu<br />
sehen bekommen.“ Da hatte er<br />
Recht. Als er sie durch die niedrige<br />
Tür in die kleine Stube auf der<br />
Südseite führte, waren die Mitschkes<br />
sofort fasziniert. Eine alte, gut<br />
erhaltene Kassettendecke aus Holz.<br />
Alte, kleine Fenster mit Scheiben<br />
aus mundgeblasenem Glas. Ein<br />
Raum mit besonderer Atmosphäre.<br />
Auch wenn man ihm und dem<br />
36 | <strong>altlandkreis</strong>