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Das Internet im pädagogischen Diskurs - Mediaculture online

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Autor: Düx, Sascha.<br />

Titel: <strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>.<br />

http://www.mediaculture-<strong>online</strong>.de<br />

Quelle: Sascha Düx: <strong>Internet</strong>, Gesellschaft und Pädagogik. Computernetze als<br />

Herausforderung für Jugendarbeit und Schule. München 2000. S. 179-281.<br />

Verlag: kopaed verlagsgmbh.<br />

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.<br />

Sascha Düx<br />

<strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

„Es ist für eine<br />

zukunftsweisende Pädagogik<br />

zu wenig, Prophylaxe und<br />

Didaktik zu betreiben. Wo die<br />

Emanzipation der<br />

Heranwachsenden <strong>im</strong><br />

Mittelpunkt steht, die<br />

Entwicklung ihrer Fähigkeit, die<br />

Welt zu begreifen und sozial<br />

verantwortlich mitzugestalten,<br />

da muß sich Erziehung mit<br />

einer neuen, vielschichtigen<br />

und allumfassenden<br />

Entwicklung in all ihrer<br />

Komplexität<br />

auseinandersetzen“<br />

(BERND SCHORB 1 )<br />

4.1. <strong>Internet</strong> als Risiko .................................................................................................................................................6<br />

4.1.1. Problematisierung von Netzinhalten ........................................................................................................7<br />

4.1.2. Problematisierung des <strong>Internet</strong> als Medium .........................................................................................25<br />

4.1.3. Problematisierung komplexer Auswirkungen des <strong>Internet</strong> ............................................................39<br />

4.2. <strong>Internet</strong> als Chance ............................................................................................................................................54<br />

4.2.1. <strong>Internet</strong> als didaktisches Medium ...........................................................................................................55<br />

4.2.2. Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong> .............................................................................................................73<br />

4.2.3. <strong>Internet</strong> in der Jugendarbeit ......................................................................................................................96<br />

1 SCHORB 1995b, S. 24f.<br />

1


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Spätestens Mitte der 90er Jahre scheint das <strong>Internet</strong> auch die Fachdiskurse der<br />

deutschsprachigen Pädagogik erreicht zu haben: 1995 - die Diskussion um Mult<strong>im</strong>edia<br />

und Lernen ist auf ihrem Höhepunkt 2 - findet auf Anregung des Bundesministeriums für<br />

Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Fachtagung „Jugend auf der Datenautobahn“ in<br />

Bonn Statt 3 ; 1996 startet die Initiative ‘Schulen ans Netz’ des Bundesministeriums für<br />

Bildung und Forschung in Kooperation mit der Deutschen Telekom mit großer medialer<br />

Resonanz und dem Ziel, möglichst schnell 10.000 Schulen ans <strong>Internet</strong> anzuschließen 4 ;<br />

1997 erscheint mit FASCHINGS „<strong>Internet</strong> und Pädagogik“ die erste explizit dem Netz<br />

gewidmete deutschsprachige pädagogische Monographie und WOLFGANG SCHINDLER<br />

stellt in der ‘Deutschen Jugend’ fest, dass nach einzelnen Vorreitern von der ‘Basis’ nun<br />

auch die überregionalen Institutionen der Jugendarbeit zunehmend <strong>online</strong> gingen. 5<br />

Nachdem <strong>im</strong> bisherigen Verlauf der Argumentation die Beobachtungsbereiche <strong>Internet</strong><br />

und Gesellschaft aufeinander bezogen wurden - in Kapitel 3 schon mit ersten<br />

Perspektiven auf Schule und Jugendarbeit -, soll nun untersucht werden, ob und inwieweit<br />

die aufgezeigte gesellschaftsverändernde Dynamik des <strong>Internet</strong> seitens der Pädagogik<br />

als Herausforderung wahr- und angenommen wird. Dabei werden die Fragen<br />

aufgeworfen, wie sich erstens die pädagogische Reflexion mit dem <strong>Internet</strong><br />

auseinandersetzt und inwiefern dabei der gesellschaftlicher Kontext (also die oben als<br />

Radikalisierung reflexiver Modernisierung beschriebenen Entwicklungen) einbezogen<br />

werden (Kapitel 4), und wie zweitens in der <strong>pädagogischen</strong> Praxis - untersucht an<br />

exemplarisch ausgewählten <strong>Internet</strong>angeboten aus dem Bereich der Jugendarbeit - mit<br />

2 vgl. etwa die Beiträge in ISSING/KLIMSA 1995; richtungsweisend für den didaktischen Einsatz des<br />

<strong>Internet</strong> hierin vor allem der Beitrag von DÖRING (1995) - ‘Mult<strong>im</strong>edia’ wurde seinerzeit <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> (und wird <strong>im</strong>mer noch, vgl. z.B. MEISTER/SANDER 1999) als Oberbegriff für<br />

Offline-Mult<strong>im</strong>ediaanwendungen (also etwa Lernprogramme auf CDROM mit audiovisuellen Anteilen) und<br />

<strong>Internet</strong> verwendet (und das, obwohl viele <strong>Internet</strong>dienste - Newsgroups, IRC, textbasierte MUDs, Nur-<br />

Text-E-Mails [<strong>im</strong> Gegensatz zu html-Mail] - nicht <strong>im</strong> engeren Sinne mult<strong>im</strong>edial sind)<br />

3 vgl. die Tagungsdokumentation SCHELL/SCHORB/PALME 1995<br />

4 vgl. DRABE/GARBE 1997<br />

5 SCHINDLER 1997, S. 423 sowie FASCHING 1997; freilich handelt es sich bei FASCHINGS Buch - wie<br />

auch bei dieser Arbeit - ‘nur’ um eine Diplomarbeit, die sich außerdem vorwiegend auf eine Diskussion<br />

der technischen Struktur und des didaktischen Potentials des <strong>Internet</strong> beschränkt<br />

2


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<strong>Internet</strong> umgegangen wird (Kapitel 5). Der Akzent liegt dabei auf qualitativen Aspekten;<br />

die Frage, welche Relevanz das Thema <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> gegenwärtigen <strong>pädagogischen</strong><br />

<strong>Diskurs</strong> insgesamt hat bzw. wie verbreitet internetbezogene (Öffentlichkeits-)<br />

Arbeitsformen in der Jugendarbeit oder gar der <strong>pädagogischen</strong> Praxis insgesamt derzeit<br />

sind, kann <strong>im</strong> Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich bearbeitet werden.<br />

„Der klassische Begriff von ‘Erziehung’ setzt mindestens dreierlei voraus, ein Ziel, einen<br />

Weg und ein Defizit“ 6 , stellt JÜRGEN OELKERS in seiner ‘kritischen Dogmengeschichte’<br />

der Reformpädagogik fest. Wir wollen diese Unterscheidung von Defizit, Ziel und Weg in<br />

unsere Beobachtung internetbezogener pädagogischer <strong>Diskurs</strong>e einführen, zumal die<br />

Wurzeln der modernen Medienpädagogik in den Reformbewegungen der<br />

Jahrhundertwende zu suchen sind, speziell <strong>im</strong> Rahmen der <strong>pädagogischen</strong> Bewegung<br />

der ‘Kinoreformer’: <strong>Das</strong> Medium Film wurde hier, wie SCHORB aufzeigt, in der Spannung<br />

von einerseits Gefährdung (Defizit: „verbildende“ und „sittlich gefährdende“<br />

Filmvorführungen in hygienisch mangelhaften Kinos) und andererseits Belehrung und<br />

Unterhaltung (Ziel: „bessere und edlere Ausnutzung des Kinematographen“, Weg: u.a.<br />

Einfluss pädagogischer Kreise auf die Medienindustrie, um diese zu „guten, speziell für<br />

Kinder geeigneten Vorführungen in gesonderten Kindervorstellungen zu ermuntern“) für<br />

Heranwachsende diskutiert. 7<br />

<strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> kann in <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>en grundsätzlich auf jedem der drei<br />

genannten Plätze vorgefunden werden: Netzkompetenz der Nutzerlnnen, pädagogisch<br />

verbesserte Netzangebote und -strukturen oder ein Bewahren des Individuums, der Kultur<br />

und der Gesellschaft vor dem Netz und seinen Folgen mögen als Ziele fokussiert werden;<br />

das <strong>Internet</strong> kann - pädagogisch nutzbar gemacht - als Wegbereiter für eine Emanzipation<br />

des Individuums, eine didaktische Verbesserung von Schule und eine Demokratisierung<br />

von Gesellschaft erscheinen; in noch vielfältigerer Weise als für bisherige mediale<br />

Neuerungen können rund ums <strong>Internet</strong> pädagogisch zu bearbeitende Defizite - ob be<strong>im</strong><br />

Medium (und seinen Inhalten) selbst, ob bei den Nutzerinnen oder auf<br />

gesamtgesellschaftlicher Ebene - konstruiert werden.<br />

6 OELKERS 1989, S. 136<br />

7 vgl. SCHORB 1995a, S. 19f. (SCHORB zitiert hier aus einer Schrift des Hamburger Lehrervereins von<br />

1907) - SCHORB nennt allerdings auch frühere „Wurzeln der Medienpädagogik“, so etwa bei<br />

COMENIUS (vgl. a.a.O., S. 17ff.)<br />

3


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Bei der Analyse pädagogischer <strong>Diskurs</strong>e, die sich auf das <strong>Internet</strong> und seine<br />

dynamischen Wechselbeziehung mit der Gesellschaft beziehen, soll in diesem Kapitel die<br />

Besetzung aller drei Plätze analysiert werden: Welche Ziele werden auf welchen Ebenen<br />

angestrebt? Welche Wege sollen von wem eingeschlagen werden? Welche Defizite<br />

werden wo gesehen? Hier zugrunde gelegte Prämissen, Diagnosen und Prognosen sollen<br />

mit unseren Diskussionsergebnissen aus den Kapiteln 2 und 3 verglichen werden.<br />

Als erstes betrachten wir in 4.1. <strong>Diskurs</strong>e, in denen das <strong>Internet</strong> aufgrund seiner<br />

jugendgefährdenden bzw. als jugendgefährdend angesehenen Inhalte (4.1.1.) bzw.<br />

aufgrund seiner spezifischen Medialität (4.1.2.) als ein unmittelbares oder aber aufgrund<br />

seines gesellschaftsverändernden Potentials als ein mittelbares (4.1.3.) pädagogisch<br />

abzuwehrendes Risiko für Kinder und Jugendliche erscheint. Darauf folgt in 4.2. eine<br />

Auseinandersetzung mit Positionen, die das <strong>Internet</strong> - euphorisch, pragmatisch oder auch<br />

kritisch orientiert - als Chance für Erziehung wie auch für zu Erziehende werten (4.2.), und<br />

zwar zum einen als didaktisches Medium <strong>im</strong> Dienst der Vermittlung externer Inhalte und<br />

Ziele (4.2.1.), zum anderen als zunehmend relevanter Inhalt von und Einflussfaktor auf<br />

Pädagogik (4.2.2.). In einem letzten Schritt sollen schließlich - an der Schnittstelle zur in<br />

Kapitel 5 zu behandelnden <strong>pädagogischen</strong> Praxis - die Thematisierung von <strong>Internet</strong> und<br />

Jugendarbeit in der <strong>pädagogischen</strong> Reflexion besprochen werden (4.2.3.).<br />

Quer zur hier entwickelten Gliederung steht der - für das Thema Computer/<strong>Internet</strong> und<br />

Pädagogik/Bildung zentrale - <strong>Diskurs</strong> der Medienkompetenz: Erziehung zur<br />

Medienkompetenz gerät in den Blickwinkel als Alternativstrategie zum<br />

bewahrpädagogisch-bevormundenden Umgang mit den bedrohlichen Seiten des <strong>Internet</strong><br />

(4.1.1. und 4.1.2.), Medienkompetenz der Lernenden wie der Lehrenden wird als<br />

unabdingbare Voraussetzung wie auch als erwünschter Nebeneffekt einer effizienten und<br />

pädagogisch sinnvollen didaktischen Netznutzung best<strong>im</strong>mt (4.2.1.), die Vermittlung von<br />

Medienkompetenz in einem weiten Sinn ist Ziel jeglicher <strong>pädagogischen</strong> Behandlung des<br />

Inhalts ‘<strong>Internet</strong>’ (4.2.2. und 4.2.3.) und ist die pädagogische Strategie zur Kompensation<br />

internetbedingter/-verstärkter sozialer Ungleichheit (4.1.3.).<br />

Die Auswahl der in diesem Kapitel zu analysierenden Beiträge des internetbezogenen<br />

<strong>pädagogischen</strong> Fachdiskurses basiert zum Großteil auf einer Recherche in verschiedenen<br />

Datenbanken (u.a. dem ‘Informationssystem Bildung’ und dem WWW-OPAC der Kölner<br />

4


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Uni-Bibliothek), Bibliotheken (u.a. Stadtbibliothek Köln) und Suchmaschinen (u.a.<br />

http://www.metager.de). 8 Gesucht wurde nach den Stichworten ‘<strong>Internet</strong>’,<br />

‘Informationsgesellschaft’, ‘Computer’ und ‘Mult<strong>im</strong>edia’. Wenn die betreffende<br />

Datenbank/Bibliothek nicht ohnehin pädagogisch spezialisiert war, wurden diese<br />

Suchbegriffe jeweils gekoppelt (‘Und’-Verknüpfung) mit ‘Pädagogik’, ‘Bildung’, ‘Jugend<br />

(-arbeit)’ und ‘Schule’. Diese Grundauswahl wurde ergänzt durch weitere Literaturhinweise<br />

in den gefundenen Texten sowie durch Tips von Mitstudentlnnen, Kolleginnen und<br />

Bekannten.<br />

Diese erste Auswahl von Texten wurde für die weitere Analyse entlang zweier Kriterien<br />

eingegrenzt: Erstens sollte pädagogische Reflexion erkennbar werden; ‘ausgesiebt’<br />

wurden hier folglich Texte, die sich auf Praxishilfen für LehrerInnen (wie Linksammlungen,<br />

Unterrichtsentwürfe und technische Hilfestellungen) oder auf darstellende Präsentation<br />

von Praxisprojekten konzentrieren. Zweitens sollte ein Bezug zum <strong>Internet</strong> bzw. zum<br />

durch Computernetze vorangetriebenen gesellschaftlichen Wandel sichtbar werden, die<br />

Reflexion sollte also z.B. nicht explizit auf ‘Fernsehen’ oder ‘Computer’ beschränkt sein.<br />

Nach dieser ‘Filterstufe’ verblieben rund 50 Texte - von Artikeln in <strong>pädagogischen</strong><br />

Zeitschriften über Sammelband-Beitrage bis hin zu umfangreichen Monographien. Diese<br />

begrenzte Auswahl soll <strong>im</strong> Folgenden stellvertretend für den gegenwärtigen Stand des<br />

deutschsprachigen <strong>pädagogischen</strong> Fachdiskurses zu internetbezogenen Themen<br />

analysiert werden. Dabei müssen die blinden Flecken, die sich aus der Auswahlmethode<br />

ergeben, berücksichtigt werden: So kommen erstens nur veröffentlichte bzw. <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />

leicht zugängliche <strong>Diskurs</strong>beiträge in den Blick; zweitens fallen Texte, die einen anderen<br />

thematischen Schwerpunkt haben und dabei unter anderem auch auf <strong>Internet</strong>-Themen<br />

eingehen, durch das Raster; drittens schließlich müssen diejenigen <strong>pädagogischen</strong><br />

Positionen, die das <strong>Internet</strong> - etwa (wie AUFENANGER polemisch formuliert) aus der<br />

„anthropologischen Sichtweise“ heraus, dass „die Gesellschaft eigentlich die Erziehung<br />

und das Kind in seiner Entwicklung nur stört 9 - konsequent nicht thematisieren, außen vor<br />

bleiben. <strong>Das</strong> soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Positionen noch für<br />

8 aus aufwandsökonomischen Gründen nicht berücksichtigt wurden <strong>im</strong> Netz - also etwa in<br />

Diskussionsforen mit pädagogischem Fokus - geführte Debatten<br />

9 AUFENANGER 1995, S. 59<br />

5


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einige Zeit in Forschung, Lehre und außeruniversitärer pädagogischer Praxis<br />

mehrheitsfähig bleiben mögen.<br />

4.1. <strong>Internet</strong> als Risiko<br />

Die pädagogische Reflexion vermag das <strong>Internet</strong> in vielfacher Weise als Risiko, als<br />

Bedrohung zu thematisieren: als ein - hinreichend geschickte Nutzerinnen vorausgesetzt -<br />

nahezu unzensierbares Medium zur Übermittlung jugendgefährdender Inhalte, als<br />

Metapher für Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit, als Attacke auf direkte<br />

zwischenmenschliche Kommunikation und ‘natürliche’ Pr<strong>im</strong>ärerfahrung qua<br />

Virtualisierung, als Suchtmittel, als Quelle von Reizüberflutung mit negativen Folgen für<br />

Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, als Motor einer Wegrationalisierung des<br />

Bildungssystems bzw. einer Entwertung seiner klassischen Bildungsinhalte sowie als<br />

Technologie zur Vernichtung von Arbeitsplätzen, zur Polarisierung von Gesellschaft<br />

entlang einer ‘Informationskluft’ und zur Überwachung und Disziplinierung des<br />

Individuums.<br />

Die angeführten Beispiele legen eine dreifache Differenzierung nahe: So können erstens<br />

Inhalte <strong>im</strong> Netz als bedrohlich für Kinder und Jugendliche empfunden werden (4.1.1.),<br />

zweitens kann die Nutzung des Mediums <strong>Internet</strong> unabhängig von den jeweiligen<br />

konkreten Inhalten als pädagogisch bedenklich eingestuft werden (4.1.2.). Während sich<br />

die hier angesprochenen <strong>Diskurs</strong>e auf das Verhältnis von Medium und Nutzerinnen<br />

konzentrieren, kann schließlich drittens eine erweiterte Perspektive eingenommen<br />

werden, in der Gefahren für die Individuen, das Bildungssystem und die Gesellschaft<br />

durch die gesamtgesellschaftliche <strong>Internet</strong>-induzierte Veränderungsdynamik beobachtbar<br />

werden (4.1.3.).<br />

Bei allen hier zu behandelnden <strong>Diskurs</strong>en - ob sie sich nun auf Defizite bei den<br />

Nutzerinnen, den Netzinhalten, den Netzstrukturen oder dem<br />

gesellschaftlichen/politischen/kulturellen Umgang mit den Netzen berufen - ist nicht nur zu<br />

fragen, wie die jeweiligen Defizitbest<strong>im</strong>mungen zustande kommen, auf welchen<br />

Prämissen und welchen Beobachtungen sie beruhen (und wie sich diese zu unseren<br />

Beobachtungen zu <strong>Internet</strong> und Gesellschaft verhalten), sondern auch, welche Ziele auf<br />

welchen Wegen mit den jeweiligen Defizitbest<strong>im</strong>mungen legit<strong>im</strong>iert werden sollen.<br />

6


4.1.1. Problematisierung von Netzinhalten<br />

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<strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> bietet als exponentiell anwachsendes weltweites Datennetz Zugang zu einer<br />

Fülle von Inhalten. Diese Fülle kann zum einen selbst als Ursache von<br />

Orientierungslosigkeit und Informationsüberflutung problematisiert werden; zum anderen,<br />

und damit wollen wir uns nun zunächst beschäftigen, kann der Fokus auf aus<br />

pädagogischer Perspektive problematische konkrete Inhalte gelegt werden.<br />

Der <strong>Diskurs</strong> der Jugendgefährdung durch medial vermittelte Inhalte ist so alt wie die<br />

Massenmedien selbst; SCHORB verweist etwa auf die - <strong>im</strong> Kontext der massenhaften<br />

Verbreitung des Buchdrucks und der Lesefähigkeit aufgekommene - Diskussion um<br />

negative Wirkungen des Lesens, wie sie etwa in Folge der Selbstmordwelle unter<br />

jugendlichen Lesers von GOETHEs ‘Werther’ geführt wurde. 10 Aus <strong>pädagogischen</strong> und<br />

politischen Versuchen, gegen ‘sittlichen und moralischen Verfall’, ‘kulturelle Verarmung’<br />

oder ‘Kr<strong>im</strong>inalität, hervorgerufen durch Massenmedien’ vorzugehen, entwickeln sich dann<br />

sowohl ein gesetzlich verankerter Jugendmedienschutz als auch erzieherische<br />

Konzeptionen mit dem Ziel der Bewahrung der als unmündig begriffenen<br />

Heranwachsenden vor schädlichen Medieneinflüssen (anfangs, in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts, noch auf die Zielgruppe bürgerlicher Jugendlicher beschränkt). 11<br />

Bewahrpädagogische <strong>Diskurs</strong>e zielen, wie sich hier zeigt, auf eine pädagogische und auf<br />

eine metapädagogische Ebene: Auf ersterer werden be<strong>im</strong> zu erziehenden Individuum<br />

ansetzende behütende (z.B. Kinoverbote), kanalisierende (die Hinführung zum ‘guten<br />

Film’) und aufklärende (der ‘richtige Gebrauch’ des Mediums) Maßnahmen gegen die als<br />

defizitär empfundene Wirklichkeit massenmedialer Inhalte gesetzt; auf letzterer werden<br />

Gesellschaft (Eltern, Medienwirtschaft) und insbesondere Politik zu Adressaten<br />

pädagogischer Handlungsappelle, Gesetzgeber und Ordnungsbehörden werden zu<br />

Zensur bzw. Verboten und deren Durchsetzung aufgefordert.<br />

Auch in der Nachkriegs-Bundesrepublik ist Medienpädagogik <strong>im</strong> wesentlichen<br />

Bewahrpädagogik, allerdings gewinnt mit dem Fortschrittsopt<strong>im</strong>ismus der 50er/60er Jahre<br />

10 vgl. SCHORB 1995a, S. 18<br />

11 vgl. KETZER 1999, Kap. 3.1 und 3.2; gesetzlicher Jugendmedienschutz wurde danach in Deutschland<br />

erstmals in der We<strong>im</strong>arer Republik verwirklicht<br />

7


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die didaktische Nutzung audiovisueller Medien an Gewicht. In den 60er/70er Jahren<br />

begründet sich Medienpädagogik in Anlehnung an die Kritische Theorie der Frankfurter<br />

Schule zunehmend als eine ideologiekritische: Massenmedien gelten als Instrumente der<br />

‘Kulturindustrie’ zur Manipulation des ‘Bewusstseins der Massen’, Rezipienten als<br />

potentiell manipulierbare Opfer. Dieser Defizitbeschreibung wird das Ziel einer<br />

Emanzipation der Individuen gegenübergestellt, zu erreichen durch eine Erziehung zur<br />

analytischen Dechiffrierung des Ideologiegehalts massenmedialer Inhalte. 12<br />

Trotz zum Teil entgegengesetzter gesellschaftstheoretischer und politischer<br />

Grundannahmen kann eine gewisse Nähe und Kompatibilität bewahrpädagogischer und<br />

ideologiekritischer Mediendiskurse beobachtet werden: Beide fokussieren „die<br />

Gefährdung des Menschen durch mediale Inhalte“, beide eint ihre „einseitige Sichtweise<br />

auf das Individuum als passiv erleidendes, nicht als handelndes Subjekt“. 13<br />

Sind auch beide Positionen <strong>im</strong> medien<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> inzwischen als überholt<br />

anzusehen - ‘gesellschaftskritisch-demokratische’ Ansätze, die sich auf HABERMAS und<br />

ENZENSBERGER, aber auch auf BRECHT und WALTER BENJAMIN berufen, und in<br />

deren Folge handlungsorientierte und lebensweltorientierte Ansätze best<strong>im</strong>men seit den<br />

80er Jahren die medienpädagogische Diskussion 14 -, so finden sich doch in öffentlichen<br />

wie auch in allgemein- und schul<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>en auch heute noch häufig<br />

bewahrpädagogische Argumentationslinien (etwa in der normativen Medienpädagogik),<br />

ob mit reformpädagogischem oder mit ideologiekritischem Zungenschlag. SCHORB<br />

konstatiert: „die Bewahrpädagogik, die seit hundert Jahren die Medien mit ihren Inhalten<br />

zurückweist und ihnen die Schuld an gewalttätigem Handeln von Heranwachsenden gibt,<br />

läßt sich mit den Grundzügen ihrer Argumentation auch auf den Komplex der Mult<strong>im</strong>edien<br />

anwenden. Diese durch Oberflächenphänomene veranschaulichte Ablehnung läßt sich<br />

dann gut mit Ignoranz verbinden“. 15<br />

12 vgl. KETZER 1999, Kap. 3.4, SCHORB 1995a, S. 36ff. sowie Enquete-Kommission 1998, S. 85<br />

13 SCHORB 1995b, S. 47 - hier wird auch die „seltsame Mischung“ aus „marxistischen und elitären<br />

Theoremen“ in der ideologiekritisch-<strong>pädagogischen</strong> Medientheorie thematisiert, die insbesondere in der<br />

musik<strong>pädagogischen</strong> Auseinandersetzung mit Massenmedien m.E. bis heute nachklingt<br />

14 so heißt es in einer Broschüre des (CDU!-)Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

von 1996 zum Thema Jugendschutz, man wolle „die nachwachsende Generation nicht bevormunden und<br />

vor allen Gefahren und Risiken abschirmen“, sondern „Kinder und Jugendliche befähigen, mit<br />

bestehenden Risiken umzugehen, vorhandene Mißstände zu erkennen und verantwortungsvoll zu ihrer<br />

Veränderung beizutragen und einen eigenen Lebensstil zu finden“ (zit. nach KETZER 1999, Kap. 3.5)<br />

15 SCHORB 1995b, S. 23<br />

8


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Im Folgenden wäre also zu überprüfen, wie die Inhaltsseite der ‘neuen Medien’ Computer<br />

und <strong>Internet</strong> in <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>en als Gefahr konstruiert wird: Wird das <strong>Internet</strong><br />

aufgrund einzelner, hypostasierter Inhalte verteufelt? Inwiefern werden gezeichnete<br />

Bedrohungsszenarien empirisch fundiert? Im öffentlichen wie auch <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong><br />

<strong>Diskurs</strong> ist zu beobachten, dass die Thematisierung problematischer Inhalte weitgehend<br />

entlang der Felder ‘Gewalt in Computerspielen’, ‘(Kinder-)Pornographie <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>’,<br />

‘Förderung von Straftaten durchs <strong>Internet</strong>’ und ‘Rechtsextreme Angebote <strong>im</strong> Netz’<br />

erfolgt. 16 Bevor wir uns den hier empfohlenen <strong>pädagogischen</strong> und meta<strong>pädagogischen</strong><br />

Gegenstrategien zuwenden, sollen nun zunächst die für diese vier Felder vorzufindenden<br />

<strong>pädagogischen</strong> Defizit-Diagnosen näher betrachtet werden.<br />

Die angebliche Aggressionsst<strong>im</strong>ulanz durch Computerspiele ist nach<br />

SCHWAB/STEGMANN ein überstrapazierter Topos <strong>im</strong> öffentlichen wie auch <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> Fachdiskurs. In Anlehnung an die Wirkungsdiskussion in der<br />

Fernsehforschung würden hier unterschiedlichste theoretische Modelle zugrunde gelegt<br />

und entsprechend entweder „eine St<strong>im</strong>ulierung, eine Abstumpfung, eine Abschreckung<br />

oder sogar ein Spannungsabbau des aggressiven Potentials“ durch Computerspiele<br />

diagnostiziert. 17<br />

Die vereinfachende „lineare Logik“, die SCHORB der bewahr<strong>pädagogischen</strong> Theorie und<br />

Praxis der 50er/60er Jahre be<strong>im</strong> Umgang mit dem „komplexen, bis heute nicht<br />

entschlüsselten Zusammenhang von Gewaltdarstellungen und Gewalthandeln 18 vorwirft,<br />

lässt sich hier wiederfinden, zum Teil in personeller Kontinuität: WERNER GLOGAUER<br />

etwa, der unter Verzicht auf systematische Beobachtungen schon 1957 die These vertrat,<br />

die „Wirkung des Films“ vermöge „zur Begründung strukturierter jugendlicher<br />

Bandengruppen führen 19 , tritt <strong>im</strong> <strong>Diskurs</strong> der 90er Jahre erneut in Erscheinung mit dem<br />

wissenschaftlich fragwürdigen Versuch, „anhand von extremen Einzelbeispielen, die er<br />

teilweise der Presse entn<strong>im</strong>mt, [...] die Gefährlichkeit von Computerspielen zu belegen“. 20<br />

16 so hat etwa der Abschnitt „<strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> - Inhalt und Zugang“ des Berichts „Kinder- und<br />

Jugendschutz <strong>im</strong> Mult<strong>im</strong>ediazeitalter“ (Enquete-Kommission 1998, Kap. 3.2) die<br />

Unterabschnitte „Gewaltpornographie“, „Rassismus“, „Extremgewalt“ und „Gewaltspiele“<br />

17 SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 44<br />

18 SCHORB 1995a, S. 33<br />

19 zit. nach SCHORB 1995a, S. 35<br />

20 SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 33<br />

9


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SCHWAB/STEGMANN kommen in ihrer empirischen Studie zwar zu dem Ergebnis, dass<br />

indizierte Gewaltspiele zum Teil sehr bekannt und verbreitet seien, 39% der männlichen<br />

Jugendlichen gäben unter ihren beiden Lieblingsspielen ein extrem gewalttätiges an<br />

(Sexspiele und rassistische Spiele hingegen erscheinen als eher von marginalem<br />

Interesse; m.E. unterschätzen SCHWAB/STEGMANN hier allerdings drohende<br />

Verzerrungen durch sozial erwünschtes Antwortverhalten). Dieser Befund müsse jedoch<br />

ausdifferenziert werden: so würden bei den Spielepräferenzen männlicher Jugendlicher<br />

Actionspiele knapp vor Strategiespielen, aber deutlich hinter S<strong>im</strong>ulationsspielen liegen,<br />

Kriegsspiele seien eben „meist nicht mehr nur ‘Ballergames’, sondern Spiele, in denen<br />

komplexe Situationen auch strategisch gelöst werden müssen“. Als Motivation sei die<br />

Interaktivität, best<strong>im</strong>mt als Eingreifen ins Geschehen, wichtiger als Action und Leistung;<br />

ein gesteigerter Reiz gehe von personaler Interaktivität in vernetzten Spielen aus. 21<br />

Während SCHWAB/STEGMANN die Prognose, dass einsames Spielen mit zunehmender<br />

Verbreitung von Vernetzungsmöglichkeiten aufgrund der größeren Attraktivität von Multi-<br />

User-Spielen wohl <strong>im</strong>mer seltener werden wird, gegen die These einer sozialen Isolation<br />

durch Computerspiele ins Feld führen, wird <strong>im</strong> Bericht „Kinder- und Jugendschutz <strong>im</strong><br />

Mult<strong>im</strong>edia-Zeitalter“ gerade diese durch Vernetzung wachsende Attraktivität<br />

problematisiert: Schon für traditionelle Videospiele bestehe ein - von sozialen Faktoren<br />

abhängiges - „Wirkungsrisiko“ durch das Einüben aggressiver Verhaltensmuster und<br />

aggressionsfördernde körperliche Erregung qua Action. Dieses werde durch die „neuen<br />

Wirkungsd<strong>im</strong>ensionen“ der personalen Interaktivität (Gegner „erscheinen wie echte<br />

Menschen“, Kampf in Gruppen) erhöht. Als mögliche Folgen werden am Beispiel<br />

desNetzwerk-Spiels ‘Quake’ („ein weltumspannendes soziales Netzwerk [...], in dem<br />

‘Überleben’ und ‘Tod’ eine zentrale Rolle spielen“) die Reduktion von Empathie und<br />

Tötungshemmungen durch die Anonymität der Netze wie auch die Übertragung des<br />

Konfliktlösungsmodells ‘Gewaltausübung in der Gruppe’ in die netzexterne Welt<br />

genannt. 22<br />

Dem kann mit SCHWAB/STEGMANN entgegengehalten werden, dass sich bislang keine<br />

der verschiedenen einschlägigen Wirkungsthesen als empirisch haltbar erwiesen hätte;<br />

21 SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 44; vgl. a.a.O., S. 135ff. (mit Bezug auf eigene qualitative Forschungen)<br />

22 Enquete-Kommission 1998, S. 66f.<br />

10


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vielmehr sei die Einbettung der Nutzung von Computerspielen in die Lebenswelt, also die<br />

<strong>im</strong> Bericht der Enquete-Kommission nur am Rande thematisierten ‘sozialen Bedingungen’,<br />

entscheidend - so etwa der Vorbildcharakter elterlicher Mediennutzung. 23<br />

Erwähnenswert erscheint mir die Diskrepanz zwischen der zentralen Stellung der<br />

Spielinhalte <strong>im</strong> öffentlichen <strong>Diskurs</strong> und deren - nach SCHWAB/STEGMANN -<br />

randständigen Bedeutung für die Bewertung von Spielen durch Jugendliche: So falle das<br />

von der Bundesregierung herausgegebene S<strong>im</strong>ulationsspiel ‘Gesetzgebung’ bei den<br />

beobachteten Jugendlichen - verglichen mit dem vernetzten Kriegsspiel ‘Command &<br />

Conquer’ - nicht etwa wegen eines als langweilig erachteten Themas durch, sondern<br />

aufgrund seiner nicht dem hohen Standard aktueller Computerspiele entsprechenden<br />

gestalterischen Aufbereitung und einer reizlosen Handlungsstruktur. 24 So berechtigt<br />

Befürchtungen wie die oben angeführten der Enquete-Kommission <strong>im</strong> Einzelfall sein<br />

mögen - ihr medial-diskursives Gewicht scheint mir in keinem Verhältnis zu ihrer Relevanz<br />

für den Bereich ‘jugendliche Nutzung von Computerspielen’ zu stehen.<br />

Eine ähnliche Tendenz zur Überzeichnung von Risiken kann auch für die Diskussion um<br />

Pornographie, insbesondere Kinderpornographie <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> sowie um die Förderung von<br />

Straftaten durchs <strong>Internet</strong> beobachtet werden. Wir haben oben mit ZEHNDER auf zwei<br />

Fälle (von den ‘alten’ Massenmedien geschürter) internetbezogener<br />

Jugendgefährdungshysterie hingewiesen: Die bis heute unbestätigte These, dass der<br />

Terroranschlag von Oklahoma mit einer ‘<strong>Internet</strong>-Bombe’ verübt worden sei, und die<br />

‘Cyberporn’-Titelgeschichte des US-Nachrichtenmagazins ‘T<strong>im</strong>e’, die - obwohl sich ihre<br />

als Studie der renommierten Carnegie-Mellon-University ausgegebene Quelle als<br />

wissenschaftlich fragwürdige Semesterarbeit eines Studenten ebendieser Universität<br />

entpuppte - massiv für <strong>im</strong> oben skizzierten Sinn ‘metapädagogische’ Konzepte zur<br />

Regulierung des <strong>Internet</strong> instrumentalisiert werden konnte.<br />

Die These einer speziell durch Netzinhalte bedingten Förderung von Straftaten ist leicht<br />

zu relativieren: ZEHNDER weist darauf hin, dass „die Informationen, die für<br />

Bombenbastler, Einbrecher und Drogenpanscher <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> publiziert werden, [...] auch<br />

auf anderen Wegen“ erhältlich seien und dass die Rede von einer ‘<strong>Internet</strong>-Bombe’<br />

23 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 141 (mit Rekurs auf Studien von ULLRICH DITTLER und von<br />

JÜRGEN FRITZ) und S. 150f.<br />

24 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 147ff.<br />

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ebenso unsinnig sei „als würde man von einer Bibliotheks-Bombe sprechen, wenn die<br />

Informationen aus einer Bücherei stammen“. 25 Die öffentlich-mediale Hypostasierung der -<br />

etwa <strong>im</strong> Verhältnis zu mit legal erworbenen Waffen begangenen Verbrechen - marginalen<br />

Gesellschaftsgefährdung durch Verbrechen nach <strong>Internet</strong>-’Rezepten’ begründet<br />

ZEHNDER mit dem Gehe<strong>im</strong>nisvollen, Unvertrauten der Neuheit <strong>Internet</strong>.<br />

Die in einer breiteren Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte der 90er Jahre gerade erst<br />

anlaufende kulturelle Konstruktion des Mediums <strong>Internet</strong> lässt sich auch zur Erklärung für<br />

die - gegenüber den ‘alten’ Medien vergrößerte - Sensibilität für pornographische Inhalte<br />

<strong>im</strong> <strong>Internet</strong> anführen: „Über das barbusige Seite-Drei-Girl regt sich niemand auf, tauchen<br />

dieselben Bilder aber <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> auf, ist das Medium schmutzig und gefährlich“. 26<br />

Dennoch ist die Lage hier komplizierter, da - insbesondere bei Kinderpornographie -<br />

neben ethischen und juristischen Problemen auf der Rezipientenseite solche auf der<br />

Produktionsseite an Gewicht gewinnen. So stellt PETRA MÜLLER, Beauftragte der<br />

obersten Landesbehörden für Jugendschutz in Mediendiensten, fest: „Bei<br />

Kinderpornographie steht hinter jeder Darstellung ein Verbrechen, nämlich der sexuelle<br />

Mißbrauch von Kindern unter 14 Jahren. <strong>Das</strong> Ziel des Jugendmedienschutzes, Kinder und<br />

Jugendliche vor gefährdenden Medieninhalten zu schützen, tritt hier gegenüber dem Ziel<br />

zurück, den weiteren Mißbrauch von Kindern zu verhindern und zur Ergreifung der Täter<br />

beizutragen“. 27<br />

Hier stellt sich freilich - ebenso wie bei Bildern von extremer Gewalt und von körperlichen<br />

Verletzungen - das Problem der Trennung zwischen fiktiven und realen Bildern. Wir haben<br />

oben unter 2.2.2. mit BÜHL die Entkoppelung realistischer Bilder von realem Geschehen,<br />

den ‘Verlust des Dokumentarischen’ durch digitale Bildmanipulationstechniken<br />

beschrieben. In welchem Ausmaß solche Techniken gegenwärtig schon bei der<br />

Produktion (kinder-) pornographischen Materials genutzt werden, ist unbekannt; <strong>im</strong><br />

Bericht „Kinder- und Jugendschutz <strong>im</strong> Mult<strong>im</strong>ediazeitalter“ wird jedenfalls darauf<br />

hingewiesen, dass „auf beinahe allen Kinderporno-Sites [...] angegeben [wird], daß sich<br />

die Anbieter an das Gesetz halten, daß keine Kinder zugelassen werden [d.h., Zugang zu<br />

25 ZEHNDER 1998, S. 78<br />

26 ZEHNDER 1998, S. 82<br />

27 MÜLLER 1999, S. 49<br />

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diesen Sites wird nur geprüftermaßen Volljährigen gewährt, S.D.] und daß die Modelle des<br />

Bildmaterials alle älter als 18 Jahre sind“; ob diese Angaben allerdings tatsächlich<br />

zuträfen, sei kaum zu überprüfen. Kinderpornographie soll damit nicht verharmlost<br />

werden: Auch diejenigen Bilder, die ohne tatsächliche sexuelle Handlungen an<br />

Minderjährigen zustandekommen und somit womöglich strafrechtlich nicht relevant sind,<br />

sind darauf angelegt, entsprechende Phantasien anzuregen und insofern problematisch.<br />

„Wirklich harte Bilder“, so resümmiert ZEHNDER, seien <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> jedoch fast nur über<br />

einschlägige Newsgroups oder über zugangsbeschränkte WWWSeiten zu finden. Bei<br />

letzteren ist i.d.R. eine Kreditkartennummer anzugeben, erstere seien zwar zum Teil leicht<br />

zugänglich, enthielten aber als ‘Postings’ (Diskussionsbeiträge in einer Newsgroup)<br />

überwiegend Werbung für kommerzielle Angebote; der Weg zu pornographischen Bildern<br />

sei so umständlich, dass kaum ein Netznutzer zufällig auf diese stoße. 28<br />

Gefahren für Kinder und Jugendliche durch zufälliges Auffinden jugendgefährdender<br />

Inhalte be<strong>im</strong> Surfen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> werden <strong>im</strong> öffentlichen und <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> oft<br />

herausgestellt; so spricht MÜLLER davon, dass aufgrund des Konkurrenzkampfes der<br />

Porno-Anbieter <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> „auch zahlreiche Kinder mit Angeboten aus sich <strong>im</strong>mer neu<br />

öffnenden HardcoreFenstern konfrontiert werden und damit Einflüssen ausgeliefert sind,<br />

die sie schädigen oder nicht verarbeiten können“, und auch in der Diskussion zur<br />

didaktischen Nutzung des <strong>Internet</strong> finden sich häufig solche Bedenken. 29<br />

GRUHLER und ZEHNDER st<strong>im</strong>men darin überein, dass in der Regel nur eine<br />

zielgerichtete Suchbewegung zu solchen Inhalten führe 30 ; Ausnahmen bildeten hier<br />

Angebote, die populäre WWW-Adressen (URLs) für pornographische Inhalte nutzen 31 ,<br />

Werbe-Postings für kommerzielle Pornoangebote in ‘harmlosen’ Newsgroups und<br />

Werbebanner für Sexangebote. Unbeabsichtigte Konfrontation mit pornographischen<br />

28 ZEHNDER 1998, S. 35f.<br />

29 MÜLLER 1999, S. 47; vgl. FASCHING 1997, S. 95 sowie SCHULZ-ZANDER 1997, S. 10<br />

30 vgl. ZEHNDER 1998, S. 47f. sowie GRUHLER 1998, S. 35f.<br />

31 GRUHLER (1998, S. 10) nennt als Beispiele www.yahhoo.com und www.webcralwer.com, zwei<br />

kommerzielle Porno-Sites, die von Verwechslungen bzw. Schreibfehlern profitierten (www.yahoo.com<br />

und www.webcrawler.com sind beliebte Suchmaschinen) - doch auch hier ist wahrscheinlich eine<br />

Kreditkartennummer zum Zugang nötig<br />

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Inhalten ist jedoch <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> m.E. nicht bedeutend wahrscheinlicher als in den<br />

traditionellen Medien. 32<br />

Für (nicht nur jugendliche) Rezipientinnen gefährlicher als pornographische seien<br />

extremistische Inhalte - diese These begründet ZEHNDER damit, dass Pornographie „per<br />

definitionem durch Expliziertheit in Bild und Text 33 gekennzeichnet sei, während<br />

insbesondere rechtsextremistische Gruppierungen wie das kalifornische ‘Institute for<br />

Historical Review’ häufig mit dem Schein seriöser Wissenschaftlichkeit operierten. Suche<br />

ein Schüler für einen Aufsatz Informationen zum Holocaust, finde er in den einschlägigen<br />

Suchmaschinen eben nicht nur historische Institute von Universitäten, sondern auch - in<br />

der Gestaltung ebenso seriös wirkende - Seiten von Auschwitzleugnern. Unter Berufung<br />

auf das S<strong>im</strong>on Wiesenthal Center stellt GRUHLER fest, Rechtsextreme hätten das<br />

<strong>Internet</strong> schneller als alle anderen gesellschaftlichen Gruppen für ihre Zwecke<br />

instrumentalisiert, es zu ihrem „zentralen Propagandamedium“ gemacht, um so „in einem<br />

einzigen Jahr mehr [...] Propaganda zu verbreiten, als in all den Jahren nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg“. 34<br />

Neben politischen sind auch religiöse Extremisten und Sekten <strong>im</strong> Netz zu finden;<br />

ZEHNDER berichtet zum einen von Praktiken der Sekte Scientology, kritische Inhalte zu<br />

marginalisieren bzw. auf technischen und juristischen Wegen zu el<strong>im</strong>inieren 35 , zum<br />

anderen von Missionsversuchen diverser Sekten <strong>im</strong> Netz. Anders als bei rechtsextremen<br />

Inhalten sind hier jedoch m.E. keine quantitativ oder qualitativ größeren Gefährdungen als<br />

in der netzexternen Welt zu erkennen. Auch der These, dass <strong>Internet</strong>nutzer per se eine<br />

besonders gefährdete Gruppe seien - wie SUSANNE SCHAAF (Zürcher<br />

Sektenberatungsstelle) formuliert: „Einer Person, für die der Computer zum Partner<br />

geworden ist, fehlt ein wichtiger emotionaler Bereich. <strong>Das</strong> ist eine Lücke, in welche die<br />

32 ZEHNDER (1998, S. 79) vertritt dagegen die Position, dass das <strong>Internet</strong> die Gefahr unbeabsichtigter<br />

Kontakte verschärfe, gesteht jedoch ein, dass es auch außerhalb des Netzes zu solchen kommen könne;<br />

das von ihm angeführte Extrembeispiel (aufgrund einer technischen Panne bei der France Telecom<br />

wurde 1997 anstelle des eigentlich vorgesehenen Schulfernsehbeitrages 20 Minuten lang ein Porno in<br />

verschiedene Nahostländer gesendet; a.a.O., S. 47) ist da m.E. nur die Spitze des Eisbergs<br />

33 ZEHNDER 1998, S. 78<br />

34 GRUHLER 1998, S. 22; genauere Angaben zur Methode dieser - mir etwas fragwürdig erscheinenden,<br />

wenn auch in der Tendenz vielleicht zutreffenden - Quantifizierung werden hier nicht gemacht<br />

35 ZEHNDER 1998, S. 68ff.<br />

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Sekten eindringen können“ 36 - soll hier widersprochen werden; hier ist m.E. wieder der<br />

Mythos vom sozial isolierten und emotional deprivierten Computernutzer vorzufinden, der<br />

unter 3.2.3. dekonstruiert wurde (und der durch die Entwicklung des Computers zu einer<br />

‘romantischen Maschine’ [TURKLE] sowie - mit dem <strong>Internet</strong> - zu einem<br />

Kommunikationsmedium zusätzlich in Frage gestellt wird).<br />

Ziehen wir eine Zwischenbilanz über die in <strong>pädagogischen</strong> und öffentlichen <strong>Diskurs</strong>en<br />

thematisierten ‘Defizite’ des <strong>Internet</strong> auf der Ebene konkret als problematisch<br />

empfundener Inhalte, bevor wir uns <strong>im</strong> Folgenden <strong>pädagogischen</strong> und<br />

ordnungspolitischen Strategien zur Behebung dieser Defizite widmen.<br />

Die bei MÜLLER 37 beschriebene Gefahr einer Traumatisierung von Kindern und<br />

Jugendlichen durch mediale Darstellungen von Pornographie, extremer Gewalt etc. wie<br />

auch diejenige einer möglichen Förderung aggressiven Verhaltens durch entsprechende<br />

Darstellungen und Spiele kann nicht geleugnet werden. Diese Gefahr darf aber erstens<br />

nicht <strong>im</strong> Sinne eines linearen, monokausalen Wirkungszusammenhangs verkürzt werden;<br />

vielmehr ist von aktiven Rezipientlnnen auszugehen, bei denen Medienwirkungen je<br />

abhängig von individuellen Dispositionen und dem sozialen Kontext der Mediennutzung<br />

eintreten oder auch nicht eintreten. Zweitens ist zu fragen, ob sich die Gefahr einer<br />

Traumatisierung bzw. eines unbeabsichtigten Kontakts mit traumatisierenden Inhalten<br />

durch das <strong>Internet</strong> tatsächlich verstärkt.<br />

Für ein verstärktes Traumatisierungsrisiko durch das Netz spräche die Tatsache, dass<br />

entsprechende Inhalte hier mit geringerem Aufwand zu beziehen sind als beispielsweise<br />

am Zeitschriftenkiosk, sowie die Beobachtung, dass inkr<strong>im</strong>inierte Inhalte oft verstärkt in<br />

den jeweils neuesten Medien zu finden sind, da dort der Grad staatlicher Reglementierung<br />

am wenigsten fortgeschritten ist. 38 Der Anteil inkr<strong>im</strong>inierter Inhalte <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> - GRUHLER<br />

schätzt diesen auf gut 10%, KETZER auf weniger als 1% 39 - steht jedoch m.E. in keinem<br />

Verhältnis zur Exponiertheit seiner Thematisierung <strong>im</strong> öffentlichen <strong>Diskurs</strong>. In denjenigen<br />

hier bearbeiteten Publikationen aus dem <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>, die sich ohne explizite<br />

Jugendschutz-Thematik mit internetbezogenen Themen beschäftigen, werden<br />

36 zit. nach ZEHNDER 1998, S. 77<br />

37 vgl. MÜLLER 1999, S. 55<br />

38 vgl. ZEHNDER 1998, S. 76<br />

39 39 vgl. GRUHLER 1998, S. 10 sowie KETZER 1999, Kap. 2.5<br />

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jugendgefährdende Inhalte jedoch überwiegend angemessen d<strong>im</strong>ensioniert behandelt. Es<br />

wäre dennoch verfrüht, daraus auf eine Marginalität bewahrpädagogischer Motive <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong> zu schließen. Meine Textauswahl richtete sich auf<br />

pädagogische Konzepte zum - und nicht: wider den - Umgang mit dem <strong>Internet</strong>;<br />

Diskussionsbeiträge, in denen sich (wie SCHORB es ausdrückt) Ablehnung des <strong>Internet</strong><br />

aufgrund von Oberflächenphänomenen mit Ignoranz verbindet, könnten durch dieses<br />

Raster hindurchgefallen sein.<br />

Welche Strategien werden nun von (Medien-)Pädagogen zum Umgang mit<br />

problematischen Netzinhalten empfohlen, und welche werden <strong>im</strong> Rahmen des<br />

gesetzlichen Jugendmedienschutzes - seinerseits Produkt und Objekt metapädagogischer<br />

<strong>Diskurs</strong>e - angewandt? Wenden wir uns zunächst letzteren zu.<br />

Der allgemeine Jugendschutzes zerfällt in drei Bereiche: den strukturellen, den<br />

erzieherischen sowie den gesetzlichen Jugendschutz. Alle drei sind gesetzlich<br />

festgeschrieben, ersterer jedoch - der in §1, Absatz 3 des Kinderund Jugendhilfegesetzes<br />

(KJHG) verankerte Auftrag, positive Lebensbedingungen für Kinder, Jugendliche und ihre<br />

Familien zu schaffen - ist bislang kaum umgesetzt und nicht in Bezug auf<br />

Jugendmedienschutz ausgearbeitet. 40 Struktureller Jugendmedienschutz könnte über<br />

internationale Vereinbarungen, über technische Maßnahmen bei den Endnutzerinnen<br />

oder über Förderung der Produktion ‘erwünschter’ Inhalte auf die kinder-, jugend- und<br />

familienfreundliche Gestaltung des <strong>Internet</strong> Einfluss nehmen; ‘positive<br />

Lebensbedingungen schaffen’ könnte jedoch - abseits der Debatte um<br />

jugendgefährdende Inhalte - auch heißen, kostenlosen Netzzugang für alle Kinder und<br />

Jugendlichen ab einem gewissen Mindestalter zu gewährleisten und diese so vor<br />

möglichen Benachteiligungen in diesem Bereich zu schützen.<br />

Auch der erzieherische Jugendmedienschutz ist <strong>im</strong> KJHG verankert: In §14, Absatz 2 ist<br />

von Angeboten an Jugendliche die Rede, die diese zu Selbstschutz, Kritikfähigkeit und<br />

Eigenverantwortung befähigen sollen. Wir kommen unten, bei der Diskussion<br />

medienpädagogischer Strategien zum Umgang mit problematischen Netzinhalten, darauf<br />

zurück.<br />

40 vgl. KETZER 1999, Kap 3.6.<br />

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Der gesetzliche Jugendmedienschutz hat das Ziel, Kinder und Jugendliche über generell<br />

verbotene Medieninhalte (Aufstachelung zum Rassenhass, Gewaltverherrlichung und<br />

Verletzung der Menschenwürde nach §131 StGB, ‘harte’ Pornographie mit<br />

Gewalttätigkeiten, sexuellen Handlungen an Tieren oder Mißbrauch von Kindern nach<br />

§184 StGB) hinaus vor als spezifisch jugendgefährdend eingeschätzten Inhalten<br />

abzuschirmen; dieses Ziel wird mit Werbe- und Versandhandelsverboten sowie mit Alters-<br />

und Sendezeitbeschränkungen verfolgt. 41<br />

Mit dem <strong>Internet</strong> ergeben sich neue Probleme: <strong>Das</strong> Alter ist <strong>im</strong> Netz nicht sicher<br />

feststellbar, solange nicht flächendeckend digitale Signaturen eingeführt sind (und auch<br />

diese könnten von geschickten Jugendlichen ‘geknackt’ werden); Sendezeit-<br />

beschränkungen sind aufgrund der zeitzonenübergreifenden Ausdehnung und der<br />

Abrufstruktur des <strong>Internet</strong> kaum zu realisieren. In Reaktion auf diese Probleme wurden<br />

1997 das Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG) verabschiedet und<br />

der Mediendienstestaatsvertrag (MDStV) abgeschlossen. 42 Ersteres dehnt die<br />

Zuständigkeit der Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften (BPjS) auf den<br />

Bereich der Netzkommunikation aus, letzterer verpflichtet Anbieter, eigene<br />

jugendgefährdende Inhalte nur Volljährigen zugänglich zu machen (‘Verteildienste’ wie<br />

z.B. Teleshopping) bzw. Endnutzern die Sperrung zu ermöglichen (‘Abrufdienste’).<br />

In der Anwendung auf das <strong>Internet</strong> bereiten jedoch auch diese neuen Gesetze<br />

Schwierigkeiten. Juristische Tücken birgt vor allem die Zuständigkeitsverteilung zwischen<br />

IuKDG (gilt für ‘Teledienste’, also eher für Individualkommunikation) und MDStV (gilt für<br />

‘Mediendienste’, also eher für öffentlich adressierte Angebote). Als wesentlicher<br />

Unterschied der beiden Gesetze wäre zu nennen, dass das IuKDG Bundes- und der<br />

MDStV Länderrecht ist; ferner verbietet der MDStV Pornographie generell, während das<br />

IuKDG diese in technisch verschlüsselter Form erlaubt. Ungelöst bleiben in beiden<br />

Gesetzen drei Probleme: Erstens die Staatsgrenzen überschreitende Struktur des <strong>Internet</strong><br />

(Anbieter mit Sitz in anderen Ländern können nur haftbar gemacht werden, wenn<br />

einschlägige Verträge mit diesen Ländern bestehen), zweitens seine Größe und<br />

Komplexität (um gegen ein Angebot vorgehen zu können, muss dieses zunächst einmal<br />

41 vgl. - auch zum folgenden Absatz - VON GOTTBERG 1997, S. 76ff., sowie KETZER 1999, Kap. 4<br />

42 siehe dazu auch oben unter 3.3.4.<br />

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auffallen), und drittens seine Flüchtigkeit (Indizierung durch die BPjS kann erst nach dem<br />

Erscheinen eines Angebots erfolgen, dieser Prozess dauert i.d.R. zwei Monate, und bis<br />

dahin sind die betreffenden Inhalte oft sowieso nicht mehr anzutreffen) 43<br />

Die pädagogische Reflexion kann nun auf diese rechtlich ‘undichten’ Situation mit<br />

<strong>pädagogischen</strong> und/oder mit meta<strong>pädagogischen</strong> Strategien reagieren. Sie kann also<br />

zum einen versuchen, Kinder und Jugendliche gegen problematische Inhalte zu stärken<br />

bzw. Eltern in diesem Kontext Hilfestellung zu geben - das entspräche den Vorgaben des<br />

KJHG für einen erzieherischen Jugendschutz -, und zum anderen an Politik,<br />

Medienwirtschaft oder Gesellschaft appellieren, weitere Schritte in Richtung<br />

Jugendmedienschutz zu ergreifen.<br />

So sieht BAACKE auf der politischen Ebene den Auftrag, Kommunikationssicherheit durch<br />

staatliches und transnationales Handeln zu gewährleisten, und auf der konkret<br />

<strong>pädagogischen</strong> den einer Unterstützung Jugendlicher bei der Entwicklung von<br />

Medienkompetenz. 44 Auf beiden Ebenen tun sich jedoch Widersprüche in seiner<br />

Argumentation auf, die hier kurz beleuchtet werden sollen.<br />

Bezogen auf das konkret pädagogische Handeln spricht sich BAACKE einerseits für einen<br />

grundsätzlichen medien<strong>pädagogischen</strong> Opt<strong>im</strong>ismus aus: Kinder und Jugendliche<br />

wüchsen mit besonderer Unbefangenheit in Medienwelten hinein, verfügten überwiegend<br />

über Basiskompetenzen zur ‘guten’ Mediennutzung, Bevormundung sei daher nicht<br />

angebracht; statt dessen sollten vor der Folie einer „Freiheit der Informationsvermittlung<br />

für Jugendliche“ 45 selbstsozialisatorisch angeeignete Medienkompetenzen verstärkt<br />

werden, u.a. <strong>im</strong> Hinblick auf den Umgang mit Risiken. Andererseits ist vom Bewahren vor<br />

„schädlichen Kommunikationsinhalten“ die Rede (was - in dieser Formulierung - m.E. eine<br />

monokausalistische Verkürzung darstellt), Kinder und Jugendliche erscheinen als „ohne<br />

Zweifel ohnmächtige Minderheiten, die vor falschen Botschaften zu schützen sind“. 46<br />

43 vgl. VON GOTTBERG 1997, S. 81f.; zur Unmöglichkeit ordnungspolitischen Jugendschutzes <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />

vgl. auch SCHORB 1995b, S. 20f; Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Bundesprüfstelle für<br />

jugendgefährdende Schriften und der gemeinsamen Stelle der Länder (‘Jugendschutz.net’) konstatiert<br />

KETZER (1999, Kap. 10) auf der Basis ihrer Interviews mit Repräsentantinnen beider Institutionen<br />

44 vgl. BAACKE 1997, S. 32ff.<br />

45 eines der Postulate in BAACKE o. J.<br />

46 BAACKE 1997, S. 33<br />

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Die hier eingeschlagene Doppelstrategie, „Jugendlichen einerseits den Zugang zu<br />

solchen Bereichen [mit problematischen Inhalten, S.D.] zu erschweren, andererseits ihnen<br />

aber auch durch Überzeugung sehr breit deutlich zu machen, warum Bereiche inhumaner<br />

und undemokratischer Kommunikation schädlich sind und wie man sich damit<br />

auseinandersetzen kann“ 47 , ist m.E. nicht unproblematisch. Zugangssperrungen -<br />

zumindest solche, die über den gesetzlich verpflichtenden Rahmen hinausgehen und<br />

Nutzerinnen <strong>im</strong> Jugendalter betreffen - erscheinen mir als schwer vereinbar mit dem Ziel<br />

einer Erziehung zur Medienmündigkeit. Auch wenn aus aufsichtsrechtlichen Gründen in<br />

der <strong>pädagogischen</strong> Praxis vielleicht Maßnahmen zur Sperrung gesetzeswidriger Inhalte<br />

ergriffen werden müssen, ist m.E. gemeinsamen Aktionen mit jugendlichen<br />

Netznutzerinnen gegen inhumane und undemokratische Netzinhalte stets der Vorzug vor<br />

technischen Lösungen zu geben.<br />

Auf der meta<strong>pädagogischen</strong> Ebene fordert BAACKE zwar (über-)staatliche Interventionen,<br />

diese dürften jedoch nicht die ‘Freiheit des Netzes’ einschränken; statt dessen sei eine<br />

Selbstbindung der <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> Kommunizierenden an eine ‘Charta der<br />

Kommunikationsethik’ anzustreben. Diese Charta sei auf einem globalen Konsens<br />

überkultureller Wertorientierungen zu begründen, ohne dass, so wörtlich, „westliche<br />

Denkmuster auf jeden Fall dominieren müßten“. 48 Sensibilisierte Augen mögen einen<br />

latenten Eurozentrismus aus diesem Versuch der Abwehr desselben herauslesen, auf<br />

jeden Fall liegt hier jedoch ein universalistischer Ansatz vor, der - zunehmend mit einer<br />

konkret-inhaltlichen Füllung der genannten ‘überkulturellen Wertorientierungen’ - das<br />

unter 2.3.2. thematisierte Risiko einer Halbierung der Weltgesellschaft entlang der Achse<br />

‘geteilte kulturelle Werte / nicht geteilte kulturelle Werte’ birgt.<br />

So konstatiert ZEHNDER, es sei „völlig unmöglich, einen kleinsten gemeinsamen Nenner<br />

in Sachen ‘<strong>Internet</strong>-Moral’ zu finden“. Aufgrund der großen Differenzen zwischen den<br />

jeweiligen gesellschaftlichen Wertvorstellungen sei eine ‘Regionalisierung der Moral’<br />

anzustreben - das jeweils geltende nationale Recht müsse also auch auf das <strong>Internet</strong><br />

Anwendung finden können - andernfalls drohe der von HUNTINGTON beschworene<br />

47 BAACKE o. J.<br />

48 BAACKE 1997, S. 33<br />

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‘Kampf der Kulturen’. 49 Wenn wir oben BAACKE Universalismus vorgeworfen haben, so<br />

müssen wir hier eine Gleichsetzung des Kulturell-Partikularen mit dem Nationalen<br />

kritisieren. <strong>Das</strong> Prinzip ‘wes Region, des <strong>Internet</strong>-Gesetz’ könnte internationale<br />

Spannungen vermeiden helfen; Versuche der westlichen Staaten, ihre Rechtsprinzipien<br />

zu generalisieren, haben jedoch aufgrund deren stärkerer (netz-)ökonomischer Position<br />

m.E. gute Erfolgschancen. Letztlich stoßen außerdem auch ZEHNDERB Vorschläge -<br />

hohe Geldbußen für Provider, die nach je geltendem Recht unzulässige Inhalte trotz<br />

Ermahnung weiter zur Verfügung stellen - <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> an Realisierungsgrenzen:<br />

Angesichts der technischen Möglichkeit, Inhalte zu ‘spiegeln’ (d.h. diese bei Sperrungen<br />

auf andere Server zu kopieren), müssen sich Staaten entweder auf eine Hetzjagd nach je<br />

zu sperrenden Sites einlassen oder mit restriktiven ‘Positivlisten’ erlaubter Sites arbeiten.<br />

Wie BAACKE postulieren auch MÜLLER und VON GOTTBERG internationale<br />

Vereinbarungen, jedoch mit je verschiedenen Akzenten. So fordert MÜLLER eine<br />

Verbesserung der deutschen Gesetze, deren Ergänzung durch internationale Abkommen<br />

und als Fernziel eine verpflichtende Selbstbewertung (Rating) der Anbieter mit<br />

Sanktionsmöglichkeiten für ‘Falscheinstufungen’. 50 Die weltweite Einführung eines<br />

solchen Systems soll in der Theorie das Dilemma ‘universelle vs. regionalisierte Moral’<br />

auflösen können, indem entlang ‘objektiver’ Skalen (‘Sichtbarkeit nackter<br />

Brüste/Hinterteile/Geschlechtsteile’, ‘Abbildung von Hakenkreuzen’) je nach Länderrecht<br />

divergierende Inhalte von Providern oder Endnutzerinnen gesperrt werden<br />

könnten/müssten. In der Praxis entstehen jedoch, wie sich am Beispiel des ICRA-<br />

Projektes zeigen lässt 51 , zahlreiche Probleme: Können Kontexte berücksichtigt werden?<br />

(‘Nackter Penis in Porno’ vs. ‘nackter Penis in Parfumwerbung’ vs. ‘nackter Penis auf<br />

medizinischer Infoseite’ vs. ‘nackter Penis in Kunstwerk’? ‘Hakenkreuz in<br />

Nazipropaganda’ vs. ‘Hakenkreuz in Dokumentation über Naziverbrechen’ vs. ‘religiöses<br />

Symbol der Hindus, das aussieht wie ein spiegelverkehrtes Hakenkreuz’?) Kann es<br />

‘objektive Skalen’ überhaupt geben? Wer hat das Recht, sie festzulegen? Ein<br />

verpflichtendes Selbstrating und die damit eingeführte Infrastruktur würde weiterhin<br />

problematische Formen von politisch motivierter Zensur extrem erleichtern.<br />

49 ZEHNDER 1998, S. 154 - zur HUNTINGTON-Kritik vgl. BUTTERWEGGE 1999<br />

50 MÜLLER 1999, S. 55f.<br />

51 vgl. ERMERT 1999 sowie dies. 2000<br />

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VON GOTTBERG plädiert dafür, statt Max<strong>im</strong>alforderungen in deutschen Gesetzen<br />

Mindeststandards auf internationaler Ebene anzustreben; noch wichtiger als dies sei<br />

jedoch ein Jugendschutz, der am Nutzer (und nicht am Anbieter) ansetze; hier stehe<br />

Gesellschaft in der Verantwortung, medienpädagogische Maßnahmen finanziell zu fördern<br />

- und zwar nicht nur, wie es bisher oft geschehen sei, nur binnen einer kurzen Zeitspanne<br />

nach der Einführung je neuer Medien. 52<br />

Brechen wir also hier die Betrachtung des (meta-)<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>es über<br />

Chancen, Grenzen und Gefahren einer politischen Regulierung des Netzes ab und<br />

wenden uns Jugendschutz-Konzepten zu, die be<strong>im</strong> Nutzer ansetzenden. Damit sind wir<br />

wieder bei der Kontroverse zwischen Bewahrpädagogik und Erziehung zur<br />

Medienkompetenz angelangt - nebst den vielen Mischformen, wie etwa BAACKEs oben<br />

beschriebener Doppelstrategie.<br />

FASCHING wirft bewahr<strong>pädagogischen</strong> Strategien zwar überzogene Befürchtungen vor,<br />

selbst aber möchte er die potentielle Gefährlichkeit medialer Inhalte am historischen<br />

Beispiel des Einsatzes von Massenmedien „zur Verbreitung von Propaganda und zur<br />

Gleichschaltung der Bevölkerung <strong>im</strong> Dritten Reich“ belegen, um daraus die Wichtigkeit<br />

einer Erziehung zur Medienmündigkeit abzuleiten. Ob der „kritische Umgang mit<br />

schockierenden und abstoßenden Darstellungen, die der menschlichen Natur<br />

zuwiderlaufen [sic!]“ bzw. die Bewältigung traumatischer Erfahrungen gelernt und<br />

pädagogisch vermittelt werden kann, wird hier offen gelassen - nicht aber die<br />

Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche per Aufsicht und Zugangsbeschränkungen von<br />

„ihrer Entwicklungsstufe nicht angemessenen Publikationen“ fernzuhalten. 53<br />

In Umkehrung des bewahr<strong>pädagogischen</strong> Arguments, das <strong>Internet</strong> sei aufgrund seiner<br />

jugendgefährdender Inhalte aus Schule und Jugendarbeit zu verbannen, spricht sich<br />

FASCHING gerade für eine pädagogisch angeleitete und unterstützte Erforschung des<br />

Netzes aus: Pädagogische Kontrolle und Intervention sei hier leichter als dort, wo erste<br />

52 vgl. VON GOTTBERG 1997, S. 82f.<br />

53 FASCHING 1997, S. 69 und S. 95 - problematisch erscheint mir sowohl das hier durchsch<strong>im</strong>mernde<br />

naturalistisch-objektivistische Menschenbild als auch der kurzschlüssige Bezug zur Nazizeit. Die<br />

gesamtgesellschaftlichen Lernprozesse <strong>im</strong> Umgang mit audiovisuellen Massenmedien, die sich seit 1945<br />

vollzogen haben (und sich etwa <strong>im</strong> Siegeszug der ironischen Brechung in der Werbung manifestieren),<br />

und die zunehmende Individualisierung und ‘Entmassung’ der Medien (radikalisiert durch das <strong>Internet</strong>),<br />

verbieten m.E. solche Parallelisierungen<br />

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Netzerfahrungen außerinstitutionell gesammelt würden, durchzuführen - z.B. mittels<br />

Inhaltssperrungen und Aufzeichnung der von jeweiligen Nutzerinnen besuchten<br />

WWWAdressen auf Schulcomputern. 54 Man könnte FASCHING vorwerfen, dass er hier<br />

Bewahrpädagogik nur auf eine neue Ebene hebt: An die Stelle genereller Vorbehalte<br />

gegen das Medium tritt ein Pädagogisierungspostulat, selbstverantwortliche<br />

Mediennutzung wird Jugendlichen frühestens nach einem einführenden Lehrgang in<br />

Sachen Medienmündigkeit zugetraut.<br />

Eine radikalere Konzeption von Medienkompetenz - die sich sowohl gegen die Idee eines<br />

medienfreien Schonraums (als deren Vertreter hier CLAUS EURICH, aber auch<br />

HARTMUT VON HENTIG genannt werden) als auch gegen diejenige einer<br />

durchpädagogisierten Mediennutzung, wie sie bei FASCHING anklingt, richtet - findet sich<br />

bei MEISTER/SANDER. An die Stelle einer Anleitung zum (aus Erwachsenensicht)<br />

‘sinnvollen’ Medienhandeln tritt hier die Befähigung zum autonomen und bewußten<br />

Umgang mit Medien. Jugendlichen, deren Lebenswelten zunehmend Medienwelten seien,<br />

wird hier (anschließend an BAACKEs, von ihm m.E. nicht konsequent angewandten,<br />

medien<strong>pädagogischen</strong> Opt<strong>im</strong>ismus) zugetraut, grundsätzlich kompetent Medien nutzen zu<br />

können und ihre jeweiligen Mediennutzungsweisen nach eigenen ‘Sinn’-Kriterien zu<br />

verantworten. Pädagogik wird hier die Aufgabe zugewiesen, Autonomie zu fördern und<br />

ggf. zusätzliche Reflexionsebenen einzuführen. 55<br />

In dieser ansonsten schlüssig erscheinenden Konzeption von Medienkompetenz bleibt<br />

m.E. das <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> stärker noch als in den ‘älteren’ Medien Video und Zeitung angelegte<br />

Potential zum Selbstgestalten medialer Inhalte unterbelichtet. Dieser Punkt wird bei<br />

insbesondere bei KETZER hervorgehoben: „<strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> [wird] von seinen Nutzern<br />

gestaltet [...]. Eigene Homepages, interessengebundene Chats und Newsgroups liegen in<br />

den Händen der Nutzer und können von ihnen gestaltet werden. Ziel der Pädagogik [...]<br />

sollte es sein, Jugendliche zur aktiven Beteiligung am weltweiten Netz zu motivieren und<br />

sie nicht als passive Rezipienten des angebotenen Materials zu betrachten“.<br />

Jugendmedienschutz geschieht in dieser Perspektive zusammen mit den Adressatinnen<br />

durch eine gestaltende Aneignung des Mediums, in Verbindung mit konkreten „Tips [...],<br />

54 vgl. FASCHING 1997, S. 102f.<br />

55 MEISTER/SANDER 1999, S. 44f.<br />

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wie man sich gegen Übergriffe in der virtuellen Welt zur Wehr setzen und Belästigungen<br />

und Mißbrauch begegnen kann“. 56<br />

Statt eines universalisierten oder eines regionalisierten wird hier ein überwiegend<br />

individualisierter Umgang mit ethisch bedenklichen bzw. potentiell traumatisierenden<br />

Inhalten vorgeschlagen. Diese Konzeption ist m.E. kompatibel mit den oben aufgezeigten<br />

- mit zunehmender Verbreitung des <strong>Internet</strong> radikalisierten - Individualisierungsprozessen<br />

<strong>im</strong> Kontext reflexiver Modernisierung. Freilich finden wir auch hier die Schattenseite dieser<br />

Freisetzungsprozesse, die von BECK thematisierte „Individualisierung sozialer Risiken“ 57 ;<br />

so sieht AUFENANGER ein Problem des gegenwärtigen Medienkompetenz-<strong>Diskurs</strong>es in<br />

der Vernachlässigung der Verantwortung der Medien (-wirtschaft). 58 KETZER beruft sich<br />

da eher wie VON GOTTBERG auf die Verantwortung der Gesellschaft, Forschung und<br />

pädagogische Praxisarbeit <strong>im</strong> Bereich Medienkompetenz finanziell zu unterstützen und<br />

dauerhaft abzusichern. 59<br />

Zusammenfassend können wir <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> über bedrohliche Netzinhalte<br />

zwei oft in Mischform auftretende pädagogische Strategien - die der Abschirmung und<br />

Behütung sowie die der Stärkung Jugendlicher, der Förderung von Autonomie - vorfinden,<br />

dazu die meta<strong>pädagogischen</strong> Strategien, Gesellschaft, Wirtschaft und<br />

Politik/Gesetzgebung entweder zur Regulierung des <strong>Internet</strong> oder aber zur Förderung<br />

pädagogischer Maßnahmen zu bewegen.<br />

Entsprechend lassen sich vier Zielperspektiven feststellen: diejenige (in der<br />

medien<strong>pädagogischen</strong> Fachdiskussion kaum anzutreffende) der <strong>Internet</strong>abstinenz<br />

Jugendlicher bzw. eines computer- und internetfreien <strong>pädagogischen</strong> Schonraums;<br />

diejenige einer Durchpädagogisierung jugendlicher Netznutzung; diejenige einer<br />

pädagogisch wünschenswerteren Gestaltung des Netzes (ob durch von und mit<br />

jugendlichen Nutzerinnen kreierte Angebote oder durch politische Regulation bzw.<br />

politisch veranlasste Selbstregulation); sowie diejenige einer Verankerung und<br />

56 KETZER 1999, Kap. 10 - schöne Beispiele für Abwehr virtueller ‘Anmache’ finden sich bei DÖRING<br />

1999, S. 40<br />

57 BECK 1996, S. 158<br />

58 AUFENANGER in seinem Einstiegsreferat auf der Konnekt-Tagung am 19.1 1.1999<br />

59 vgl. KETZER 1999, Kap. 10<br />

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Absicherung von Medienbildung in der <strong>pädagogischen</strong> Forschung, Lehre und Praxis, in<br />

Bildungssystem und Bildungskanon.<br />

Den eher auf eine Regulation der Netzinhalte und ihrer Aneignung durch Jugendliche<br />

abzielenden Ansätzen liegt dabei m.E. oft die Angst der Erziehenden vor ihrer<br />

Entmachtung durch übermächtige globale Medien (<strong>im</strong> Falle des <strong>Internet</strong> zusätzlich: durch<br />

neue, unvertraute Medien) zugrunde. Hier wäre weiter zu fragen, ob es den Protagonisten<br />

dieser Ansätze in erster Linie darum geht, Kinder und Jugendliche zu stärken, indem man<br />

sie gegen die als bedrohlich empfundene Macht der Medien schützt - oder aber darum,<br />

Kinder und Jugendliche zu schwächen: Indem man nämlich eigene erzieherische<br />

Machtansprüche gegen diejenigen medialen Ressourcen verteidigt, aus denen sich,<br />

vermeintlich oder tatsächlich, jugendliche Autonomiesierung speisen kann.<br />

Die Forderung auf der anderen Seite, zwecks Stärkung von Medienkompetenz für breite<br />

Bevölkerungsschichten ein Mehr an Medienpädagogik zu installieren, kann als<br />

Bestandswahrungsversuch bzw. Expansionsanspruch einer <strong>pädagogischen</strong> Teildisziplin<br />

erscheinen. Man mag also kritisch prüfen, in welchen Bereichen und in welcher Weise<br />

eine Pädagogisierung jugendlicher Netzaneignung Sinn macht, und wo sich ein nur noch<br />

an Selbsterhaltung interessiertes System Medienpädagogik herauszubilden droht. Unter<br />

den Bedingungen knapper Kassen sind jedoch legit<strong>im</strong>ierende Argumentationsstrategien<br />

für alle Praxisfelder professioneller Pädagogik überlebensnotwendig; und Argumente für<br />

eine breitere Förderung von Medienkompetenz (<strong>im</strong> Sinne einer kritisch-reflektierten,<br />

verantwortlich-autonomen und kreativproduktiven Nutzung) werden nicht dadurch<br />

entwertet, dass mit ihnen vielleicht auch die eigene Position gesichert werden soll.<br />

Stärkung der Nutzerinnen und gemeinsame gestaltende Aneignung der Netze erscheinen<br />

mir auf jeden Fall als die angemessensten und viabelsten der vorgeschlagenen<br />

<strong>pädagogischen</strong> Strategien zum Umgang mit problematischen Netzinhalten.<br />

4.1.2. Problematisierung des <strong>Internet</strong> als Medium<br />

„Die massenhafte Diskussion um den Einfluß problematischer Medien-’Inhalte’ lenkt nicht<br />

zur eigentlichen Problemlösung hin, sondern eher davon ab 60 - OPASCHOWSKIs<br />

Statement soll uns als Hinweis auf an formalmedialen Aspekten des <strong>Internet</strong> ansetzende<br />

60 OPASCHOWSKI 1999, S. 87<br />

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Defizitbeschreibungen dienen. In diesen finden sich die klassischen Topoi der<br />

Medienkritik ebenso wie neue, internetspezifische Perspektiven: So erhalten die Motive<br />

von der Orientierungslosigkeit qua medialer Vielfalt und vom Verlust der Pr<strong>im</strong>ärerfahrung<br />

in der Rede von der ‘Informationsflut’ bzw. in der Virtualisierungskritik ihre<br />

netzspezifischen Ausformungen; dagegen können die - etwa von der <strong>pädagogischen</strong><br />

Kritik des Fernsehens her bekannten - Motive der Sucht und der sozialen Isolation der<br />

Rezipientinnen auf das neue Medium <strong>Internet</strong> fast unverändert übertragen werden - und,<br />

bei hinreichender Geringschätzung seiner interaktiven Potentiale, auch dasjenige der<br />

Passivität.<br />

Wenden wir uns den beiden erstgenannten Topoi zu (die anderen erscheinen zum Teil<br />

eingestreut - bis auf die These einer computerbedingten sozialen Isolation, die schon<br />

unter 3.2.3. behandelt wurde und die, wie gezeigt wurde, als empirisch widerlegt gelten<br />

kann), und beachten wir wie <strong>im</strong> vorangegangenen Abschnitt, welche Strategien und Ziele<br />

mit jeweiligen Defizitbeschreibungen verknüpft werden.<br />

Orientierungslosigkeit aufgrund der Fülle medialer Angebote und Inhalte kann aus<br />

pädagogischer Perspektive schon bei den ‘traditionellen’ Medien (und dort verstärkt mit<br />

der Einführung privater Rundfunkanstalten) als ein Problem erscheinen. So bei dem<br />

Münchner Schulpädagogen HELMUT ZÖPFE: Die Palette extremer Wertorientierungen,<br />

die „unter dem Deckmantel der ‘Toleranz“‘ in Talkshows präsentiert werde, „ohne daß<br />

Maßstäbe erkennbar würden, die zur Erkenntnis des Wahren und Guten, aber auch des<br />

Schönen beitrügen“, sei in einen „Zusammenhang mit der Gewaltproblematik“ zu stellen;<br />

Individualisierung der Wertorientierungen <strong>im</strong> „diffusen Wertekosmos unserer Medienwelt“<br />

führe zwangsläufig zu Vereinsamung und Gemeinschaftsverlust. 61<br />

Vielfalt ohne feste Orientierungsmaßstäbe als Ursache eines Zerfalls gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalts und von Gewalt: Dieses Argumentationsmuster - wir haben es oben unter<br />

2.3.2. dekonstruiert - findet sich in verschiedenen Varianten (freilich selten in einem derart<br />

wertkonservativem Gewande wie bei ZÖPFL) auch <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong>.<br />

Hier ist vom „Rauschen“ durch ein Überangebot von - oft „qualitativ minderwertigen“ -<br />

Informationen, von den „Gefahren“ durch „Informationsüberlastung“ 62 und von Fülle, die<br />

61 ZÖPFL 1997, S. 89<br />

62 FASCHING 1997, S. 90f.<br />

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erblinden lasse 63 , die Rede; und <strong>im</strong>mer wieder wird die Metapher der<br />

‘Informationsüberflutung’ bemüht. 64<br />

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Aus einer konstruktivistischer Perspektive, die Wahrnehmung als aktive Tätigkeit<br />

best<strong>im</strong>mt, entpuppt sich ‘Informationsflut’ freilich als leerer Begriff: Wissen wird nach<br />

SCHMIDTS kultur- und medienwissenschaftlichem Konstruktivismus <strong>im</strong> kognitiven System<br />

produziert, Medien hingegen bieten lediglich Anlässe zur „Wissensproduktion durch<br />

Aktanten nach sozialen Regeln“. 65 <strong>Das</strong> Konstrukt ‘Überflutung durch die Fülle medialer<br />

Inhalte’ funktioniert nur auf der Basis eines behaviouristischen Reiz-Reaktionsmodells,<br />

das den Rezipienten als passives Opfer betrachtet - mit neueren Theorien der aktiven<br />

Medienrezeption ist es nicht kompatibel. In diesen erscheint Differenz als pr<strong>im</strong>äres<br />

Medienrezeptionsmuster: „Uneinheitliche, multikontexturale, hybride Medienerfahrungen<br />

könnten also [...] durchaus als Bereicherung bei Aneignung und Gestaltung von medial<br />

vermittelten Pluralitäten von Wirklichkeit fungieren“. 66<br />

So resümiert denn auch SCHINDLER: „Die Informationsfülle des hypertextförmigen WWW<br />

[...] ähnelt derzeit dem <strong>im</strong> Kanu befahrbaren Mündungsdelta eines großen Flusses, nicht<br />

aber einer Flutwelle, die unerbeten über uns hereinbricht“. Eine Ausnahme stelle hier das<br />

‘Spamming’ dar, d.h. das massenhafte Versenden unerwünschter E-Mails bzw.<br />

Newsgroup-Diskussionsbeiträge zu Werbezwecken); dagegen stünden jedoch<br />

hinreichend Abwehrstrategien und -technologien zur Verfügung. 67<br />

Als Ziel hinter einer Thematisierung des Orientierungsdefizits <strong>im</strong> Informationsraum<br />

<strong>Internet</strong> kann eine Abwehr allzu euphorischer Informationsgesellschafts-Apologien stehen<br />

(so etwa bei KLEINSTEUBER 68 ). Häufiger aber wird, wie bei ZÖPFL, die<br />

Wiederherstellung von Eindeutigkeit bzw. die Absicherung hegemonialer Machtansprüche<br />

der Erziehenden angestrebt: Eigene Wertorientierungen werden als anthropologische<br />

Konstanten ausgegeben und somit absolut gesetzt. Neben diesen gegenmodernen<br />

63 GÖTZ-HENRICH 1996, S. 63<br />

64 vgl. etwa OPASCHOWSKI 1999, S. 78 und S. 90; ZÖPFL 1997, S. 92; KLEINSTEUBER 1996, S. 28;<br />

SCHULTE 1995, S. 29; BAACKE 1997, S. 29<br />

65 SCHMIDT 1994, S. 86<br />

66 PETER M. SPANGENBERG zit. nach SCHMIDT 1999, S. 122<br />

67 SCHINDLER 1997, S. 428f.<br />

68 KLEINSTEUBER 1996 - siehe dazu auch oben unter 2.2.1.<br />

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Zielsetzungen finden wir schließlich, wie bei der oben untersuchten Problematisierung von<br />

Netzinhalten, auch hier das Postulat einer verstärkten Bildung zu Medienkompetenz,<br />

konkret: zu Recherche-, Auswahl- und Beurteilungskompetenz. 69 Hier liegt eine m.E.<br />

zutreffende These zugrunde: Die Orientierung <strong>im</strong> neuartigen Informationsraum <strong>Internet</strong><br />

verlange best<strong>im</strong>mte Kompetenzen, die zum Teil informell erworben werden könnten, die<br />

jedoch <strong>im</strong> Interesse von Systematisierung und von Chancengleichheit durch formelle<br />

Bildung abgesichert werden sollten (wir kommen auf diese Thematik unter 4.2.1. zurück,<br />

<strong>im</strong> Kontext der didaktischen Nutzung des <strong>Internet</strong>). Diese These hat jedoch auch ohne<br />

das Schreckgespenst ‘Informationsüberflutung’ m.E. genug Überzeugungskraft.<br />

<strong>Das</strong>s auf das Motiv einer ‘Überflutung durch desorientierende Netzinformationen’ in<br />

<strong>pädagogischen</strong> Argumentationen besser verzichtet werden sollte, mag der folgende kleine<br />

Exkurs plausibel machen - ein Exkurs zu einem Paradebeispiel für die Konstruktion einer<br />

Bedrohung durch den „Umgang mit grenzenloser Information und Kommunikation“. Ich<br />

zitiere:<br />

„Die Überfremdung und deren Nichtbewältigung. Ein Beispiel (zusammengezogen aus einer<br />

tatsächlichen Begebenheit): Da haben einige junge Deutsche (um die sechzehn Jahre alt) mit<br />

türkischen Freunden eine eMail-Brücke aufgebaut, über die sie nicht nur Fußballnachrichten<br />

austauschen, sondern auch Aktualitäten aus den jeweiligen Ländern. Da die Türken auch<br />

Deutsch sprechen können (einige werden nach Deutschland zurückkehren, andere wollen in der<br />

Türkei ihr Glück versuchen), gibt es keinerlei Sprachprobleme. Dann hören die deutschen<br />

Jugendlichen etwa über iranische Fundamentalisten, sie hören von Terrorakten in Algier, sie<br />

werden vielleicht darauf aufmerksam gemacht, daß zwar in Deutschland Moscheen gebaut<br />

werden dürfen, aber in der Türkei keinesfalls überall und ohne Einschränkungen christliche<br />

Kirchen. <strong>Das</strong> stört die Kommunikation. Die jungen Türken sind überrascht: <strong>Das</strong> sind neue<br />

Fragen und Themen, die ihnen da entgegen kommen. Gab es nicht schönere Themen, die<br />

Freizeit und den Fußball, die Frauen und das Geld? Gab es nicht die Möglichkeit, miteinander <strong>im</strong><br />

Netz zu spielen? Verärgerung entsteht, und die so gut begonnene Netzfreundschaft bricht<br />

abrupt ab. [...] Dies ist ein (relativ harmloses) Beispiel für Kommunikationsstörungen, die<br />

zwischen fremden Kulturen, Sprachen und unterschiedlichen Nationen entstehen können“. 70<br />

Dies ist m.E. ein gar nicht so harmloses Beispiel für die - mit rassistischen<br />

Argumentationslinien kompatible - Strategie, Kommunikationsprobleme durch Ethnizität,<br />

Religion und ethnisch definierte ‘Kultur’ zu erklären. Wir haben es hier eben nicht mit<br />

‘Kommunikationsstörungen zwischen fremden Kulturen, Sprachen und unterschiedlichen<br />

Nationen’ zu tun, sondern mit der gezielten Einführung einer Etikettierung in eine vorher<br />

unproblematische Kommunikation.<br />

69 vgl z.B. FASCHING 1997, S. 92ff. sowie GÖTZ-HENRICH, S. 212<br />

70 BAACKE 1997, S. 31<br />

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Es bleibt <strong>im</strong> zitierten Text <strong>im</strong> Dunkeln, aus welcher Informationsquelle die deutschen<br />

Jugendlichen ‘etwas hören über ...’, wer das Subjekt ist hinter dem ‘sie werden vielleicht<br />

darauf aufmerksam gemacht, daß...’ Eltern? Freunde? Medien? Oder gar PädagogInnen?<br />

Woher auch die angeführten Informationen stammen: Es erstaunt, dass in eine<br />

Kommunikation, die sich vorher um Freizeitthemen drehte, politische Themen eingebracht<br />

werden - und zwar nicht irgendwelche, sondern solche, die aus dem <strong>Diskurs</strong> der<br />

Skandalisierung des Islam stammen.<br />

Was oder wer veranlasst die deutschen Jugendlichen, ausgerechnet den Terror<br />

islamischer Fundamentalisten in Algerien (und nicht etwa den - ebenso durch die<br />

deutschen Medien gegangenen - Terror gegen islamische Fundamentalisten in Algerien)<br />

und <strong>im</strong> Iran in ihre E-Mail-Brücke einzubringen? Wieso ein derart abseitiges Thema wie<br />

der Bau christlicher Kirchen in der - bekanntermaßen laizistischen - Türkei? 71 Es bleibt der<br />

Verdacht, dass hier - ob seitens einzelner deutscher Jugendlicher oder seitens einer<br />

ominösen Informationsquelle - gezielt Kommunikation sabotiert wurde, indem die<br />

türkischen Jugendlichen wiederholt auf ihre islamische Religion reduziert und mit diese<br />

Religion skandalisierenden Themen konfrontiert wurden: Themen, die für die<br />

Jugendlichen auf beiden Seiten der ‘Brücke’ keinerlei lebensweltliche Relevanz hatten.<br />

<strong>Das</strong>s der hier zitierte (sonst eher als ‘progressiv’ einzuschätzende) Medienpädagoge - zu<br />

Lebzeiten einer der führenden Vertreter seiner Disziplin in Deutschland - den<br />

rassistischen Begriff der ‘Überfremdung’ 72 zur Kennzeichnung der so entstandenen<br />

Kommunikationsprobleme benutzt, wirkt auf mich überaus befremdlich. Man mag hier<br />

einen medien<strong>pädagogischen</strong> Nachholbedarf sehen: Insbesondere unter den Bedingungen<br />

individualisierter, d.h. notwendig binnenmultikultureller Gesellschaften 73 und global<br />

vernetzter Kommunikationstechnologien - also: <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong> - muss<br />

71 Es sollte sich herumgesprochen haben, dass auch in Deutschland nicht ‘überall und ohne<br />

Einschränkungen’ Moscheen gebaut, geschweige denn betrieben werden können: Der 1996 entbrannte<br />

Kampf Duisburger Bürgerinitiativen, Pfarrer und Partei-Ortsverbände gegen die Gebetsrufe eines<br />

Muezzin erregte in Deutschland große massenmediale Aufmerksamkeit (zwar vermutlich erst nach der<br />

von BAACKE skizzierten Begebenheit, wohl aber vor Veröffentlichung seines Aufsatzes - vgl. JÄGER<br />

1998), Probleme mit Baugenehmigungen für Kirchen in der Türkei dagegen meines Wissens nicht<br />

72 ‘Überfremdung’ bezeichnet in rassistischen <strong>Diskurs</strong>en die Bedrohung einer - als einheitlich konzipierten -<br />

regionalen bzw. nationalen Kultur durch zunehmende Fremde und Fremdheit<br />

73 siehe oben unter 2.3.2.<br />

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Medienpädagogik m.E. die <strong>Diskurs</strong>e der interkulturellen Pädagogik bzw. einer ‘Pädagogik<br />

der Vielfalt’ (PRENGEL) zur Kenntnis nehmen. 74<br />

Beenden wir hier den Exkurs mit der Feststellung, dass auch bei dieser Defiziterzählung<br />

das verfolgte Ziel auf der meta<strong>pädagogischen</strong> Ebene liegt: „Die ohnehin unübersichtliche<br />

Kommunikation wird also durch ihre Globalisierung noch unübersichtlicher, und sie wird<br />

nicht leichter, wenn nicht pädagogische Programme sie begleiten“. 75 Hier schließt die<br />

Frage an: Muss Pädagogik in der heutigen Zeit ihr Klientel skandalisieren, um den<br />

eigenen Bestand, die eigene Finanzierung abzusichern? Darf Pädagogik das?<br />

<strong>Das</strong> Motiv vom Verlust der Pr<strong>im</strong>ärerfahrung durch Mediatisierung (bzw. aktueller:<br />

Virtualisierung) begleitet den <strong>pädagogischen</strong> Mediendiskurs spätestens seit ROUSSEAUs<br />

Forderung, „kein anderes Buch als die Welt“ in der kindlichen Erziehung zuzulassen: Alles<br />

Wissen solle über eigene unmittelbare sinnliche Weltwahrnehmung erworben werden, um<br />

unangemessenen Vorstellungen und Fehlurteilen vorzubeugen. 76 Dieses Motiv greift etwa<br />

GÖTZHENRICH in ihrer Dissertation ‘Erziehung und Bildung in der<br />

Informationsgesellschaft’ auf: Die „pr<strong>im</strong>äre Erfahrung <strong>im</strong> Hier und Jetzt“ schwinde<br />

zunehmend „angesichts der Dauerberieselung mit beliebig fernen, in Szene gesetzten<br />

Wirklichkeiten“ (diese Aussage wird hier allerdings noch pr<strong>im</strong>är an Film und Fernsehen<br />

festgemacht), angesichts dieses Defizits habe Schule die Aufgabe, „den Gebrauch vor<br />

allem auch der sogenannten Nahsinne zu trainieren und somit dazu beitragen, daß der<br />

junge Mensch lernt, auf seine eigene Wahrnehmung zu vertrauen, um für die<br />

Wahrnehmungsangebote aus der Medienwelt einen Vergleichsmaßstab zu besitzen“. 77<br />

Einen Aufsatz, der den Anspruch erhebt, sich dezidiert mit dem Verlust der<br />

Pr<strong>im</strong>ärerfahrung <strong>im</strong> Kontext der neuen Medien auseinanderzusetzen, legt ZÖPFL vor. 78<br />

Hier gesteht ZÖPFL zunächst ein, dass Erfahrung <strong>im</strong>mer vermittelte Erfahrung sei und<br />

somit nie in strengem Sinne ‘pr<strong>im</strong>är’ - was soweit der konstruktivistischen These<br />

74 vgl. PRENGEL 1995 - erste theoretische Ansätze, interkulturelle Bildung und <strong>Internet</strong><br />

zusammenzudenken, finden sich <strong>im</strong> Themenheft ‘Internationales Lernen’ der Zeitschrift ‘Computer und<br />

Unterricht’ (1998, Heft 30), und dort insbesondere <strong>im</strong> Beitrag von SUBROWEIT/VAN LÜCK<br />

75 BAACKE 1997, S. 27<br />

76 ROUSSEAU 1993 (Erstausgabe 1762), S. 356<br />

77 Götz-HENRICH 1996, S. 51 sowie S. 205<br />

78 der hier betrachtete Text ZÖPFLS ist sein Beitrag zum Tagungsband „Neue Medien - neue<br />

Gesellschaft?“ (BAACKE/SCHNATMEYER 1997)<br />

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entspricht, die Umwelt sei dem Individuum kognitiv unzugänglich, Wahrnehmung erfolge<br />

aktiv, sozial gebunden und auf Vorwissen aufbauend 79 -, um dann jedoch eine Zunahme<br />

der Indirektheit und Mittelbarkeit von Erfahrung mit dem medientechnischen Fortschritt zu<br />

konstatieren: „Die direkte, unmittelbare Begegnung mit anderen Menschen wird ersetzt<br />

durch einen mediatisierten, technisch umgeleiteten und anonymen<br />

Einbahnstraßenkontakt“. 80<br />

ZÖPFL ignoriert hier schlichtweg die interaktiven Potentiale neuer Medienentwicklungen;<br />

die Rezeption audiovisueller Medien wird als eine rein passive konzipiert, der noch nicht<br />

einmal der Status ‘sinnliche Betätigung’ zukommt: „Der Verlust sinnlicher Betätigungen<br />

reduziert den Menschen auf ein Funktionswesen nach dem Reiz-Reaktions-Schema, das<br />

weitgehend durch den Konsumdruck gesteuert wird“. Dieser veralteten behaviouristischen<br />

Rezeptionskonzeption wird ein Schreckensszenario der Virtualisierung an die Seite<br />

gestellt: Mediale Sekundärerfahrungen, der „Rückzug in virtuelle Welten“, führten zu<br />

einem Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion; Jugendliche würden so<br />

„der realen Alltagswelt entfremdet. Anstrengung, [...] Verzicht und Askese können so in<br />

ihrer grundsätzlichen Bedeutung von jungen Menschen kaum mehr erkannt werden“. 81<br />

Bei ZÖPFL wie bei GÖTZ-HENRICH ist zu fragen, ob die vorgenommene Trennung<br />

zwischen ‘Realität’ und ‘Medienwelten’ empirisch haltbar ist; das sowohl angesichts der<br />

Fragwürdigkeit einer Dichotomie ‘real’ - ‘virtuell’ aus konstruktivistischer Perspektive<br />

(siehe dazu oben unter 2.2.2.) als auch angesichts der Beobachtung, dass Lebenswelten<br />

Jugendlicher zunehmend Medienwelten sind, dass eine kategorische Trennung zwischen<br />

‘lebensweltlicher Erfahrung’ und ‘sekundär vermittelter medialer Erfahrung’ also <strong>im</strong>mer<br />

weniger Sinn macht.<br />

Bei beiden überrascht ferner, wie wenig das <strong>Internet</strong> selbst überhaupt thematisiert wird:<br />

So spricht GÖTZ-HENRICH zwar am Rande vom Computereinsatz, von Datenbanken und<br />

Hypertext, ‘<strong>Internet</strong>’ wird in pädagogischem Kontext jedoch nur einmal erwähnt (in einer<br />

Arbeit von 1996 über ‘Erziehung und Bildung in der Informationsgesellschaft’I), und zwar<br />

79 vgl. SCHMIDT 1994, S. 42f.<br />

80 ZÖPFL 1997, S. 86<br />

81 a.a.O., S.88 und S. 90<br />

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so: „Ob die Schulen [...] einen Anschluß ans <strong>Internet</strong> brauchen, mag vorerst dahingestellt<br />

bleiben“. 82 ZÖPFLS Beitrag von 1997 nennt zwar Telebanking und „Freizeit in der<br />

virtuellen Realität“ als Indizien für einen Rückgang unmittelbarer Erfahrungen, bleibt aber<br />

ansonsten mit seiner Argumentation <strong>im</strong> Rahmen der älteren Debatte über jugendliche<br />

Fernsehund Computernutzung. Der Begriff ‘<strong>Internet</strong>’ kommt nicht vor - Böswillige könnten<br />

hinter ZÖPFLs Aussage, dass „die Geisteswissenschaften ihre liebe Mühe [hätten], die<br />

neuen technischen Entwicklungen [<strong>im</strong> Medienbereich, S.D.] zu verstehen“, eine<br />

Selbstkundgabe vermuten. 83<br />

Eine weitgehende Vernachlässigung des <strong>Internet</strong> lässt sich auch bei SCHULTE<br />

beobachten, der sich in seiner Arbeit „Zwischen Bildschirm und Bildung. Lernen und<br />

Lehren in der ‘Informationsgesellschaft“‘ jedoch weniger ideologisch als die zuvor<br />

Genannten mit der Mediatisierung des Alltags auseinandersetzt. Hier wird zunächst<br />

betont, dass traditionell die Schule (und nicht etwa irgendein Medium) die Institution sei,<br />

die sekundäre Erfahrungen - <strong>im</strong> ungünstigen Fall ohne Rückbindung an die Lebenswelt-<br />

vermittle. Dies sei in ihrer historischen Funktion begründet: In den informationsarmen<br />

Lebenswelten der Vor- und Frühmoderne habe Schule den Auftrag gehabt, den Horizont<br />

begrenzter Pr<strong>im</strong>ärerfahrungen zu erweitern. 84 In einer Zeit reicher außerschulischer<br />

Sekundärerfahrungen sei jedoch der Ergänzungsauftrag von Schule dahingehend zu<br />

modifizieren, „zwischen den außerschulischen Lernmöglichkeiten beider Art zu vermitteln:<br />

Zwischen dem unmittelbaren Erfahrungslernen <strong>im</strong> konkreten Lebensvollzug und dem<br />

durch Medien präsentierten Lernen“. 85 Als konkrete pädagogische Konsequenz wird eine<br />

Öffnung von Schule angestrebt (allerdings nicht, wie etwa bei SCHULZ-ZANDER explizit<br />

und bei FEUERSTEIN <strong>im</strong>plizit angedacht, über das Medium <strong>Internet</strong> 86 , sondern nach dem<br />

Konzept der ‘Schule ohne Mauern’); auf der didaktischen Ebene wird der Schule die<br />

Aufgabe zugewiesen, SchülerInnen Kriterien zur Orientierung in und Beurteilung von<br />

82 GÖTZ-HENRICH 1996, S. 213<br />

83 ZÖPFL 1997, S. 86<br />

84 vgl. SCHULTE 1995, S. 26ff.<br />

85 SCHULTE 1995, S. 29<br />

86 vgl. SCHULZ-ZANDER 1997, S. 10 sowie FEUERSTEIN 1999, S. 193<br />

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medialen wie lebensweltlichen Erfahrungen zu vermitteln (dahinter ist unschwer KLAFKIs<br />

Konzeption der ‘kategorialen Bildung’ zu erkennen). 87<br />

Wenn wir oben ZÖPFL, GÖTZ-HENRICH und OPASCHOWSKI bescheinigt haben, an<br />

das konservativ-medienfeindliche Moment der Reformpädagogik anzuknüpfen, also<br />

ausgehend von am Medium bzw. an der Mediennutzung beobachteten Defiziten eine<br />

pädagogische Regulierung dieses Mediums bzw. seiner Nutzung anzustreben, so fällt bei<br />

SCHULTE auf, dass er das progressivschulreformerische Moment der Reformpädagogik<br />

aufgreift 88 : Defizite werden hier (ähnlich wie bei HAEFNER, auf den sich SCHULTE<br />

bezieht) zwar auch am Medium, vor allem aber am gegenwärtigen Bildungssystem<br />

festgemacht. SCHULTE instrumentalisiert die Informationsgesellschafts- und<br />

Mediatisierungsthematik, um sein schulreformerisches Anliegen vorzubringen. Dabei mag<br />

dieses Anliegen berechtigt sein - es wird bildungstheoretisch fundiert vorgetragen,<br />

reformpädagogische Topoi werden reflektiert und nicht ungebrochen übernommen -, zu<br />

kritisieren ist jedoch, dass die Spezifik der neuen Medien auch hier nur zur Legit<strong>im</strong>ation<br />

älterer pädagogischer Konzepte genutzt wird. Solche Konzepte mögen teilweise, wie<br />

SCHORB feststellt, „sehr flexibel, über das Bewußtsein ihrer Zeit und auch der Erzieher<br />

hinausgreifend“ und von daher auch auf neueste gesellschaftliche/pädagogische<br />

Entwicklungen anwendbar sein 89 ; ein größeres Ausmaß an Auseinandersetzung mit dem<br />

spezifisch Neuen des <strong>pädagogischen</strong> Umgangs mit dem <strong>Internet</strong> würde ich mir hier<br />

dennoch wünschen.<br />

Mit den Spezifika der Virtualität (<strong>im</strong> Sinne einer computer- und internetbasierten ‘Kultur<br />

der S<strong>im</strong>ulation’) beschäftigt sich TURKLE. Sie macht auf mögli- j che Gefahren der<br />

Virtualität aufmerksam - so der ‘Künstliche-KrokodilEffekt’: Erwerben Kinder Wissen durch<br />

S<strong>im</strong>ulationen, mag das S<strong>im</strong>ulierte (z.B. muntere Krokodilroboter in Disneyland oder auch<br />

dreid<strong>im</strong>ensional an<strong>im</strong>ierte Softwarekrokodile) in der realen Begegnung (z.B. <strong>im</strong> Zoo,<br />

jedoch gewiss nicht be<strong>im</strong> Flussdurchwaten) langweilig erscheinen -, bringt aber auch ein<br />

markantes Beispiel für die kulturelle Konstruiertheit der Kategorien ‘real’/’natürlich’ und<br />

‘virtuell’/’künstlich’. Eine Schülerin habe sich beklagt, dass ihre Freunde nur noch über das<br />

87 vgl. SCHULTE 1995, S. 29f. sowie KLAFKI 1996, S. 96<br />

88 vgl. SCHULTE 1995, S. 104ff.<br />

89 SCHORB 1995b, S. 22<br />

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<strong>Internet</strong> kommunizierten: „Früher war das alles nicht so künstlich. Wir telefonierten jeden<br />

Nachmittag miteinander“. TURKLE resümiert: „Für dieses Mädchen waren Telefonate<br />

Ausdruck einer natürlichen, unmittelbaren Nähe“. 90<br />

Während BAACKE in der hier angesprochenen Kommunikation via <strong>Internet</strong> weniger<br />

spezifische Gefahren als vielmehr - mit Stoßrichtung gegen den Mythos von der größeren<br />

Toleranz in der Netz-Kommunikationskultur - eine Verdopplung realweltlicher<br />

Kommunikationsprobleme drohen sieht 91 , schließt SCHORB an Positionen an, die eine<br />

‘Versingelung’, eine Gefährdung von Solidarität und verständigungsorientierten <strong>Diskurs</strong>en<br />

durch mediatisierte Kommunikation befürchten: „Weil es keines körperlichen Kontaktes<br />

bedarf, um einander nahe zu sein, wird das Handeln in der Gruppe, sich von Angesicht zu<br />

Angesicht gegenüberzutreten, zurückgedrängt durch die einfachen, keinen<br />

Konventionszwängen unterworfenen medialen Kontakte“. 92<br />

Wir haben diese Argumentationsstrategie bereits oben unter 3.3.3. kritisiert; zum einen,<br />

da hier ein Trend zur Totalvirtualisierung gezeichnet wird, an dem m.E. kein hinreichendes<br />

gesellschaftliches und ökonomisches Interesse besteht - mit TURKLE: „Weshalb müssen<br />

sich Virtualität und wirkliches Leben gegenseitig ausschließen? Weshalb können wir nicht<br />

beides haben?“ 93 - zum anderen, da sich mit zunehmender kultureller Aneignung der<br />

Netze Konventionen, Ordnungen bilden, die zwar nicht <strong>im</strong>mer mit netzexternen<br />

Sanktionen stabilisierbar sind, die das aber auch nicht nötig haben müssen: Wer etwa in<br />

einem MUD oder einem Diskussionsforum ein Verhalten an den Tag legt, das von seinen<br />

Interaktionspartnern nicht toleriert wird, wird vermutlich in der Folge geschnitten werden.<br />

Er/sie kann dann zwar möglicherweise mit einer neuen virtuellen Identität in der selben<br />

virtuellen Gemeinschaft einen Neuanfang wagen, das wird aber nur dann erfolgreich<br />

90 TURKLE 1998, S. 384f. - die US-amerikanische Psychologin TURKLE ist freilich nicht gerade<br />

als eine typische Vertreterin des deutschsprachigen <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong>es<br />

anzusehen; spätestens mit der Erscheinung der deutschen Übersetzung von ‘Life on the<br />

Screen’ (Deutsch ‘Leben <strong>im</strong> Netz’, 1998) wird sie jedoch auch hierzulande stark rezipiert<br />

91 vgl. BAACKE 1997, S. 32<br />

92 SCHORB 1995b, S. 15 - interessanterweise nennt dagegen gerade OPASCHOwSKI (1999, S. 128f.)<br />

Chancen neuer elektronisch vermittelter Beziehungsnetze: <strong>Das</strong> Netz als „virtueller Kontakthof“ für<br />

Schüchterne, als Neutralisator geschlechtspezifischen Kommunikationsverhaltens („Männer [...]<br />

schlüpfen geradezu in die Rolle moderner Klatschtanten [...] geben sich offener und ehrlicher [...] und<br />

sind dabei viel weniger aggressiv als auf anderen Kommunikationswegen“)<br />

93 TURKLE 1998, S. 387 - ihre Antwort: „Wir [werden] natürlich beides haben [...]. Die wichtigere Frage ist:<br />

‘Wie können wir das beste aus beiden herausholen?’“<br />

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gelingen, wenn er/sie sich nun enger an die jeweiligen Kommunikationsregeln hält bzw. in<br />

kleineren Schritten und mit Blick auf mögliche Verbündete an deren Veränderung arbeitet.<br />

Mit anderen Worten: Es erscheint mir nicht zulässig, die Tendenz einer internetbedingten<br />

Radikalisierung von Individualisierungsprozessen auf die D<strong>im</strong>ension des ‘Disembedding’,<br />

der Herauslösung aus den lokalen Zusammenhängen und der pr<strong>im</strong>ären Kommunikation<br />

zu verkürzen, vielmehr sollte auch die D<strong>im</strong>ension des ‘Reembedding’ in neu entstehenden<br />

Ordnungen (etwa in virtuellen Gemeinschaften) Beachtung finden. 94<br />

Kritik am <strong>pädagogischen</strong> Lamento über den Verfall der Pr<strong>im</strong>ärerfahrung kommt derzeit vor<br />

allem noch aus dem soziologischen Lager; so weist PAETAU darauf hin, dass die<br />

Geschichte der Kommunikation seit je als Geschichte ihrer Mediatisierung zu lesen sei,<br />

dass Entkoppelung und Mediatisierung von Kommunikation Gesellschaft stabilisiere und<br />

dass also eine normative Orientierung an unmittelbarer Kommunikation zwar für<br />

best<strong>im</strong>mte sozialpsychologische Fragestellungen sinnvoll, gesellschaftstheoretisch jedoch<br />

nicht haltbar sei. 95<br />

Auch soziologisch, aber pädagogisch anschlussfähiger (allein schon durch die<br />

Veröffentlichung in einer <strong>pädagogischen</strong> Zeitschrift) argumentiert VOGELGESANG in<br />

seinem Beitrag über die jugendlichen Subkulturen der ‘Netzfreaks’, der Bewohnerinnen<br />

virtueller Welten. Wie bei PAETAU wird zunächst gegen die Abwertung virtueller<br />

gegenüber ‘ursprünglicher’ Erfahrung Stellung bezogen. Diese Abwertung, die sich oft auf<br />

angebliche anthropologische Konstanten berufe, sei tatsächlich als normative Setzung zu<br />

dekonstruieren. Statt dessen müsse man sich vielmehr „beide Formen der Welterfahrung<br />

[...] als auf der gleichen Ebene liegend und einander ergänzend“ vorstellen. 96<br />

Mit doppelter Zielrichtung gegen die Rede von der mediatisierungsbedingten<br />

Erlebnisarmut einerseits 97 und andererseits gegen JAN-UWE ROGGEs These, hinter der<br />

massiven Inanspruchnahme des medienkulturellen Erlebnisangebots durch Jugendliche<br />

94 siehe dazu auch oben unter 3.2.1. und 3.2.2.<br />

95 vgl. PAETAU 1997, S. 106f. sowie S. 123<br />

96 VOGELGESANG 1997, S. 28<br />

97 zu finden etwa bei ZÖPFL (1997, S. 89): „einfaches, unmittelbares Spiel [...1 ‘ermöglicht Welt-Begreifen<br />

und Welt-Erfassen [...] ... ein subtiles Ventil, um negative Erfahrungen wie Kränkungen, Ärger,<br />

Demütigungen auf eine neue Ebene zu heben und dabei zu verarbeiten’ - Wie armselig und pädagogisch<br />

wertlos erweisen sich davon ausgehend die meisten Computer- und Videospiele!“ (enthält ein Zitat von<br />

HANNE TÜGEL)<br />

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und Erwachsene sei eine „Grundstörung des Zivilisationsprozesses“ zu vermuten,<br />

rehabilitiert VOGELGESANG den „spannenden Müßiggang“ in virtuellen Erlebniswelten.<br />

Dieser sei erstens meist mit einem hohen Ausmaß an Medienkompetenz verbunden,<br />

zweitens seien Verhaltensweisen situationsbezogen gerahmter „partielle Entzivilisierung“<br />

durchaus den plural ausdifferenzierten Gegenwartsgesellschaften angemessen: „In<br />

bewußter Distanz zu den Selbstdisziplinierungsanforderungen auf<br />

gesamtgesellschaftlicher Ebene entstehen affektive Räume und Situationen, in denen<br />

gezielt außeralltägliche Zustände hergestellt werden“. 98<br />

Hier bleibt freilich der nagende Zweifel bestehen, ob die ‘partielle Entzivilisierung’ in<br />

virtuellen Erlebniswelten nicht doch - in Einzelfällen oder gar <strong>im</strong> langfristigen Trend<br />

gesellschaftsweit - auch Entzivilisierung <strong>im</strong> RL, in der ‘wirklichen Wirklichkeit’ zu fördern<br />

vermag. <strong>Das</strong> müsste aber fairerweise von den meisten Formen des Rauschs und des<br />

Spiels gesagt werden.<br />

Virtuelle Gemeinschaften und Erlebniswelten werfen die oben (unter 3.2.2.) mit TURKLE<br />

gestellten Fragen nach Sucht oder Persönlichkeitsförderung, Flucht oder Widerstand auf.<br />

Während SCHORB in diesem Kontext eher die Gefahr einer Ausblendung unliebsamer<br />

Persönlichkeitsanteile und somit der Realitätsflucht in der Online-Kommunikation<br />

thematisiert, n<strong>im</strong>mt DÖRING an, dass authentischer Austausch und Suche nach<br />

Unterstützung für ‘reale’ Schwierigkeiten hier gegenüber ‘purer Maskerade’ und<br />

Eskapismus überwiegen. 99<br />

Halten wir also fest: Sowohl die Abwertung medialer Erfahrung und computervermittelter<br />

Kommunikation gegenüber ihren ‘ursprünglich-pr<strong>im</strong>ären’ Korrelaten als auch die<br />

Konstruktion einer drohenden Verdrängung letzterer durch erstere erscheinen fragwürdig.<br />

Zu rechtfertigen sind diese Bedrohungsdiagnosen bestenfalls mit Rekurs auf mögliche<br />

Risiken wachsender Gleichgültigkeit gegenüber realer Gewalt und Umweltzerstörung<br />

sowie auf die Gefahr der Herabwürdigung menschlicher Körperlichkeit.<br />

Körper, Natur und das Verhältnis Realität - Virtualität sind zentrale Themen eines in<br />

Schrift, Wort und Bild dokumentierten Streitgesprächs zwischen SCHORB und FRANZ<br />

98 VOGELGESANG 1997, S. 31f.<br />

99 vgl. SCHORB/RÖLL 1999, S. 14ff. sowie DÖRING 1999, S. 38f. - auch DÖRING ist keine Pädagogin<br />

(sondern Psychologin), aber publiziert in <strong>pädagogischen</strong> Kontexten<br />

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JOSEF RÖLL. Gegen die These einer virtualitätsbedingten Entfernung des Menschen von<br />

seinen natürlichen Lebensgrundlagen 100 betont SCHORB hier den Lernwert von<br />

S<strong>im</strong>ulationen ökologischer Prozesse, besteht aber auf einer kategorischen Trennlinie<br />

zwischen real und virtuell: Aufgabe des Mediums sei es, auf etwas anderes zu verweisen,<br />

nämlich auf die - wenn schon nicht objektiv, so doch zumindest intersubjektiv gegebene -<br />

reale Realität. RÖLL vertritt dagegen Positionen in der Nähe von TURKLE, wenn er auf<br />

die Funktion virtueller Realitäten als Übungsfeld für Sexualität und Selbstbewusstsein, die<br />

Verneinung einer grundsätzlichen Differenz zwischen unmittelbarer und medial<br />

vermittelter Interaktion und den Trend einer Entgrenzung des Körperkonzepts vom<br />

materiellen Körper abhebt.“ 101<br />

Während der <strong>Diskurs</strong> von Körper und Mediatisierung/Virtualität bei SCHORB/RÖLL wie<br />

auch <strong>im</strong> außer<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> 102 auf hohem Niveau geführt wird, finden sich bei<br />

OPASCHOWSKI und bei ZÖPFL dazu lediglich Listen diverser angeblich medien- (und<br />

das heißt hier meist: fernseh-) bedingter körperlicher Schädigungen und<br />

psychosomatischen Beschwerden 103 - man fühlt sich unweigerlich an eine historische<br />

Kollektion pädagogischer Mahnungen vor Masturbationsfolgen erinnert, aber auch an die<br />

reformpädagogische Kritik der Gesundheitsgefährdung durch die ‘Paukschule’. 104 Bei<br />

ZÖPFL sollen diese Auflistungen „beweisen“, dass „zu großer Medienkonsum zu<br />

Bequemlichkeit, Verweichlichung [sic!] sowie [...] zu mangelnder Frustrationstoleranz“<br />

führe. 105 Als Ziel erscheint bei beiden eine negative Medienpädagogik: eine Erziehung, die<br />

zu weniger Medienkonsum und mehr unmittelbarer zwischenmenschlicher<br />

Kommunikation, mehr körperlicher Betätigung und mehr Naturerfahrung anleitet. 106<br />

100 so etwa aufgestellt von PROVENZO (nach TURKLE 1998, S. 457)<br />

101 vgl. SCHORE/RÖLL 1999, S. 13ff.; hier noch ein kleiner Ausschnitt zur Illustration der Differenz<br />

zwischen SCHORBS eher materialistischer und RÖLLs konstruktivistischer Perspektive: (Einwurf<br />

SCHORB:) „Fett bleibt fett“ - (RÖLL:) „‘Fett is beautiful’ [...] es ist nichts so gegeben, dass es so sein<br />

muss“ (a.a.O., S. 15)<br />

102 neben den <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> präsenten Nicht-PädagogInnen TURKLE, VOGELGESANG und<br />

DÖRING wären hier u.a. BÜHL und LOVINK/SCHULTZ zu nennen<br />

103 vgl. ZÖPFL 1997, S. 88f. sowie OPASCHOWSKI 1999, S. 86 - siehe auch kritisch dazu oben unter<br />

3.2.3.<br />

104 vgl. OELKERS 1989, S. 61<br />

105 ZÖPFL 1997, S. 88<br />

106 vgl. OPASCHOWSKI 1999, 5. 88ff. sowie ZÖPFL, S. 91 f.<br />

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Was hier eher für den Bereich der Freizeiterziehung postuliert wird, wendet GÖTZ-<br />

HENRICH auf den schulischen Bildungsauftrag an: Als Strategie gegen die<br />

enträumlichenden Tendenzen der neuen Kommunikationstechniken wird Schule<br />

aufgefordert, Raum und Zeit sinnlich erfahrbar zu machen: „Unter Verzicht auf mediale<br />

Präsentation wird die nähere Umgebung erkundet. Erst der körperliche Einsatz macht<br />

deutlich, was ‘Entfernung’ heißt und wie widerständig die reale Welt ist; vor allem in der<br />

Körperlichkeit wird die menschliche Begrenztheit bewußt“. 107<br />

Wenn auch <strong>im</strong> Bereich der ergonomischen Gestaltung von Computerarbeitsplätzen<br />

gewiss noch einiges getan werden kann - sollten etwa den ganzen Körper einbeziehende<br />

VR-Schnittstellen je in Massenproduktion gehen und einen Verbreitungsgrad ähnlich dem<br />

gegenwärtigen von Computermonitoren erreichen, dann würde ein Medium zur Verfügung<br />

stehen, das besser als die vorangegangenen das pädagogische Postulat der<br />

‘Ganzheitlichkeit’ (also der möglichst ganzkörperlichen, mehrkanaligen Wahrnehmung)<br />

erfüllen würde und womöglich auch als ‘Cybergouvernante’ bei Bedarf Hinweise zu einer<br />

gesunden Körperhaltung geben könnte - so ist doch festzuhalten, dass nicht nur<br />

SCHWAB/STEGMANN und die AutorInnen der jüngsten ShellJugendstudie, sondern auch<br />

OPASCHOWSKI selbst keinerlei empirische Hinweise auf eine geringere sportliche (also:<br />

körperliche) Betätigung von Computernutzerinnen fanden - eher war das Gegenteil der<br />

Fall) 108 Bei den Gegensatzkonstruktionen ‘Körperlichkeit vs. Virtualität’ bzw.<br />

‘widerständige, authentische Realwelt vs. glatte, unechte Medienwelt’ oder ‘natürliche<br />

Pr<strong>im</strong>är- vs. künstliche Sekundärerfahrungen’ scheint es sich um die falschen Alternativen<br />

zu handeln.<br />

107 GÖTZ-HENRICHs 1996, S. 207<br />

108 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 117 sowie OPASCHOWSKI 1999, S. 44<br />

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Ziehen wir ein Resümee: Im hier untersuchten Ausschnitt des deutschsprachigen<br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>es scheint eine differenzierte Kritik der spezifischen Medialität des<br />

<strong>Internet</strong> erst langsam zu entstehen bzw. rezipiert zu werden. An vielen Orten bleibt die<br />

pädagogisch-theoretische Analyse weit hinter der technischen Entwicklung zurück, unter<br />

Etiketten wie ‘neue Medien’, ‘Informationsgesellschaft’ oder auch ‘Generation @’ finden<br />

sich Gemeinplätze aus 230 Jahren pädagogischer Kritik an Sekundärerfahrung und<br />

Mediatisierung, fokussiert insbesondere auf das Fernsehen; neue Potentiale des <strong>Internet</strong><br />

werden in diesem <strong>Diskurs</strong> nur am Rande berücksichtigt.<br />

Wo die medialen Besonderheiten bei der Nutzung des <strong>Internet</strong> (mit dem Schwerpunkt auf<br />

jugendlicher Freizeitnutzung) in der <strong>pädagogischen</strong> Reflexion problematisiert werden,<br />

finden sich einerseits potentiell gegenmoderne Motive von ‘Überflutung’ und<br />

‘Orientierungslosigkeit’, andererseits werden internetbedingte Tendenzen zur<br />

Radikalisierung von Individualisierungsprozessen zwar wahrgenommen, jedoch in einer<br />

oft auf die Komponente des ‘Disembedding’ verkürzten Weise. Differenziertere Ansätze,<br />

die Prozesse des ‘Reembedding’ auf der Ebene des Netzes und Chancen der Virtualität<br />

nicht kategorisch abwerten bzw. ausblenden, finden sich fast nur bei NichtPädagogen<br />

(DÖRING, VOGELSANG, TURKLE - eine Ausnahme ist hier RÖLL).<br />

Mit den vorherrschenden Defizitbeschreibungen werden verschiedenste Ziele verfolgt: Auf<br />

der meta<strong>pädagogischen</strong> Ebene wird für mehr Zeit für Kinder, Förderung der<br />

Volksgesundheit und mehr Freizeitpädagogik (ZÖPFL, OPASCHOWSKI), für mehr<br />

Medienpädagogik (BAACKE) und für eine Reform von Schule und Unterricht (SCHULTE)<br />

plädiert. Auf der <strong>pädagogischen</strong> Ebene finden sich teils gegensätzliche Variationen über<br />

das Thema ‘Medienmündigkeit’: Während BAACKE und SCHORB eher an einer<br />

Kompetenzsteigerung der Nutzerinnen gelegen ist, wird bei ZÖPFL, GÖTZ-HENRICH und<br />

OPASCHOWSKI eine Erziehung zur Mäßigung des Medienkonsums bzw. Prävention von<br />

Mediensucht fokussiert.<br />

OPASCHOWSKI wendet sich hier dezidiert gegen das Leitbild des mündigen Nutzers -<br />

dieses täusche kontrafaktisch eine „heile Lebenswirklichkeit vor, in der Kinder und<br />

Jugendliche souverän mit der medialen Angebotsvielfalt umgehen können“ - sowie gegen<br />

Versuche der „Instrumentalisierung der Medien für pädagogisch-therapeutische Zwecke“.<br />

Zwar nicht Medienverzicht, aber die „Anleitung zu weniger Medienkonsum“ wird hier zur<br />

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zentralen Strategie einer Medienpädagogik, die sich dann „als wesentlicher Bestandteil<br />

einer Allgemeinbildung <strong>im</strong> künftigen Medienzeitalter“ etablieren könne. 109<br />

OPASCHOWSKIS pädagogische Dichotomien - „Kuscheln gegen den Stress“ und „Toben<br />

<strong>im</strong> Freien“ auf Nordseeinseln vs. „totale Reizüberflutung“, familiale Wertevermittlung durch<br />

„Eltern und Großeltern“ vs. mult<strong>im</strong>ediales Entertainment zur Entlastung Alleinerziehender,<br />

„Einflußkraft der hauptberuflichen Erzieher in Elternhaus und Schule“ vs. die<br />

gehe<strong>im</strong>nisvolle Macht globalisierter Medien 110 - schließen in Inhalt und rhetorischer Form<br />

(binäre oppositionelle Codes, die die Notwendigkeit einer moralischen Entscheidung<br />

suggerieren) nahtlos und unreflektiert an die reformpädagogische Modernisierungskritik<br />

an. 111 Die hier konstruierte pädagogische Idylle wird m.E. - ebenso wie die aus ihr<br />

abgeleitete negative Medienpädagogik - einer Gesellschaft unter den Bedingungen<br />

fortgeschrittener reflexiver Modernisierung nicht gerecht und steht in der Gefahr,<br />

gegenmoderne Lösungswege nahezulegen.<br />

4.1.3. Problematisierung komplexer Auswirkungen des <strong>Internet</strong><br />

Bisher haben wir untersucht, in welcher Weise das Verhältnis zwischen dem Medium<br />

<strong>Internet</strong> - seinen Inhalten, seinen formalen Merkmalen - und jugendlichen Nutzerinnen in<br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>en als defizitär, als bedrohlich thematisiert wird. In diesem<br />

Abschnitt soll nun ein Augenmerk auf die pädagogische Reflexion der komplexen<br />

gesellschaftlichen Auswirkungsdynamik des <strong>Internet</strong> gerichtet werden, und das vor der<br />

Folie unserer Beobachtungen zur Radikalisierung reflexiver Modernisierung durch das<br />

<strong>Internet</strong> in Kapitel 3. In loser Anlehnung an die dort vorgenommene Gliederung soll hier<br />

die Rezeption der folgenden sechs Themenkomplexe <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong><br />

beleuchtet werden:<br />

– Transformationsprozesse des ökonomischen Systems bzw. der Arbeitswelt,<br />

– Transformationsprozesse <strong>im</strong> Bildungssystem,<br />

– Verlagerung sozialer Netzwerke ins <strong>Internet</strong>,<br />

109 OPASCHOWSKI 1999, S. 86f. sowie S. 90<br />

110 a.a.O., S. 90, S. 87 und S. 79<br />

111 vgl. OELKERS 1989, S. 12 und S. 69<br />

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– internetbedingte Transformationen von Demokratie und Öffentlichkeit,<br />

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– Exklusion aus dem System <strong>Internet</strong> bzw. Polarisierung von (Welt-)Gesellschaft, sowie<br />

– internetbedingte bzw. internetvermittelte Disziplinierung und Kontrolle.<br />

Dabei ist jeweils zu fragen, welche Entwicklungen diagnostiziert/prognostiziert werden<br />

und welche <strong>pädagogischen</strong> und meta<strong>pädagogischen</strong> Konsequenzen daraus gezogen<br />

werden. Wenden wir uns also dem ersten Themenkomplex auf unserer Liste zu.<br />

Transformationsprozesse in Ökonomie und Arbeitswelt <strong>im</strong> Kontext von Informatisierung<br />

und <strong>Internet</strong> werden aus pädagogischer Perspektive ausführlich bei HAEFNER behandelt:<br />

Die von uns oben als Mechanisierung (auch kognitiver) menschlicher Arbeit, als<br />

Verflüssigung des Arbeitsmarktes und als Verschiebungen gesellschaftlicher Arbeit<br />

beschriebenen Trends fasst HAEFNER zusammen in der Prognose eines<br />

vereinheitlichten ‘Marktes kognitiver Prozesse’. Die Gesellschaft nutze diese Prozesse, ob<br />

menschlich oder technisch realisiert, nach Effizienzerwägungen; daher ergebe sich für<br />

Pädagogik die Aufgabe, Menschen insbesondere für die Tätigkeiten zu qualifizieren, die<br />

nur unter unrentablem Aufwand bzw. gar nicht automatisierbar seien, d.h. komplexe,<br />

kreative, über festgelegte Aufgaben und Routinen hinausgehendeLeistungen.’ 112<br />

HAEFNERs wesentliche Zielperspektive ist jedoch eine metapädagogische auf der Ebene<br />

des Bildungssystems; wir kommen darauf zurück.<br />

Eine drohende Vernichtung von Arbeitsplätzen insbesondere <strong>im</strong> Bereich der niedrig<br />

qualifizierten Arbeitnehmerinnen konstatiert MIKOS mit Rekurs auf BÜHL. Da trotz<br />

Rationalisierung der Bedarf an komplexen Tätigkeiten - man könnte hinzufügen: an<br />

‘Gewährleistungstätigkeiten’ 113 - bestehen bleibe, ergebe sich für Jugendliche die<br />

Notwendigkeit, eine vielfältige Bildung inklusive medien- und computertechnologischer<br />

Kompetenzen zu erwerben. Der Pädagogik wird von MIKOS die Aufgabe zugewiesen, den<br />

Erwerb dieser Kompetenzen für alle Jugendlichen institutionell zu ermöglichen, um so<br />

einer Privatisierung des computer- und internetbezogenen Lernens und damit dem Risiko<br />

einer Verschärfung sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken. 114<br />

112 vgl. HAEFNER 1995, S. 85ff. sowie S. 105 und S. 107f. - Die Förderung spezifisch menschlicher<br />

Fähigkeiten angesichts von Informatisierungstendenzen wird (mit Rekurs auf HEINTZ) auch angemahnt<br />

bei GöTZ-HENRICH (1996, S. 224)<br />

113 siehe dazu oben unter 3.1.1<br />

114 vgl. MIKOS 1997, S. 67<br />

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Auswirkungen von Telearbeit auf Geschlechterverhältnis und Familie werden von<br />

LAUFFER angeschnitten: Eine erleichterte Koordinierbarkeit von Berufstätigkeit und<br />

Kindererziehung insbesondere für Alleinerziehende, die Entstehung neuer Modelle<br />

familialer Erziehung und Verschiebungen in der geschlechtlichen Rollenverteilung werden<br />

hier zwar als spekulative Möglichkeiten genannt, jedoch ohne schon pädagogische<br />

Konsequenzen zu ziehen; hier wird vorerst nur Forschungsbedarf angemeldet. 115<br />

Auch MIKOS thematisiert Veränderungen des Familienlebens durch eine<br />

Entroutinisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt sowie durch Telearbeit. Dabei weist<br />

er vor allem auf die Schattenseite der Individualisierungsprozesse hin: So wird das Motiv<br />

der durch He<strong>im</strong>arbeit wegfallenden Notwendigkeit externer Kinderbetreuung hier gleich in<br />

doppelter Weise dekonstruiert: Zum einen sei konzentriertes Arbeiten bei gleichzeitiger<br />

Beaufsichtigung der eigenen Kinder oft schwierig, zum anderen seien die Kinder<br />

„vielleicht [...] ja auch ganz froh, wenn die Eltern nicht permanent zu Hause sind“. Die<br />

Auflösung arbeitsweltlicher Rituale und Routinen durch Telearbeit führe ferner zu einer<br />

verstärkten Individualisierung der Alltagsplanung, und das heißt (nicht nur) für Eltern:<br />

erhöhte Anforderungen an Alltagsmanagement. 116 Aus diesen Überlegungen zieht auch<br />

MIKOS keine unmittelbaren <strong>pädagogischen</strong> Schlussfolgerungen, sie leiten jedoch hin zu<br />

seiner Konzeption von Medienpädagogik und Medienmündigkeit <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong>,<br />

die unter 4.2.2. diskutiert werden soll.<br />

THIELE setzt sich kritisch mit denjenigen Konzeptionen von Medienkompetenzvermittlung<br />

auseinander, die sich hauptsächlich über arbeitsweltliche Anforderungen legit<strong>im</strong>ieren:<br />

Während diesbezügliche Postulate der Medienpädagogik lange ungehört verhallt seien,<br />

bilde sich seit Mitte der 90er Jahre ein breiter Konsens darüber, dass Kinder und<br />

Jugendliche verstärkt be<strong>im</strong> Erwerb von Medienkompetenz gefördert werden müssten. Als<br />

Begründung werde häufig die zunehmenden Relevanz von Computernetzen in der<br />

Arbeitswelt angeführt. 117 Gegen die in diesem <strong>Diskurs</strong> meist vorgenommene Verkürzung<br />

von Computer- bzw. Netzkompetenz auf Handhabungsfertigkeiten und Funktionswissen<br />

setzt THIELE ein weiteres Begriffsverständnis, welches auch die Fähigkeiten umfasst,<br />

115 vgl. LAUFFER 1997, S. 109<br />

116 MIKOS 1997, S. 66<br />

117als Beispiel ließe sich die Presseerklärung zum Start der Initiative ‘Schulen ans Netz’ anführen,<br />

abgedruckt u.a. in Computer und Unterricht Nr. 25, Jg. 7 (1997), S. 6<br />

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„die gesellschaftliche Bedeutung und die ökonomischen Zusammenhänge der<br />

Medienproduktion einschätzen und für das eigene Handeln werten [zu] können“ sowie<br />

„Medien für die Artikulation eigener Interessen produktiv nutzen [zu] können“. 118<br />

Pädagogik wird somit die Aufgabe zugewiesen, auf die durch das <strong>Internet</strong> radikalisierte<br />

Informatisierung des ökonomischen Systems nicht nur mit Qualifizierungsmaßnahmen,<br />

sondern mit einer umfassenden Bildungskonzeption zu antworten, bei der sowohl die<br />

Analyse sozioökonomischer Kontexte der Computernetze als auch aktive<br />

Interessenvertretung mitgedacht werden.<br />

Pädagogische Reaktionen auf internetbedingte Transformationen des ökonomischen<br />

Systems können somit differenziert werden in solche, die auf Qualifikation setzen - und<br />

dies entweder in s<strong>im</strong>pler Adaption arbeitsweltlicher Anwendungskompetenz-<br />

Anforderungen oder (wie bei HAEFNER und GÖTZ-HENRICH) mit komplementärem<br />

Bezug auf Automatisierbarkeit - sowie solche, die Qualifikation in eine umfassende<br />

Bildungskonzeption einbetten; wobei THIELE dezidiert die Position bezieht, dass es „nicht<br />

Auftrag von allgemeinbildender Schule, Kinder- und Jugendhilfe ist, Aufgaben der<br />

beruflichen Bildung zu übernehmen“. 119<br />

Damit sind wir be<strong>im</strong> Themenkomplex internetbedingter Transformationsprozesse <strong>im</strong><br />

Bildungssystem angelangt.<br />

Der durch den informationsgesellschaftlichen Wandel von Arbeitswelt bedingte Wandel<br />

der Bildungswelt ist zentrales Thema bei HAEFNER. Hier wird zunächst ein<br />

Defizitszenario gezeichnet (‘Die neue Bildungskrise’): Durch zunehmende<br />

Automatisierung vormals menschlicher Arbeit bzw. deren internetvermittelte Verlagerung<br />

in Billiglohnländer sinke der Qualifikationsbedarf in Deutschland und damit auch die<br />

staatlichen Bildungsausgaben; eine Polarisierung des Bildungssystems - hier die<br />

öffentliche Massenschule mit ‘deregulierten’ kognitiven Lernzielen, die de facto nur noch<br />

Sozialarbeit betreibe, dort die Privatschule, die die informationsgesellschaftliche Elite<br />

heranbilde - sei zu erwarten . 120<br />

118 THIELE 1997<br />

119 ebd.<br />

120 vgl. HAEFNER 1995, S. 100ff.; siehe auch oben unter 3.1.2.<br />

42


Diesem ‘Trendszenario’ wird als anzustrebendes Ziel ein ‘Wunschszenario’<br />

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gegenübergestellt, das eine Reform schulischer Inhalte (die oben erwähnte Konzentration<br />

der Didaktik auf Kompetenzbereiche jenseits des effizient Automatisierbaren), Methoden<br />

(LehrerInnen als aktive Gestalterinnen von Lernumgebungen aus interaktiven Medien und<br />

sozialem Miteinander) und Organisationsformen (weg vom fachbezogenen Unterricht hin<br />

zu umfassender Berücksichtigung informationsgesellschaftlicher Realität) mit einer<br />

verbesserten LehrerInnenausbildung (inklusive einer verpflichtenden Berufstätigkeit<br />

außerhalb von Schule) und Schulausstattung (der nach <strong>pädagogischen</strong> Maßgaben<br />

gestaltete Laptop für jedeN Schülerin) verknüpft. Als Grundvoraussetzung wird dabei eine<br />

reale Stabilität der Bildungsausgaben pro Kopf benannt. 121<br />

HAEFNER entwirft hier eine pr<strong>im</strong>är metapädagogische Konzeption: Es geht ihm darum,<br />

„in der Gesellschaft Kräfte“ zu erwecken, die willens seien, die <strong>im</strong> Wunschszenario<br />

angestrebten Ziele zu erreichen. Diese Kräfte sieht er zum einen innerhalb des<br />

Bildungswesens („Lehrer und Hochschullehrer haben neben ihren Lehrverpflichtungen<br />

ausreichend Zeit, in den Schul- und Semesterferien sich mit der Zukunft des<br />

Bildungswesens zu beschäftigen“), zum anderen in der Wirtschaft, die den Standortfaktor<br />

Bildung - <strong>im</strong> Dienste sozialer und politischer Stabilität sowie des Vorsprungs „für deutsche<br />

Produkte und Wertschöpfung“ - neu entdecken müsse. 122<br />

Trotz seiner bisweilen naiv bis nationalistisch anmutenden Thesen findet HAEFNER <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> Anklang: so bei SCHORB und bei SCHULTE. 123 SCHULTE sieht<br />

in der (sozio-)technischen Entwicklung anders als HAEFNER jedoch weniger Gefahren<br />

als vielmehr Chancen zu längst überfälligen Schulreformen: „Die Entwicklung der<br />

Kommunikationsmedien [stellt] die Schule und die in ihr vermittelten Inhalte grundsätzlich<br />

in Frage. Sie zwingt Pädagogen und Bildungspolitiker dazu, über die veränderten<br />

121 vgl. a.a.O., S. 104ff. - die Idee des Laptops für jeden Schüler (mit Unterstützungsleistungen seitens der<br />

Privatwirtschaft zu realisieren bis 2006) wurde jüngst von Bundesbildungsministerin BULMAHN<br />

aufgegriffen und in der Folge kontrovers diskutiert (vgl. JÖRNS 2000)<br />

122 HAEFNER 1995, S. 104<br />

123 vgl. SCHORE 1995b, S. 27f. sowie SCHULTE 1995, S. 17ff. - HAEFNER ist m.E. nicht nur für eine<br />

unreflektierte Übernahme latent nationalistischer Topoi der Standortdebatte zu kritisieren, sondern auch<br />

aufgrund seiner polarisierenden Äußerungen zur ‘Altengesellschaft’: „‘Die Alten’ haben einen hohen<br />

medizinischen Bedarf (siehe Pflegeversicherung), sie wollen ihren Lebensstandard erhalten [...].<br />

Insbesondere aber haben ‘die Alten’ wenig Investitionsinteressen, da potentielle Renditen ihnen selber ja<br />

nur noch sehr begrenzt zukommen - dies gilt ganz besonders für Investitionen in Humankapital“<br />

(HAEFNER 1995, S. 98)<br />

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Funktionen schulischen Lernens und Lehrens als Ganzes nachzudenken und Alternativen<br />

zur tradierten Praxis zu entwerfen“. 124 Mit Bezug nicht auf HAEFNER und den Standort<br />

Deutschland, sondern auf G. HOOFFACKER und gesellschaftliche<br />

Polarisierungstendenzen wird bei SCHINDLER die „drohende Bildungskatastrophe“<br />

behandelt; als Präventionsmaßnahme werden hier Schulen, öffentliche Einrichtungen und<br />

Rundfunkanstalten aufgefordert, eine ‘informationelle Grundversorgung’ - also<br />

Netzzugänge, Informationsaufbereitung und Medienkompetenzvermittlung -<br />

sicherzustellen.<br />

Im hier betrachteten Ausschnitt des <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong>es nicht gefunden<br />

werden konnte eine Thematisierung möglicher Veränderungen <strong>im</strong> Verhältnis von Schule<br />

und Jugendarbeit <strong>im</strong> Kontext <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>Einsatzes. Zwar fordert THIELE<br />

verstärkte Kooperation von Jugendarbeit und Schule, um Vermittlung von<br />

Medienkompetenz abzusichern 125 ; noch nicht thematisiert wird hingegen, wie<br />

internetbedingte Veränderungen schulischen Lernens sich auf Jugendarbeit auswirken<br />

könnten. Kommen wir zum nächsten Punkt.<br />

Tendenzen zur Verlagerung sozialer Netzwerke ins <strong>Internet</strong> werden als Herausforderung<br />

für Pädagogik bei ERTELT und bei MIKOS aufgegriffen: Während MIKOS in der<br />

zunehmenden Relevanz der Gestaltung von Kulturen und Gemeinschaften <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />

einen weiteren Grund für die Forderung nach Medienkompetenzvermittlung sieht, betont<br />

ERTELT eher die Notwendigkeit struktureller Veränderungen pädagogischer Praxen:<br />

„Pädagogische Arbeit mit Computern und <strong>Internet</strong> sollte [...] die technischen und sozialen<br />

Veränderungen in der Informationsgeseiischaft als ein Anforderungsprofil an ihr Handeln<br />

aufnehmen. [...] Konkret heißt das, dass Netzstrukturen eine Entsprechung in vernetzter<br />

sozialer und kultureller Arbeit finden müssten und Ortsunabhängigkeit und Internationalität<br />

sich in Konzepten mobiler und grenzfreier Aktivitäten widerspiegeln sollten“. 126<br />

Mit der Entwicklung neuer Kulturformen durch Jugendliche <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> beschäftigt sich<br />

RÖLL; er prognostiziert in deren Folge einen Wandel der Kommunikationskultur unserer<br />

Gesellschaft wie auch der Rolle außerschulischer Pädagoginnen, führt letzteres aber <strong>im</strong><br />

124 SCHULTE 1995, S. 12 - siehe dazu auch oben unter 1.1.2.<br />

125 THIELE 1997<br />

126 ERTELT 1999, S. 30; vgl. MIKOS 1997, S. 67 (mit Rekurs auf DOUGLAS KELLNER)<br />

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vorliegenden Artikel nicht weiter aus. 127 Sehr konkrete pädagogische Aufträge <strong>im</strong> Kontext<br />

virtueller Gemeinschaften formuliert hingegen DÖRING: In <strong>Internet</strong>projekten sollte die<br />

Vielfalt solcher Gemeinschaften „möglichst umfassend vorgestellt und ein bewusster<br />

Auswahlprozess angeregt werden, damit die Beteiligten nicht bei den erstbesten Foren<br />

hängen bleiben“. 128 Der noch weitergehende Schritt, an der Entwicklung eigener Foren zu<br />

arbeiten, wird m. W. bislang nur in der <strong>pädagogischen</strong> Praxis vollzogen. 129<br />

Kommen wir zur Rezeption des <strong>Diskurs</strong>es um die Rolle des <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Kontext von<br />

Demokratie und Öffentlichkeit in der Pädagogik. Eine opt<strong>im</strong>istische Position findet sich<br />

hier bei AUFENANGER: <strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> ermögliche Pluralisierung durch Teilnahmeoffenheit<br />

für prinzipiell beliebige soziale Gruppen sowie Demokratisierung durch die Abwesenheit<br />

von Kontrollen der Kommunikationsformen und -inhalte. Als Aufgabe von Pädagogik<br />

erscheint es dann, diese Pluralisierungs- und Demokratisierungspotentiale zu erschließen<br />

bzw. zu sichern: „Zielstellung [...] muß es sein, zur Demokratisierung von<br />

gesellschaftlichen und <strong>pädagogischen</strong> Kommunikationsformen beizutragen, die<br />

Partizipation und Selbstbest<strong>im</strong>mung aller Menschen zu ermöglichen [...] und<br />

Chancengleichheit herzustellen“. 130<br />

Auch GÖTZ-HENRICH bekundet, in den Computernetzen böte sich „wie nie zuvor die<br />

Chance zu echter Demokratisierung“. Anstatt aber nach (schul)<strong>pädagogischen</strong> Wegen zur<br />

Einlösung dieser Chancen zu suchen, zählt GÖTZ-HENRICH nur altbekannte Konzepte<br />

der Erziehung zur Demokratie auf: die Vermittlung geschichts- und<br />

sozialwissenschaftlichen Faktenwissens zu den wesentlichen Aspekten von Demokratie,<br />

schulische Partizipationsgremien als Übungsfeld für demokratisches Handeln, die<br />

Schülerzeitung als Exemplum für Meinungsfreiheit. So richtig und sinnvoll die genannten<br />

Konzepte auch sein mögen: Hier wird nicht einmal in Ansätzen versucht, diese in<br />

Zusammenhang mit den neuen medialen Möglichkeiten zu bringen (also z.B.:<br />

netzbasierte Planspiele; <strong>Internet</strong>-Rallyes auf den WWW-Seiten politischer Institutionen;<br />

Schülerlnnenvertretung, SchülerInnenzeitungen und Abst<strong>im</strong>mungen/Meinungsumfragen<br />

127 vgl. RÖLL 1999, S. 34f.<br />

128 DÖRING 1999, S. 38<br />

129 so <strong>im</strong> Berliner Projekt ‘Alice <strong>im</strong> Cyberland’ (http://www.virtuellewelt.de), das in Kapitel 5 vorgestellt<br />

werden soll<br />

130 vgl. AUFENANGER 1995, S. 59f.<br />

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unter SchülerInnen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>). Statt dessen plädiert GÖTZ-HENRICH unter<br />

Bezugnahme auf ein Symposium der badenwürttembergischen CDU-Landtagsfraktion<br />

dafür, dass „zwei Begriffe, die ins Abseits zu geraten drohen, wieder in den Mittelpunkt<br />

gerückt werden: Konsens und Gemeinwohl“. 131 Der alte Wein des - an kommunitaristische<br />

<strong>Diskurs</strong>e anschlussfähigen - Wertkonservativismus <strong>im</strong> neuen Schlauch des globalen<br />

Dorfs: Viel mehr hat GÖTZ-HENRICH hier m.E. nicht zu bieten. Dagegen finden sich bei<br />

SCHINDLER konkrete Hinweise, wie das <strong>Internet</strong> BRECHTs Utopie vom polydirektionalen<br />

Rundfunk verwirklichen könne - durch Mitgestaltung des Netzes und durch seine In-<br />

Dienst-Nahme für niederschwelliges Publizieren. 132<br />

Gegen die von AUFENANGER, GÖTZ-HENRICH und SCHINDLER vertretene These vom<br />

demokratischen Potential des <strong>Internet</strong> n<strong>im</strong>mt MIKOS Stellung: Die ungefilterte Vielfalt<br />

nebeneinander stehender Meinungen führe zu einem Rückgang argumentativer <strong>Diskurs</strong>e<br />

<strong>im</strong> Netz, durch unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten komme es ferner zu einer<br />

Spaltung der Gesellschaft in Informationsproduzenten und Informationskonsumenten. 133<br />

Hieraus wird wiederum medienpädagogischer Handlungsbedarf - die Vermittlung von<br />

Recherche-, Selektions- und Validierungskompetenzen sowie der Einsatz für sozial<br />

universalen Netzzugang - gefolgert.<br />

Während wir die These, dass das <strong>Internet</strong> kein Medium für <strong>Diskurs</strong>e sei, oben unter 3.3.<br />

dekonstruiert haben, ist mit einer Spaltung der Mediennutzerinnen in ‘Sprechende’<br />

(Produzentlnnen) und ‘Hörende’ (Konsumentinnen) m.E. zumindest insoweit zu rechnen,<br />

dass von einer zunehmenden ‘Konzentration des Kapitals Aufmerksamkeit’ ausgegangen<br />

werden kann und es zumindest fraglich ist, ob eine ‘sprechende’ Nutzung, ob<br />

kommunikative Interaktivität sich in allen Bevölkerungsgruppen durchsetzen wird. Damit<br />

sind wir be<strong>im</strong> Themenkomplex einer internetbedingten Polarisierung der (Welt-)<br />

Gesellschaft bzw. der Exklusion aus dem System <strong>Internet</strong> angelangt.<br />

<strong>Das</strong> Motiv einer drohenden Wissenskluft, einer Halbierung von Gesellschaft entlang der<br />

Achse ‘Zugang zum <strong>Internet</strong>’ bzw. ‘Zugang zu relevanten Prozessen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>’ wird in<br />

zahlreichen <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>beiträgen aufgenommen: so z.B. bei AUFENANGER,<br />

131 GÖTZ-HENRICH 1996, S. 218f.<br />

132 vgl. SCHINDLER 1997, S. 427f.<br />

133 vgl. MIKOS 1997, S. 64 (mit Rekurs auf BÜHL, ESPOSITO sowie auf Beiträge in MÜNKER/ROESLER<br />

1997)<br />

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HAEFNER, SCHINDLER, SCHWAB/STEGMANN und OPASCHOWSKI. 134 (Meta-)<br />

Pädagogische Gegenstrategien setzen auf drei Ebenen an: Derjenigen der<br />

Bedienungsfreundlichkeit, derjenigen des Netzzugangs sowie derjenigen der<br />

Medienkompetenz.<br />

Die technische Option wird von OPASCHOWSKI ins Spiel gebracht: Es solle die<br />

Entwicklung technischer Systeme gefördert werden, „deren Handhabung so einfach ist,<br />

dass sie jeder nutzen kann“. 135 BAACKE sieht diesen Zustand gar schon erreicht: „Daß<br />

keine ‘Wissenskluft’ [...] entstehen kann, dafür sorgt die Logistik des Mult<strong>im</strong>edia-Systems,<br />

das alle Lernwege gleichzeitig gangbar macht (visuelles Lernen steht neben dem Lernen<br />

über Schrift, Zuhören und vor allem Selbermachen) und das damit das differente<br />

Lernvermögen der künftigen Informationsnutzer schrankenlos in seine Arme n<strong>im</strong>mt“. 136<br />

Hier ist freilich einzuwenden, dass kulturelle Barrieren gegen Computer (etwa bei<br />

Seniorinnen) sich als mächtiger erweisen könnten als noch so intuitiv bedienbare<br />

Software; und, mit Murphy’s Law: ‘Mache ein Gerät idiotensicher, und nur Idioten werden<br />

es benutzen’ (dass an dieser Polemik etwas Wahres ist, zeigen etwa die<br />

Bibliothekskatalog-Terminals in der Stadtbücherei Köln: Hier ist keine verknüpfte Suche<br />

nach mehreren Stichwörtern möglich, und für die extrem graphisch-anschauliche<br />

Gestaltung der Benutzeroberfläche muss mit Langsamkeit bezahlt werden. Wer<br />

<strong>Internet</strong>kenntnisse und ein ernsthaftes Rechercheanliegen hat, wird in den einschlägigen<br />

Online-Datenbanken suchen und den WWW-Katalog der Stadtbücherei, der <strong>im</strong>mer noch<br />

komfortabler, wenn auch unanschaulicher als die Terminals vor Ort ist, nur noch zur<br />

Verfügbarkeitsrecherche nutzen - und da ist sie dann wieder, die Wissenskluft). 137<br />

Technische Strategien, um mittels Bedienungsfreundlichkeit die ‘Wissenskluft’ zu<br />

überbrücken, sind für PädagogInnen i.d.R. nur indirekt gangbar: durch metapädagogische<br />

Einflussnahme auf Softwareentwickler, institutionelle Abnehmer dieser Software und<br />

134 vgl. AUFENANGER 1995, S. 60; HAEFNER 1995, S. 99; SCHINDLER 1997, S. 425;<br />

SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 258; OPASCHOWSKI 1999, S. 42f., S. 47 sowie S. 51f<br />

135 OPASCHOWSKI 1999, S. 52<br />

136 BAACKE 1999, S. 16; BAACKE fährt fort: „Wer hier ausgeschlossen bleibt, kann nur ‘von Sinnen’ sein,<br />

ist ein Fall für die Pathologie“; das könnte ironisch gemeint sein, BAACKEs weitere Argumentation<br />

spricht aber eher dagegen<br />

137 hier soll freilich nicht der Eindruck einer Dichotomie von hier einfach bedienbaren und dort für<br />

anspruchsvollere Zwecke nutzbaren Medienangeboten erweckt werden; dass dritte Wege durchaus<br />

möglich sind, zeigen die vielen Suchmaschinen, die etwa ‘Standard-’ und ‘Expertensuche’ ermöglichen<br />

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Gesellschaft oder durch pädagogisch fundierte Entscheidungen über für die eigene<br />

Institution anzuschaffende Software (PädagogInnen können - und sollten nach MIKOS<br />

und OPASCHOWSKI - freilich auch selbst an Softwareentwicklung beteiligt sein 138 ).<br />

Auf der Ebene des Netzzugangs hingegen kann die pädagogische Reflexion Forderungen<br />

sowohl an die pädagogische Praxis als auch an Politik und Gesellschaft richten: So<br />

benennt LAUFFER „die Schaffung von öffentlichen Räumen zur Auseinandersetzung mit<br />

dem <strong>Internet</strong>“ als „originäre öffentliche Aufgabe“ und weist der Politik den Auftrag zu,<br />

„öffentliche Einrichtungen medial attraktiv auszustatten“, denn: „Kinder und Jugendliche<br />

sollten ihre ersten medialen Erfahrungen mit Mult<strong>im</strong>edia und <strong>Internet</strong> nicht <strong>im</strong> Kaufhaus,<br />

<strong>im</strong> Möbelcenter oder bei McDonalds machen“. 139 Insbesondere angesichts der Tendenzen<br />

von Kanalisierung und Kommerzialisierung des <strong>Internet</strong> (LAUFFER verweist auf das<br />

Beispiel der in neueren Versionen von Microsofts ‘<strong>Internet</strong> Explorer’ eingebundenen<br />

‘Channels’: Vorinstallierte Zugänge zu täglich aktualisierten Angeboten von Zeitschriften,<br />

TV-Sendern etc.) seien von ökonomischen Interessen freie Netzzugänge in öffentlichen<br />

Räumen zu fordern. Auch Institutionen der Kinder- und Jugendbildung werden hier<br />

aufgerufen, entsprechende Infrastrukturen zu schaffen bzw. auszubauen.<br />

SCHWAB/STEGMANN weisen in diesem Zusammenhang auf die begrenzte soziale<br />

Reichweite und die eingeschränkte Angebotskapazität der außerschulischen<br />

Jugendbildung hin. Aufgrund dieser falle der Schule die Aufgabe zu,<br />

Zugangsmöglichkeiten insbesondere für sozial schlechter gestellte Jugendliche zu<br />

gewährleisten; nur so könne einer Privatisierung von Bildung entgegengewirkt werden. 140<br />

Gegen eine Abwälzung der Bildungskosten auf die privaten Haushalte spricht sich auch<br />

MIKOS aus; stattdessen solle Medienpädagogik auf der medienpolitischen Ebene freien<br />

Zugang zu digitalem Wissen bei geringen Leitungskosten fordern und auf der<br />

bildungspolitischen Ebene eine finanzielle Förderung schulischer Hard- und<br />

Softwareanschaffungen; das Projekt ‘Schulen ans Netz’ sei hier „nur ein erster Schritt“. 141<br />

KÜBLER ergänzt, nicht nur ‘Schulen ans Netz’, sondern ständige Verfügbarkeit zumindest<br />

138 vgl. MIKOS 1997, S. 70 sowie OPASCHOWSKI 1999, S. 88f.<br />

139 LAUFFER 1997, S. 114f.<br />

140 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, 5. 209ff. sowie S. 258 - BAACKE (1999, S. 22) teilt diese Forderung,<br />

hebt aber hervor, dass auch bei einer flächendeckenden schulischen ‘Grundversorgung’ mit<br />

Computerwissen <strong>im</strong> privaten Bereich erworbene Vorkenntnisse Diskr<strong>im</strong>inationskraft behielten<br />

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eines <strong>Internet</strong>arbeitsplatzes in jedem Klassenz<strong>im</strong>mer sei anzustreben. 142 OPASCHOWSKI<br />

setzt dagegen eher auf eine direkte „finanzielle Unterstützung von Bevölkerungsgruppen,<br />

die sich eine mult<strong>im</strong>ediale Ausstattung zu Hause nicht leisten können“. 143<br />

Mir erscheinen sämtliche Forderungen in diesem Bereich - die letztlich auf die Forderung<br />

eines Grundrechts auf <strong>Internet</strong>zugang hinauslaufen - als sinnvoll und berechtigt; es stellt<br />

sich jedoch die Frage, ob LAUFFERs Max<strong>im</strong>alforderung nach öffentlichen Zugängen ohne<br />

Bindung an ökonomische Interessen realisierbar ist. Angesichts der schrumpfenden<br />

Spielräume der öffentlichen Kassen empfiehlt LAUFFER eine effizientere Nutzung<br />

bestehender Ressourcen (etwa durch Fortbildung und Kooperationen öffentlicher<br />

Institutionen). 144 In Anbetracht der Beschränktheit auch dieser Ressourcen sowie darüber<br />

hinaus drohender Kürzungen (wenn auch aktuell eine erhöhte Förderbereitschaft für<br />

<strong>Internet</strong>projekte bestehen mag) wage ich zu behaupten: Der freie <strong>Internet</strong>zugang wird<br />

zunehmend der gesponsorte <strong>Internet</strong>zugang sein. Die Frage für pädagogische<br />

Praktikerinnen würde dann lauten: Welcher Sponsor ermöglicht <strong>Internet</strong>zugang ohne<br />

Einschränkungen und ohne bzw. mit möglichst wenig (und z.B. garantiert<br />

pornographiefreier) Werbung?<br />

Kommen wir schließlich zu denjenigen Strategien gegen internetbedingte<br />

Polarisierungstendenzen, die auf Erziehung zu Medienkompetenz, auf Bildung setzen.<br />

Diese können sich - gegen Positionen, die eine informelle Aneignung von<br />

Computerwissen für ausreichend halten - auf SCHWAB/STEGMANNs empirisch fundierte<br />

Einsicht berufen, dass Chancengleichheit nicht allein über eine Angleichung der<br />

Zugangsmöglichkeiten zum Medium hergestellt werden könne; vielmehr seien auch die<br />

individuellen Bildungsvoraussetzungen mitbest<strong>im</strong>mend für die qualitativen D<strong>im</strong>ensionen<br />

der jeweiligen Nutzungsweisen. 145 Da wir uns mit Erziehung zu Medienkompetenz noch<br />

ausführlicher unter 4.2.2. beschäftigen werden, soll hier nur kurz auf MIKOS verwiesen<br />

141 MIKOS 1997, S. 69 - Eine verbesserte Netzinfrastruktur in Schulen wie auch in Bibliotheken fordern<br />

auch SCHINDLER (1997, S. 425) sowie <strong>im</strong>plizit HAEFNER (1995, S. 99)<br />

142 KÜBLER 1997a, S. 8<br />

143 OPASCHOWSKI 1999, S. 52 - man mag sich wundern, wie diese (m.E. berechtigte) Forderung mit<br />

seiner Konzeption einer Erziehung zu weniger Medienkonsum zusammenpassen soll<br />

144 vgl. LAUFFER 1997, S. 114<br />

145 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 253<br />

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werden, der eine Verankerung von „Medienpädagogik in einem umfassenden<br />

kommunikationskulturellen Sinn“ in Aus- und Fortbildungen für pädagogisches Personal<br />

sowie die verstärkte Umsetzung der Konzeption der Medienmündigkeit in der<br />

<strong>pädagogischen</strong> Praxis fordert. 146 Eine interessante Wendung findet sich ferner bei<br />

THIELE, der den solidarischen Einsatz „für eine Grundversorgung an Information, für<br />

einen diskr<strong>im</strong>inierungsfreien Zugang zu Informationen und für informationelle<br />

Selbstbest<strong>im</strong>mung“ als ein (medien-)pädagogisch anzustrebendes Bildungsziel<br />

benennt. 147<br />

Als Ziele der genannten Defizitbeschreibungen und Gegenstrategien erscheinen somit<br />

erstens Chancengleichheit, zweitens die Förderung und finanzielle Absicherung möglichst<br />

offener <strong>Internet</strong>-Zugänge und drittens die Förderung und finanzielle Absicherung von<br />

Medienpädagogik (viertens ließe sich noch das Ziel einer Dämpfung von unreflektierten<br />

Netzeuphorien - ob in Politik, Ökonomie oder Pädagogik - anführen).<br />

Haben wir bislang nur <strong>im</strong>plizit auf Deutschland bzw. die Industrieländer beschränkte<br />

Positionen zum Thema einer Halbierung von Gesellschaft entlang des <strong>Internet</strong>zugangs<br />

betrachtet, soll der Fokus abschließend auf eine weltgesellschaftliche Perspektive<br />

ausgeweitet werden.<br />

Die (von uns unter 3.3.2. beschriebene) Exklusion weiter Teile der Bevölkerung der<br />

‘Dritten Welt’ ist <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong> gegenwärtig noch ein Randthema. Bei<br />

GÖTZ-HENRICH findet sich <strong>im</strong>merhin noch der apodiktische Satz: „Die Beschäftigung mit<br />

den Verhältnissen in den Ländern der dritten Welt <strong>im</strong> Rahmen des Geographieunterrichts<br />

macht deutlich, daß diese in den weltweiten Informationsfluß mit einbezogen werden<br />

müssen, wenn das vorhandene Gefälle nicht noch größer werden soll“. 148 BAACKE führt<br />

zwar die einschlägigen Zahlen an („Etwa 50% der Weltbevölkerung haben noch nie ein<br />

Telefon in Händen gehalten, und 80% haben noch nie einen Taschenrechner bedient“),<br />

um auf die globale Ungleichverteilung von Medienkompetenzen hinzuweisen; wenn er<br />

aber dann die von den Wirtschaftsund Postministern des G7-Gipfels 1995 postulierte<br />

Sicherung technischer und sozioökonomischer Rahmenbedingungen - darunter zwar<br />

146 MIKOS 1997, S. 70<br />

147 vgl. THIELE 1997<br />

148 GöTZ-HENRICH 1996, S. 223<br />

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„universeller Zugang zu Netzen für alle“, aber auch „Schutz geistigen Eigentums“ und<br />

„Zugang zu den Märkten“ - als Grundlage jeglicher Gegenmaßnahmen apostrophiert, ist<br />

doch zu fragen, ob hier nicht weltgesellschaftliche Ungleichheiten noch verstärkt werden -<br />

nach dem Muster: Westliche Softwarekonzerne erhalten freien Zugang zu den Märkten<br />

der dritten Welt bei garantiertem Schutz ihres geistigen Eigentums, d.h. einer<br />

Durchsetzung weltweiter Strafbarkeit von Software-Raubkopien. 149<br />

Hier liegen m.E. noch zu erschließende Aufgabenfelder für schulische und<br />

außerschulische Bildungsarbeit: Eine über die Industrienationen hinausgehende<br />

weltgesellschaftliche Perspektive in die eigene pädagogische Arbeit einzubringen (was<br />

SUBROWEIT/VAN LÜCK andenken, allerdings unter der aus unserer Sicht<br />

problematischen Fokussierung eines „kulturübergreifenden, weltweiten Wertekonsens“ 150 )<br />

und auf metapädagogischer Ebene für verbesserte Zugangschancen für die Länder der<br />

‘Dritten Welt’ - und dort nicht nur für einzelne Regionen oder lokale Eliten - zum <strong>Internet</strong><br />

zu kämpfen.<br />

Als letzter Themenkomplex soll nun internetbedingte bzw. internetvermittelte<br />

Disziplinierung und Kontrolle in Bezug auf seine Relevanz <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong><br />

untersucht werden.<br />

Die oben unter 3.3.4 beschriebene Verletzlichkeit der vernetzt informatisierten<br />

Gesellschaft wird <strong>im</strong>plizit thematisiert, wenn MIKOS „Datenschutzregelungen [...] ebenso<br />

[...] wie Sicherungsmaßnahmen gegen [auf digitale Datennetze bezogene, S.D.] Technik-<br />

Havarien“ einfordert. 151 Ausführlicher geht HAEFNER auf die Abhängigkeit der<br />

Gesellschaft von ihrem „informationstechnischen Rückgrat“ sowie auf Gefahren durch<br />

Viren und Ausfälle ein. Während MIKOS lediglich Sicherheitsstandards fordert, ist<br />

HAEFNER an einer umfassenden „Kontrolle [des demokratischen Systems] über die<br />

soziotechnische Struktur“ gelegen. Diese demokratische Kontrolle solle zum einen durch<br />

eine den „massiven Förderprogrammen für Computerisierung und Informatisierung der<br />

Gesellschaft“ gleichgestellte „Wissenschaft, die zunächst versucht, ansatzweise zu<br />

verstehen, nach welchen Prinzipien dieser Megaorganismus entsteht und wie er eventuell<br />

149 vgl. BAACKE 1999, S. 26f.<br />

150 SUBROWEIT/VAN LÖCK 1998, S. 5<br />

151 MIKOS 1997, S. 69<br />

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kontrolliert werden könnte“, zum anderen durch Bildung (d.h. auf der meta<strong>pädagogischen</strong><br />

Ebene: durch Bildungsreform) und zumindest eine reale Stabilisierung des Status quo der<br />

Bildungsausgaben gewährleistet werden. 152<br />

Vergleichsweise häufig thematisiert werden <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong><strong>Diskurs</strong> die<br />

Datenschutzproblematik bzw. das Grundrecht auf informationelle Selbstbest<strong>im</strong>mung (so<br />

z.B. bei THIELE und bei MIKOS sowie bei BAACKE, der konstatiert, der heutige Mensch<br />

müsse „nicht mehr in erster Linie vor dem großen Bruder’ Staat Angst haben [...], sondern<br />

vor der Privatwirtschaft, die über seine Kommunikations- und Eingabeprozesse seine<br />

Daten kontrollieren und weitergeben“ könne 153 ). Einschlägige Inhalte sind auch schon seit<br />

längerem in den schulischen Curricula zur informationstechnischen Grundbildung<br />

verankert. 154 Noch viel zu selten hingegen wird Kontrolle und Disziplinierung Jugendlicher<br />

durch das Medium <strong>Internet</strong> - etwa <strong>im</strong> Rahmen schulischer Nutzung - problematisiert 155 ;<br />

statt dessen plädiert etwa FASCHING unter dem Aspekt des Jugendschutzes unbefangen<br />

für eine totale Erfassung der Nutzungsdaten („[...] wer das <strong>Internet</strong> in welcher Weise nutzt<br />

[...]“ 156 ) bei für Jugendliche zugänglichen Netzcomputern in Schulen.<br />

Zusammenfassend können wird feststellen, dass SCHORBs Postulat an die gegenwärtige<br />

(Medien-)Pädagogik, „die Aussagen all jener Disziplinen zur Kenntnis zu nehmen, die<br />

solche [informationsgesellschafts- bzw. internetbedingte, S.D.] Veränderungen<br />

analysieren und diese gestalten“ 157 , in der <strong>pädagogischen</strong> Theorie zunehmend erfüllt wird,<br />

jedoch bislang noch meist vereinzelt und stückweise - und stellenweise mit abstrusen<br />

Folgerungen. 158 Weitgehend vernachlässigt wird <strong>im</strong> hier beobachteten Ausschnitt des<br />

152 HAEFNER 1995, S. 94f., S. 108 sowie S. 96 (Hervorhebungen bei HAEFNER wurden nicht<br />

übernommen)<br />

153 BAACKE 1999, S. 25ff.; MVGL. IKOS 1997, S. 69; THIELE 1997<br />

154 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 198 sowie ZIELINSKI 1993, S. 212ff.<br />

155 ein (knapper) Hinweis hierzu findet sich nur bei GÖTZ-HENRICH (1996, S. 223): „Datenerhebungen und<br />

ihre Speicherung <strong>im</strong> Schulcomputer zu organisatorischen Zwecken werfen Fragen auf zum Datenschutz“<br />

156 FASCHING 1997, S. 102<br />

157 SCHORB 1995b, S. 26<br />

158 so leitet etwa GÖTZ-HENRICH (1996, S. 208ff.) aus der Diagnose einer informationstechnisch<br />

bedingten Veränderung gesellschaftlicher Kommunikationsformen den schulischen Auftrag ab,<br />

leserliches Schreiben und korrekte Orthographie zu vermitteln sowie „Dialektsprecher [...] behutsam zu<br />

einer angemessenen Hochsprache“ zu führen - was von keinerlei Kenntnissen der empirischen<br />

Netzkommunikation zeugt, ist hier doch Orthographie weniger und Schönschrift überhaupt nicht relevant<br />

und sind ferner Englischkenntnisse erheblich wichtiger als ein akzentfreies Hochdeutsch<br />

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<strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong>es die Exklusion weiter Teile der ‘Dritten Welt’ vom<br />

<strong>Internet</strong>.<br />

Ansätze zu einer umfassenden Berücksichtigung der gesellschaftlichen Dynamik des<br />

<strong>Internet</strong> finden sich m.E. noch am ehesten bei den expliziten Medienpädagogen MIKOS,<br />

THIELE, SCHORB, AUFENANGER, RÖLL und BAACKE sowie - mit den genannten<br />

Einschränkungen - bei HAEFNER.<br />

Als zentrale metapädagogische Anliegen in diesem Kontext lassen sich benennen:<br />

Erstens die finanzielle und organisatorische Absicherung von Medienbildung (sowie,<br />

insbesondere bei HAEFNER, von institutioneller Bildung überhaupt); zweitens die Reform<br />

schulischer Bildung, mit der doppelten Zielrichtung einer Konzentration auf einerseits<br />

einen kompetenten Umgang mit Computer und <strong>Internet</strong>, andererseits spezifisch<br />

menschliche bzw. nicht effizient automatisierbare Tätigkeiten (komplexes, kreatives,<br />

regelveränderndes Denken); drittens die Gewährleistung einer öffentlichen<br />

Grundversorgung mit Netzzugängen (‘Klassenz<strong>im</strong>mer und Bibliotheken ans Netz’) sowie<br />

mit aufbereiteten Informationen (die Idee öffentlich-rechtlicher Netzinformationen, wie sie<br />

etwa <strong>im</strong> unten vorzustellenden Projekt eines deutschen Jugendservers verwirklicht<br />

werden soll); viertens eine Mitgestaltung des Mediums <strong>Internet</strong> - ob <strong>im</strong> Sinne einer<br />

demokratischen Kontrolle über das Netz (HAEFNER) oder als Erschließung der<br />

Pluralisierungs- und Demokratisierungspotentiale <strong>im</strong> und am Netz (AUFENANGER,<br />

SCHINDLER).<br />

Dieser Ansatz einer Mitgestaltung des <strong>Internet</strong> findet sich auch in den Postulaten der<br />

<strong>pädagogischen</strong> Reflexion an die Praxis wieder; hier wird ansonsten vor allem eine weit<br />

gefasste Medienbildung angestrebt, die technische und soziale Kompetenzen beinhaltet:<br />

die kritische Analyse soziotechnischer Entwicklungen ebenso wie die aktive Netznutzung<br />

zur Information, Interessenvertretung, Spiel und Bedürfnisbefriedigung; Recherche-,<br />

Selektions- und Validierungskompetenzen ebenso wie allgemeine kommunikative<br />

Fähigkeiten. Als besondere Aufgaben für eine Pädagogik <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong> werden<br />

weiterhin Vernetzung, Ortsunabhängigkeit und Internationalität (ERTELT) sowie die<br />

Förderung von Engagement für sozial universalen Netzzugang und informationelle<br />

Selbstbest<strong>im</strong>mung (THIELE) benannt.<br />

53


4.2. <strong>Internet</strong> als Chance<br />

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Spätestens der letzte Abschnitt dürfte die Grenzen unserer heuristischdichotomisierenden<br />

Gliederung - hier die Chancen, dort die Risiken - aufgezeigt haben: Bedrohungsszenarien<br />

und Defizitbeschreibungen werden in <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>en meist mit angestrebten<br />

Zielen und Wegen zum Erreichen dieser Ziele gekoppelt (OELKERS), Risiken und<br />

Chancen sind Kehrseiten der gleichen Medaille. In den <strong>Diskurs</strong>en der Jugendgefährdung<br />

(4.1.1.) und der Mediatisierungskritik (4.1.2.) werden pädagogische Chancen noch<br />

vorwiegend außerhalb des als Risiko betrachteten Mediums gesehen, bzw. <strong>im</strong> Schutz vor<br />

diesem; von ‘<strong>Internet</strong> als Chance’ kann dort nicht die Rede sein. Spätestens bei einer<br />

umfassenden Berücksichtigung gesellschaftlicher Auswirkungen der vernetzten<br />

Informatisierung zeigt sich aber, dass den Risiken der (sozio-)technischen Entwicklungen<br />

pädagogisch gerade auch auf derselben Ebene - derjenigen der Technologien und ihrer<br />

sozialen Einbindung bzw. kulturellen Konstruktion nämlich - zu begegnen ist. In RÖLLs<br />

radikaler Formulierung: „Wo Computer herrschen, helfen nur Computer“ 159<br />

Wie Pädagogik einerseits außermediale bzw. netzexterne Lösungsvorschläge für direkt<br />

am/<strong>im</strong> Medium <strong>Internet</strong> oder indirekt in seiner gesellschaftsverändernden Dynamik<br />

beobachtete Probleme machen kann, so kann sie andererseits das <strong>Internet</strong> auch nicht nur<br />

auf den Platz einer Lösung ebendieser (4.1.3.), sondern auch auf denjenigen einer<br />

Lösung internet-unabhängiger Probleme setzen. Dieses Vorgehen konnten wir weiter<br />

oben in diesem Kapitel bereits vereinzelt beobachten: In SCHULTES Thesen von einer<br />

informationsgesellschaftlichen Verwirklichung längst fälliger Schul- und<br />

Unterrichtsreformen sowie in LAUFFERs Annahme von der Entlastung alleinerziehender<br />

Mütter durch Telearbeit. Zum Programm erhoben wird es in <strong>Diskurs</strong>beiträgen, die das<br />

<strong>Internet</strong> als didaktisches Medium fokussieren.<br />

Im Folgenden sollen zunächst diese Ansätze - das Netz als Medium von Unterricht und<br />

Bildungsarbeit - behandelt werden (4.2.1.). Hier können Chancen des <strong>Internet</strong> in Stellung<br />

gebracht werden gegen Anschaulichkeits-, Interaktivitäts- und Individualisierungsdefizite<br />

von ‘traditionellem’ Unterricht bzw. ‘traditionellen’ Medien. Im Anschluss daran soll ein<br />

159 SCHORB/RÖLL 1999, S. 24<br />

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Schlaglicht auf die <strong>pädagogischen</strong> Reflexion des <strong>Internet</strong> (und seines gesellschaftlichen<br />

Kontextes) als einem Gegenstand und Thema schulischer wie außerschulischer<br />

Bildungsarbeit geworfen werden (4.2.2.). 160 Hier ist nach den Spezifika einer<br />

Medienpädagogik und nach einer Operationalisierung von ‘Medienkompetenz’ <strong>im</strong> Zeitalter<br />

des <strong>Internet</strong> zu fragen. Abschließend soll diese Fragestellung auf den Bereich der<br />

Jugendarbeit zugespitzt werden (4.2.3.).<br />

4.2.1. <strong>Internet</strong> als didaktisches Medium<br />

Der pädagogische <strong>Diskurs</strong> um die je ‘neuen Medien’ - Computer, Mult<strong>im</strong>edia, <strong>Internet</strong> (in<br />

chronologischer Folge der zentralen, freilich einander überlappenden Stichworte) - bringt<br />

zunächst meistens Ansätze auf zwei Extrempositionen hervor: Hier die (unter 4.1.1. und<br />

4.1.2. analysierten) bewahr<strong>pädagogischen</strong>, dort die pragmatischen bis euphorischen, das<br />

jeweilige Medium didaktisch instrumentalisierenden. - Soweit zumindest die kritische<br />

Analyse seitens derjenigen Medienpädagogen, die sich von den genannten Ansätzen<br />

abgrenzen, um für einen dritten Weg zu plädieren: eine „progressiv-<br />

sozialisationstheoretische“ Position, die von einer „wechselseitigen Dynamik zwischen<br />

Subjekt und Gesellschaft“ ausgeht (AUFENANGER) bzw. eine aufklärerische<br />

Medienpädagogik, die Auseinandersetzung mit einer „neuen, vielschichtigen und<br />

allumfassenden Entwicklung in all ihrer Komplexität“ zum Programm macht (SCHORB). 161<br />

Auch nach meinen Beobachtungen hat die pädagogische Reflexion des neuen Mediums<br />

<strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Bereich der Didaktik früh eingesetzt und ist entsprechend inzwischen relativ<br />

fortgeschritten und differenziert. So legten ISSING/KLIMSA bereits 1995 mit dem<br />

Sammelband „Informationen und Lernen mit Mult<strong>im</strong>edia“ ein <strong>im</strong> Schnittpunkt von<br />

Psychologie, Didaktik und Technologie angesiedeltes Kompendium vor, das viele Aspekte<br />

(aber eben kaum die von AUFENANGER und SCHORB eingeforderten komplex-<br />

gesellschaftlichen) des <strong>Internet</strong> thematisiert. Enthalten sind u.a. Texte zu virtueller Realität<br />

(ALSDORF/BANNWART), Hypertext/Hypermedia (TERGAN und HAACK), Interaktivität<br />

160 hierin folgen wir SCHWAB/STEGMANNS (1999, S. 184) Differenzierung bezüglich des ‘Computers als<br />

Bildungschance’ und erweitern diese auf das <strong>Internet</strong>: „Die mit der Entwicklung des Computers<br />

veränderte Aneignung von Bildung geschieht auf zwei Wegen. Einerseits wird das didaktische Medium<br />

‘Computer’ zum <strong>im</strong>mer verfügbaren, attraktiven Informationsgeber, andererseits wird es selbst zum<br />

Thema, indem Handlungskompetenz vermittelt wird“<br />

161 AUFENANGER 1995, S. 59 sowie SCHORB 1995b, S. 25<br />

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(HAACK) sowie Telelernen/Teleschool (ZIMMER und FISCHER) - und, mit DÖRINGs<br />

Beitrag „<strong>Internet</strong>: Bildungsreise auf der Infobahn“, ein dezidierter Aufsatz zum Feld von<br />

<strong>Internet</strong> und Didaktik, der in der Folgezeit viel rezipiert werden sollte. 162 Ein vergleichbares<br />

Kompendium zu einer - umfassender ansetzenden, nicht auf lerntheoretische<br />

Fragestellungen beschränkten - internetbezogenen Pädagogik sucht man <strong>im</strong> deutschen<br />

Sprachraum bis heute vergebens.<br />

Wenn sich auch ein großer Teil des didaktischen <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong>es auf die<br />

Handlungsfelder ‘Schule’ und ‘berufsorientierte Aus-/Weiterbildung’ bezieht, so erscheint<br />

mir dieser doch auch für außerschulische Jugendarbeit interessant. Dies, insofern erstens<br />

Jugendarbeit meist Arbeit mit SchülerInnen ist und so in vielfacher Weise mit schulischem<br />

Erleben Jugendlicher konfrontiert ist; zweitens seit den 90er Jahren Kooperationen von<br />

Jugendarbeit und Schule in der <strong>pädagogischen</strong> Praxis und Reflexion zunehmend<br />

Bedeutung gewinnen; und drittens Jugendarbeit (insbesondere Jugendbildungsarbeit)<br />

auch selbst das <strong>Internet</strong> als didaktisches Medium einsetzen kann.<br />

Im Folgenden sollen zunächst Diskussionsstränge aufgegriffen werden, die spezifische<br />

didaktisch relevante D<strong>im</strong>ensionen des Netzes bzw. der Netznutzung thematisieren<br />

(‘D<strong>im</strong>ension’ ist hier nicht in einem dinglichen Sinne, sonder mehr als sich verfestigende<br />

kulturelle Konstruktion zu verstehen): anschauliches Lernen durch Mult<strong>im</strong>edialität,<br />

adaptives Lernen durch Interaktivitat, offenes und selbstgesteuertes Lernen durch Zugriff<br />

auf vielfältige und aktuelle Angebote zur Wissensproduktion, soziales und diskursives<br />

Lernen durch neue Kommunikations- und Kooperationsformen. Daraufhin sollen auf einer<br />

allgemeineren Ebene Chancen und Grenzen, Voraussetzungen und mögliche Folgen<br />

eines didaktischen Einsatzes des <strong>Internet</strong> diskutiert werden.<br />

Die historischen Wurzeln der Mediendidaktik werden meist bei JOHANN AMOS<br />

COMENIUS verortet: Didaktik, in COMENIUS’ berühmter Definition die „vollständige<br />

Kunst, alle Menschen alles zu lehren“ 163 , operiert danach mit dem Lehrprinzip der<br />

Veranschaulichung von Natur zum Zweck von Naturbeherrschung und Aufklärung. In<br />

konkreter Anwendung seiner Theorie veröffentlichte COMENIUS 1658 die Fibel ‘orbis<br />

162 so z.B. bei MEISTER/SANDER 1999, S. 42, FEUERSTEIN 1999, S. 173 sowie vielfach in FASCHING<br />

1997<br />

163 zit. nach MEISTER/SANDER 1999, S. 10<br />

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sensualium pictus’, die als Vorläuferin aller illustrierten Lehrbücher gelten kann. 164 Der<br />

<strong>Diskurs</strong> des anschaulichen Lernens durch Medien hat somit eine lange Tradition;<br />

insbesondere <strong>im</strong> Rahmen der Reformpädagogik wurden die Vorzüge des Lernens mit<br />

mehreren Sinnen, auf mehreren Wahrnehmungsebenen hervorgehoben. 165<br />

So werden denn auch in der <strong>pädagogischen</strong> Diskussion um anschauliches Lernen durch<br />

Mult<strong>im</strong>edialität als deren Pluspunkte verbesserte Darstellungsweisen z.B. durch<br />

dreid<strong>im</strong>ensional rotierbare Computerdarstellungen und VR-Technologie angeführt (etwa<br />

bezogen auf „die Entstehung molekularer Strukturen oder die Lebensverhältnisse in<br />

mittelalterlichen Feudalstaaten“ 166 )<br />

Dadurch seien Gewinne an Motivation und effizienteres Lernen zu erwarten - und damit<br />

einhergehend ein Attraktivitätsverlust des frontalen Tafelunterrichts. 167 KÜBLER weist hier<br />

darauf hin, dass Mult<strong>im</strong>edialität „keine neue pädagogische Qualität“ sein könne 168 ; dies gilt<br />

erst recht aus einer konstruktivistischen Perspektive, in der aktive Rezipientlnnen selbst<br />

Bedeutungen erst konstruieren. (Da Mult<strong>im</strong>ediaanwendungen auf CD-ROM schon deutlich<br />

vor dem <strong>Internet</strong> auf breiter Basis pädagogisch genutzt wurden, können wir ergänzen:<br />

Mult<strong>im</strong>edialität ist auch keine internetspezifische Qualität.) Gerade in Argumentationen<br />

auf der Grundlage konstruktivistischer Lerntheorien werden jedoch die didaktischen<br />

Qualitäten mult<strong>im</strong>edialer Lernumgebungen hervorgehoben; hier kommt aber nicht mehr<br />

der Mult<strong>im</strong>edialität <strong>im</strong> engeren Sinne (also Mult<strong>im</strong>odalität und Multicodierung), sondern<br />

der Eigenaktivität des Lernenden bzw. dem interaktiven Potential des Mediums zentrale<br />

Bedeutung zu. 169<br />

FASCHING spricht dem <strong>Internet</strong> aus didaktischer Perspektive eine dreifache Interaktivität<br />

zu: Nutzerinnen könnten erstens Inhalte auswählen (‘selektive Interaktivität’ nach<br />

164 vgl. SCHORB 1995a, S. 17 - SCHORB weist hier darauf hin, das Medien als Anschauungsmittel eine<br />

noch wesentlich ältere, bis zu den Höhlenmalereien des Cromagnonmenschen zurückreichende<br />

Geschichte hätten<br />

165 vgl. OELKERS 1989, S. 34ff.; eine Abhandlung aus psychologischer Sicht, die Alltagstheorien über die<br />

didaktischen Vorzüge von Multicodierung und Mult<strong>im</strong>odalität durch empirisch-wissenschaftliche<br />

Argumente unterfüttert, findet sich bei WEIDENMANN (1995)<br />

166 SCHORB 1995b, S. 24<br />

167 vgl. ebd. sowie AUFENANGER 1995, S. 58ff. und SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 197<br />

168 KÜBLER 1997b, S. 55<br />

169 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 188 sowie FEUERSTEIN 1999, S. 183ff.<br />

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ZIMMERMANN), zweitens das Netz mitgestalten (‘kommunikative Interaktivität’) und<br />

drittens spezielle interaktive Lernangebote <strong>im</strong> Netz nutzen. 170 Widmen wir uns zunächst<br />

Letzterem, also interaktiver Lernsoftware.<br />

Ebenso wie Mult<strong>im</strong>edialität kann adaptives Lernen durch Interaktivität am Computer<br />

bereits ohne Vernetzung realisiert werden; entsprechende Lernsoftware ist spätestens<br />

seit den 70er Jahren in der Diskussion. 171 Mit SCHWAB/STEGMANN können wir Typen<br />

von Lernprogrammen nach den zugrundeliegenden Lerntheorien differenzieren 172 :<br />

– Software auf der Basis behaviouristischer Lerntheorien verfährt meistens nach<br />

dem ‘Drill-and-Practice’-Prinzip; Adaptivität, also Orientierung an individuellen<br />

Lernvoraussetzungen, beschränkt sich auf eine Anpassung des Programms an<br />

Geschwindigkeit und Niveau (gemessen am Anteil richtiger, d.h. den gespeicherten<br />

Vorgaben entsprechender Lösungen). Interaktivität ist auf den engen<br />

katechetischen Rahmen falscher und richtiger Antworten begrenzt; geeignet<br />

erscheinen diese Programme bestenfalls zum Auswendiglernen (etwa von<br />

Vokabeln).<br />

– Lernprogramme nach kognitivistischen Prinzipien dagegen sind bemüht,<br />

individuelle Lernwege zu ermöglichen, an vorhandene Wissensstrukturen des/der<br />

Lernenden anzuknüpfen und den Aufbau neuer Strukturen zu unterstützen. Diese<br />

Anforderungen können etwa nach didaktischen Gesichtspunkten gestaltete<br />

hypertextuale bzw. hypermediale Informationsangebote erfüllen, so die von<br />

VOLLBRECHT thematisierten „interaktiven Hypermedia-Arbeitsumgebungen“. 173<br />

– Lernsoftware auf der Basis konstruktivistischer Lerntheorien schließlich will vor<br />

allem aktive Wissenskonstruktion in realitätsnahen S<strong>im</strong>ulationen (etwa komplexen<br />

Wirtschaftss<strong>im</strong>ulationsspielen) ermöglichen.<br />

Die insbesondere in den letzten beiden Typen von Lernangeboten angelegten Chancen<br />

für ein individualisiertes Lernen werden bei AUFENANGER gesellschafts- und<br />

sozialisationstheoretisch eingeordnet: „Dieser Ansatz [...] berücksichtigt, daß die neuen<br />

Lebensformen überwiegend solche sind, die sich an Individualisierung ausrichten, und<br />

daß die neue Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen durch Medien best<strong>im</strong>mt ist und<br />

170 vgl. FASCHING 1997, S. 112 sowie ZIMMERMANN 1993, S. 166<br />

171 ähnlich wie bei der von HEINTZ beschriebenen Verschränkung von gesellschaftlicher Rationalisierung<br />

und Automatisierung/Computerisierung (siehe dazu oben unter 2.1.1.) lässt sich auch in der Pädagogik<br />

eine ‘Computerisierung vor dem Computer’ beschreiben; so in der ‘kybernetischen Pädagogik’ bei FELIX<br />

VON CUBE und HELMAR FRANK sowie in der ‘Programmierten Unterweisung’ bei WALTER SCHÖLER<br />

und JOHANNES ZIELINSKI SEN. (eine kritische Darstellung dieser Ansätze findet sich bei ZIELINSKI<br />

1995, S. 181 ff. sowie 186ff.)<br />

172 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 186ff.; vgl. auch MEISTER/SANDER 1999, S. 11ff.<br />

173 VOLLBRECHT 1995, S. 195<br />

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knüpft damit an die dadurch mögliche Motivierung an“. 174 THIELE ruft in diesem Kontext<br />

<strong>im</strong> Bildungsbereich tätige PädagogInnen auf, das wachsende Marktangebot an<br />

Mult<strong>im</strong>ediaanwendungen einerseits aktiver, andererseits aber auch kritisch bewertend<br />

wahrzunehmen 175 . MIKOS und OPASCHOWSKI fordern eine stärkere Beteiligung der<br />

Pädagogik auch an der Entwicklung von Lern- und Spielsoftware. 176<br />

Der Abruf von Lernprogrammen aus dem Netz weist nun zunächst keine prinzipiellen<br />

Unterschiede zu entsprechender Software auf Datenträgern auf. Ergänzend hinzu tritt hier<br />

die ständige unaufwendige Aktualisierbarkeit (des ganzen Programms, aber auch<br />

einzelner Informationen wie z.B. von Einwohnerzahlen in Geographie-Software) sowie die<br />

Möglichkeit vielfältiger Verknüpfungen mit anderen Netzangeboten durch Hyperlinks.<br />

Gänzlich neue Potentiale bieten die selektive Interaktivität <strong>im</strong> weltumspannenden<br />

hypermedialen Informationsraum des WWW sowie die diversen Möglichkeiten<br />

kommunikativer Interaktivität in verschiedenen <strong>Internet</strong>diensten; dezidierte Lernangebote<br />

<strong>im</strong> Netz können diese um so besser nutzen, je weniger sie als in sich abgeschlossene<br />

Programme konzipiert sind.<br />

Allerdings stellen MEISTER/SANDER hier fest, dass das - <strong>im</strong> Gegensatz zu<br />

hypermedialen Lernprogrammen - ohne pädagogische Steuerungsinstanz wachsende,<br />

nicht zu Bildungszwecken konzipierte <strong>Internet</strong> „allein in keiner Weise irgendwelche<br />

<strong>pädagogischen</strong> oder didaktischen Ansprüche“ erfülle. 177 Diese Zuspitzung von DÖRINGs<br />

evidenter Beobachtung, dass das Netz „kein genuines Instruktionsmedium“ sei 178 , soll nun<br />

kritisch befragt werden, wenn wir uns mit der <strong>pädagogischen</strong> Reflexion offenen und<br />

selbstgesteuerten Lernens durch Zugriff auf vielfältige und aktuelle Angebote zur<br />

Wissensproduktion <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> auseinandersetzen.<br />

Lernen vollzieht sich aus konstruktivistischer Perspektive <strong>im</strong>mer als autopoietische<br />

Aktivität des/der Lernenden. ‘Selbstgesteuertes Lernen’ (in der reform<strong>pädagogischen</strong><br />

174 AUFENANGER 1995, S. 62<br />

175 vgl. THIELE 1997; Ein von THIELE und anderen entwickelter Ansatz zur <strong>pädagogischen</strong> Bewertung von<br />

Software samt Anwendung auf eine Auswahl seinerzeit aktueller CD-ROMs (Lexika/Nachschlagewerke,<br />

Infotainment- und Edutainmentangebote, Unterhaltungssoftware sowie Sammlungen von Graphiken und<br />

Klängen/Geräuschen) findet sich in AUFENANGER/LAUFFER/THIELE 1995<br />

176 vgl. MIKOS 1997, S. 70 sowie OPASCHOwSKI 1999, S. 88f.<br />

177 MEISTER/SANDER 1999, S. 43<br />

178 DÖRING 1995, S. 327<br />

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Semantik: ‘Selbsttätigkeit’) ist somit eine Tautologie und macht nur Sinn als<br />

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metapädagogisches Postulat - nämlich als an Lehrende gerichteter Appell, anstelle von<br />

(letztlich ineffizienten) Versuchen externer Steuerung doch lieber den Lernenden Hilfen<br />

zur Selbststeuerung zu gewähren; auf Medien bezogen: ein ‘constructional’ statt eines<br />

‘instructional design’ zu entwickeln) 179 Eine solche „Verwandlung traditioneller Lehr- in<br />

neue Lernszenarien“ werde, so MEISTER/SANDER mit Berufung auf Erfahrungen aus<br />

Modellversuchen in verschiedenen Bundesländern, durch den Einsatz von <strong>Internet</strong> bzw.<br />

hypermedialen Lernumgebungen in der Schule begünstigt.<br />

Dabei bevorzugen MEISTER/SANDER letztere - die pädagogisch aufbereiteten<br />

vorgefertigen medialen Lernumgebungen - gegenüber der chaotischen<br />

Informationsstruktur des Netzes. Dessen „Informationsfülle“ erscheint hier als ein<br />

Problem, welches nur durch „angeleitetes, systematisches und exemplarisches Lernen“<br />

bewältigt werden könne. 180 Dagegen spricht sich DÖRING, m.E. zu Recht, für offene<br />

Informationssysteme, die „nicht konsistent gestaltet und erst recht nicht ‘intelligent’ <strong>im</strong><br />

Sinne des ITS-Ansatzes (Intelligent Tutorial System) sind“ aus: Gerade solche - also etwa<br />

das <strong>Internet</strong> - erforderten und begünstigten die Selbststeuerung des Lernenden und<br />

führten so zu nachhaltigeren Lernerfolgen. Insofern sei es sinnvoller, metakognitive<br />

Fähigkeiten (z.B. Recherchekompetenzen und Lernstrategien) bei realen SchülerInnen zu<br />

fördern, als mit hohem Aufwand spezielle Lernumgebungen zu programmieren, die auf<br />

notwendigerweise verkürzten, statischen Schüler-Modellen beruhen. 181<br />

Doch nicht nur lernpsychologische Überlegungen sprechen für die offene Lernumgebung,<br />

die ‘Lernwelt’ <strong>Internet</strong> (FASCHING); auch aus der Perspektive einer Öffnung von Schule<br />

hin zu Arbeitswelt, Schüleralltag und gesellschaftlichen <strong>Diskurs</strong>en lassen sich Argumente<br />

für einen schul<strong>pädagogischen</strong> Einsatz des <strong>Internet</strong> gewinnen. SCHULZ-ZANDER<br />

diskutiert das <strong>Internet</strong> als günstige „Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeit über<br />

den Lernort Schule hinaus“, BORRMANN sieht Chancen zur internetvermittelten Öffnung<br />

von Schule besonders da, wo SchülerInnen mit ihren Diskussionsbeiträgen und Produkten<br />

als Sender in einen „realen Kommunikationszusammenhang“ treten, eine außerschulische<br />

179 so die Forderung von VAN LÖCK (1997, S. 16), der hier jedoch vermerkt, dass auch ‘konstruktive’<br />

Medien instruktiv mißbraucht werden könnten<br />

180 MEISTER/SANDER 1999, S. 42f.<br />

181 DÖRING 1995, S. 322<br />

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Öffentlichkeit erreichen. 182 Wurde die gängige Kritik am mediatisierungsbedingten Verlust<br />

der Pr<strong>im</strong>ärerfahrung bei SCHULTE noch nur relativiert (durch den Hinweis, dass auch<br />

Schule seit je ein Ort massiver Sekundärerfahrung ist), findet hier also eine radikale<br />

Perspektivenumkehr statt: Die ‘Virtualität’ des <strong>Internet</strong> ist Realität bzw. kann für Schule als<br />

Realität fungieren; mit FASCHING: das <strong>Internet</strong> als offener Lernort löst die Grenze<br />

zwischen Lernen und Handeln auf und wird so selbst zur Lebenswelt. 183<br />

FEUERSTEIN sieht <strong>im</strong> Netz das Potential zur Verwirklichung der konstruktivistischen<br />

Anforderungen an Unterricht, wie sie R. DUBS formuliert: „Nicht vereinfachte<br />

(reduktionistische) Problemstellungen, sondern die Realität unstrukturierter Probleme sind<br />

dem Unterricht zugrunde zu legen“. 184 Daraus können dann auch wieder lerntheoretische<br />

Konsequenzen gezogen werden: Durch die Situiertheit des Lernens seien erhöhte<br />

Transferleistungen zu erwarten, durch das Gefühl des Lernens in der Wirklichkeit<br />

Motivationssteigerungen. 185<br />

Als Chance für das Lernen wird von FEUERSTEIN auch die Vielfalt und Aktualität der <strong>im</strong><br />

Netz verfügbaren Informationen fokussiert: Während Buchwissen zu aktuellen Themen<br />

stets schnell veralte, biete das <strong>Internet</strong> tagesaktuelle Information und fördere in seiner<br />

hypertextuellen Struktur induktives Lernen durch die Notwendigkeit, gefundene Fakten je<br />

individuell zu kontextualisieren. 186 Weiterhin könne die Vielfalt der Informationen Toleranz<br />

für kulturelle Verschiedenheit verstärken (gewissermaßen die Gegenthese zum unter<br />

4.1.2. analysierten Fallbeispiel BAACKEs) - so kennzeichnet auch FASCHING das Netz<br />

als Medium, das „eine <strong>Diskurs</strong>form [ermögliche], die nicht den Konsens, sondern die<br />

Anerkennung und Nutzung des Dissens zum Ziel hat“ 187<br />

Kommen wir zur D<strong>im</strong>ension sozialen und diskursiven Lernens durch neue<br />

Kommunikations- und Kooperationsformen. MEISTER/SANDER sprechen dem <strong>Internet</strong><br />

das Potential zu, als selbstreferentielles, geschlossenes Lehr-/Lernmedium zu fungieren:<br />

182 SCHULZ-ZANDER 1997, S. 10 sowie BORRMANN 1997, S. 17<br />

183 vgl. FASCHING 1997, S. 105f.<br />

184 zit. nach FEUERSTEIN 1999, S. 193<br />

185 vgl. FASCHING 1997, S. 89 sowie FEUERSTEIN 1999, S. 179 und S. 193<br />

186 vgl. FEUERSTEIN 1999, S. 180f. sowie S. 185f.; vgl. auch DÖRING 1995, S. 321f.<br />

187 FASCHING 1997, S. 112<br />

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„Alle notwendigen Informationen, Lehrmaterialien und Hilfsmittel für eine nutzerorientierte<br />

Produktion eigener Informationssysteme“ seien <strong>im</strong> Netz vorhanden; dies wird jedoch<br />

eingeschränkt durch die Feststellung, dass das <strong>Internet</strong> in dieser Weise nur für „absolute<br />

Netzspezialisten“ nutzbar sei. 188 Diese Einschätzung mag insofern zutreffen, dass es<br />

gegenwärtig unrealistisch scheint, alle SchülerInnen zu befähigen, alle in den für die<br />

jeweilige Alters- und Schulstufe vorgesehenen Lehr-/Lernmitteln vorfindlichen<br />

Informationen nicht dort, sondern stattdessen <strong>im</strong> Netz zu suchen. <strong>Das</strong> spricht jedoch nicht<br />

gegen eine Nutzung des Netzes sowohl als Informationsquelle als auch als Ordnungs-<br />

und Präsentationsinstrument individueller Lernwege und -produkte. MEISTER/SANDER<br />

ist hier auch insofern zu widersprechen, dass m.E. in letzter Zeit die Netznutzung, gerade<br />

die ‘sprechende’, auch für Nichtspezialisten <strong>im</strong>mer einfacher wird, und dass nach<br />

DÖRING die Hemmungen für die Veröffentlichung eigener Wissensproduktionen <strong>im</strong> Netz<br />

dadurch gesenkt werden mögen, dass dort schon Grundschulkinder als Autorinnen<br />

auftreten. 189<br />

DÖRING führt eine weitere Auswirkung der ‘kommunikativen Interaktivität’, also der<br />

polydirektionalen Nutzbarkeit des <strong>Internet</strong> an: Der Umgang mit Informationen werde durch<br />

den nicht nur möglichen, sondern konstitutiven Rollenwechsel vom Empfänger zum<br />

Sender kritischer. 190 <strong>Diskurs</strong>ivität von Information - etwa als schnelle und unaufwendige<br />

Nachfrage be<strong>im</strong> ‘Sender’ - könne so zum erlebten Normalfall werden. 191<br />

Lern-, Kommunikations- und Kooperationsformen <strong>im</strong> Netz gestalten sich freilich<br />

unterschiedlich je nachdem, welcher <strong>Internet</strong>dienst genutzt wird. Eine Differenzierung<br />

nach didaktischer Relevanz findet sich bei FASCHING; hier werden das WWW und die<br />

Diskussionsforen (Newsgroups) als die „eigentlichen Lernorte 192 hervorgehoben. Wir<br />

wollen - ohne damit FASCHINGS Abwertung der eher spielerischen Formen (MUDs, Chat)<br />

zuzust<strong>im</strong>men - dieser Differenzierung nachgehen und daran eine Betrachtung der hier<br />

188 MEISTER/SANDER 1999, S. 40<br />

189 vgl. DÖRING 1995, S. 324<br />

190 eben das macht, wie oben unter 3.3.1. und 3.3.2. ausgeführt, für HASSE/WEHNER das <strong>Internet</strong> als<br />

Massenmedium untauglich; zur Kontroverse um das diskursive Potential des <strong>Internet</strong> siehe ebd.<br />

191 vgl. DÖRING 1995, S. 322f.<br />

192 FASCHING 1997, 5. 89<br />

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ebenfalls vernachlässigten Formen von Telekooperation und internationaler<br />

Kommunikation (meist schwerpunktmäßig über E-Mail) anschließen.<br />

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Als selbstreferentielles Lern-/Lehrmedium (<strong>im</strong> Sinne von MEISTER/SANDER) bietet sich<br />

zuallererst das WWW an: Hier können mult<strong>im</strong>ediale Informationen recherchiert,<br />

gespeichert und individuell rekombiniert werden; ansprechend gestalteter Lernstoff lässt<br />

sich oft direkt vom Erzeuger (z.B. der NASA) abrufen. Der Lerner gestaltet und strukturiert<br />

seine Lernwege individuell; insbesondere erwachsene Lerner mit breiten<br />

Wissensstrukturen könnten so speziellen Lerninteressen nachgehen. 193 Nicht<br />

nachvollziehbar bleibt für mich, warum FASCHING trotz dieser Beobachtungen den<br />

„größten Nutzen [!] des World Wide Web für das Lernen“ in dessen Motivierungspotential<br />

sieht; auch seine Einschätzung, <strong>im</strong> WWW finde <strong>im</strong> Gegensatz zu Diskussionsforen kein<br />

soziales Lernen statt, da der jeweilige Sender „nicht präsenter als der Autor eines<br />

Buches“ 194 sei, ist m.E. zu widersprechen - etwa mit BORRMANN, der schildert, wie die<br />

Veröffentlichung der von seinen Schülern gestalteten WWW-Seiten Anlass eines „regen<br />

Austauschs mit Rezipienten außerhalb von Schule, auch in anderen Ländern“ wurde (der<br />

sich dann freilich nicht mehr in erster Linie über das WWW vollzog). 195<br />

Als dezidiert diskursives Medium bieten sich die Diskussionsforen des Netzes an (sieht<br />

man einmal von der unter 3.3.2. skizzierten Problematik ab, dass bei vielen solcher Foren<br />

keine Koppelung mit netzexternen Entscheidungsprozessen gegeben ist). Verglichen mit<br />

dem WWW konstatiert FASCHING hier höhere Einstiegshürden: Nicht nur die Bedienung<br />

der Software, sondern auch die neue, meist ungewohnte schriftliche <strong>Diskurs</strong>form<br />

allgemein sowie die je gruppenspezifischen, oft ungeschriebenen Kommunikationsregeln<br />

wollen gelernt werden. Diesen Hürden stehe aber auch ein höheres Motivierungspotential<br />

gegenüber, bedingt durch das Lernen in einem als real erlebten Kontext, durch das<br />

„Empfinden, echtes Wissen und nicht Modellwissen erworben zu haben“ (wiederum mag<br />

es verwundern, dass FASCHING den Akzent hier nicht auf qualitative Aspekte des<br />

diskursiv erworbenen Wissens, sondern auf Motivation bzw. ‘Empfinden’ legt). 196<br />

193 vgl. a.a.O., S. 83ff. sowie S. 100ff.<br />

194 a.a.O., S.100 sowie S. 86<br />

195 BORRMANN 1997, S. 16<br />

196 FASCHING 1997, S. 79; vgl. auch a.a.O., S. 72ff.<br />

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Als ein Spezifikum des <strong>Diskurs</strong>es in Foren beschreibt FASCHING das Zitieren der<br />

Diskussionsbeiträge, auf die jeweils Bezug genommen wird. Ob dieses diskursive<br />

Verfahren ins netzexterne Leben übertragbar sei, wird hier noch offen gelassen, bei<br />

FEUERSTEIN dann mit Bezug auf empirische Erfahrungen positiv beantwortet: Die<br />

Nutzung kommunikativer Netzdienste und speziell die Erfahrung von SchülerInnen, in<br />

‘Erwachsenengesprächen’ ernst genommen zu werden, führe zu einem neuen<br />

Gruppenverhalten, größerer Hilfsbereitschaft und Problemlösungskompetenz. 197<br />

Als Lernformen in Newsgroups führt FASCHING an: die Expertenbefragung (mit dem<br />

Problem selbsternannter Experten und der Chance des stummen Mitverfolgens von<br />

hochkarätigen Quasi-Podiumsdiskussionen), die diskursive Validierung eigener Thesen<br />

(die zwar nur für die ‘nicht faktenorientierten’ Geisteswissenschaften geeignet sei, jedoch<br />

die Chance biete, entlang kontroverser <strong>Diskurs</strong>e eigene Ansichten zu entwickeln), das<br />

empirisches Forschen (wobei Netzumfragen methodische Probleme aufwürfen und die<br />

Geduld der Nutzerinnen durch häufige Umfragen eher schon überstrapaziert sei) sowie<br />

das Erbitten von Arbeitshilfen.<br />

Diese Einschätzungen können <strong>im</strong> Detail kritisiert werden: so FASCHINGS Hypostasierung<br />

akademischen Wissens („der hohe Prozentsatz an Akademikern [...] führt [...] zu<br />

kompetenten Aussagen. So können folgende Diskussionsforen effizient genutzt werden,<br />

da das ‘Rauschen’ in diesen gering ist: [...]“ 198 ), die gerade die Besonderheit des <strong>Internet</strong>,<br />

dass jedeR zum Sender werden kann, ignoriert bzw. rekanalisiert; ferner die Identifikation<br />

von Naturwissenschaft mit harten Fakten 199 und die Reduktion empirischer Forschung auf<br />

repräsentative, quantitative Fragebogenerhebungen (bieten doch Newsgroups sowohl<br />

Chancen für qualitative teilnehmende wie nichtteilnehmende Beobachtungen als auch für<br />

quantitative Analysen jenseits direkter Befragungen). <strong>Das</strong> schmälert jedoch nicht den<br />

didaktischen Wert der von FASCHING genannten Lernformen; auch ist m.E. seiner These<br />

zuzust<strong>im</strong>men, dass Newsgroups für soziales, diskursives Lernen besonders geeignet<br />

197 vgl. FASCHING 1997, S. 73 und S. 99 sowie FEUERSTEIN 1999, S. 182<br />

198 FASCHING 1997, S. 96<br />

199 diese Ideologie der Naturwissenschaft wird dekonstruiert etwa von HEINTZ (1993, S. 11 4ff. sowie<br />

insbesondere - mit Rekurs auf KARIN KNORR-CETINA - S. 11 9f.) und von HOFMANN (1998, S. 73ff.)<br />

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seien und <strong>im</strong> günstigen Falle Mut zum Dissens, Respekt für andere Ansichten vermitteln<br />

könnten. 200<br />

Didaktische Chancen von Telekooperation wurden bereits oben <strong>im</strong>plizit angesprochen,<br />

be<strong>im</strong> Thema einer internetvermittelten Öffnung von Schulen untereinander sowie hin zu<br />

Alltagsleben und Öffentlichkeit. Daran schließt MEISTER/SANDERS Vermutung an, dass<br />

der didaktische Einsatz des <strong>Internet</strong> dauerhaft bessere Chancen habe als die in den<br />

70er/80er Jahren ähnlich euphorisch begrüßten Bildungstechnologien (Sprachlabore,<br />

Computerräume) - und zwar, da es deren sozial isolierten und isolierenden Charakter<br />

nicht teile. 201 Bestätigt wird diese Einschätzung des sozial vernetzenden Potentials<br />

didaktischer <strong>Internet</strong>nutzung durch Beobachtungen von FEUERSTEIN, AUFENANGER<br />

und SCHULZ-ZANDER: Hier wird attestiert, das Kooperationen zwischen räumlich<br />

getrennten Schulen, aber auch schon die kooperative Lösung von Arbeitsaufträgen mit<br />

Hilfe des <strong>Internet</strong> durch SchülerInnengruppen einer Schule (etwa in Form von<br />

Projektunterricht) die Teamfähigkeit der SchülerInnen fördere. 202<br />

Internationale E-Mail-Projekte werden derzeit an Schulen vor allem <strong>im</strong> Rahmen des<br />

Englischunterrichts - des Faches, das laut FEUERSTEIN nach der Informatik das<br />

zweitgrößte Interesse am Netz zeigt - durchgeführt. 203 Es mag sein, dass die Netznutzung<br />

in solchen Projekten (ganz <strong>im</strong> Sinne FASCHINGS) oft vornehmlich zwecks<br />

Motivationsförderung erfolgt, dass weder interkulturelle noch medienkompetenzbezogene<br />

Lernziele in der Planung eine große Rolle spielen. Dennoch, so SUBROWEIT/VAN LÜCK,<br />

können derartige Projekte - ebenso wie netzvermittelte ‘internationale Mittagspausen-<br />

Gespräche’ - Kenntnisse über andere Länder, deren Bevölkerung und Kultur vermitteln,<br />

sowie die Orientierung, Mehrsprachigkeit als Normalfall zu betrachten. Man mag<br />

bezweifeln, ob Kenntnisse über ‘fremde Länder’ allein tatsächlich den Boden bereiten<br />

können für „Verständnis und Toleranz gegenüber Fremdem <strong>im</strong> eigenen Land“, wie es bei<br />

SUBROWEIT/VAN LÜCK heißt 204 ; m.E. sind die Möglichkeiten, die sich durch schulische<br />

200 vgl. FASCHING 1997, S. 99 - Die komplementäre Position findet sich bei TURKLE (1998, S. 353):<br />

während in virtuellen Gemeinschaften vom Typ der MUDs, wo eine gemeinsame Welt konstruiert werde,<br />

Kooperation funktional sei, seien Newsgroups auf Konflikt und auf Abgrenzung angelegt<br />

201 vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 10<br />

202 vgl. FEUERSTEIN 1999, S. 182f.; AUFENANGER 1995, S. 58; sowie SCHULZ-ZANDER 1997, S. 10f.<br />

203 vgl. FEUERSTEIN 1999, S. 178<br />

204 vgl. SUBROWEIT/VAN LÖCK 1998, S. 6f.<br />

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Telekooperationen bieten, dennoch beachtlich - sowohl, was Öffnung von Schule und<br />

Unterricht angeht, als auch bezogen auf soziales und internationales Lernen.<br />

Nachdem nun vier Diskussionsstränge zu spezifisch didaktisch relevante Eigenschaften<br />

des Netzes vorgestellt wurden, sollen <strong>im</strong> Folgenden abschließend Chancen und Grenzen,<br />

Voraussetzungen und eventuelle Folgen eines didaktischen Einsatzes des <strong>Internet</strong><br />

diskutiert werden.<br />

Zu den Chancen adaptiver mult<strong>im</strong>edialer Lernsysteme summiert AUFENANGER: „Die<br />

Verbindung von Text, Bild und Ton stellt eine opt<strong>im</strong>ale Verwirklichung dessen dar, was in<br />

der Pädagogik das Prinzip Anschaulichkeit genannt worden ist; die künstliche Intelligenz<br />

ermöglicht eine opt<strong>im</strong>ale Anpassung des Systems an die Lernvoraussetzungen und<br />

Lernstrategien des Lerners, und die Möglichkeit der S<strong>im</strong>ulation eröffnet die Chance, das,<br />

was der pädagogische Pragmatismus von John Dewey als ‘learning by doing’ bezeichnet<br />

hat, auch auf die mediale bzw. virtuelle Wirklichkeit zu erweitern“; die „alte Relation: ein<br />

Lehrer - viele Schüler“ werde umgekehrt: „ein Schüler - viele Lehrer“. 205 Eine<br />

nennenswerte Erhöhung des Lernniveaus durch solche Lernsysteme ist dennoch nach<br />

MEISTER/SANDER bislang empirisch nicht zu belegen; allerdings sei durchgängig eine<br />

erhebliche Reduktion der Lernzeiten durch individualisiertes Lernen am Computer<br />

festzustellen. 206<br />

Spezielle didaktische Vorteile des <strong>Internet</strong> gegenüber geschlossenen, pädagogisch<br />

konzipierten Hypermedia-Lernumgebungen sind auf der Ebene der Konstruktion von<br />

Wissen einerseits in der Vielfalt und Aktualität der prinzipiell zugänglichen Informationen,<br />

andererseits in der erhöhten Notwendigkeit eigener Strukturierungs- und<br />

Konstruktionsleistungen (und damit der Förderung von Selbtssteuerungsprozessen) zu<br />

sehen. Auf der Ebene der Kommunikation wird einerseits die Partizipation an ‘realen’,<br />

nicht pädagogisch ‘s<strong>im</strong>ulierten’ Interaktionsprozessen ermöglicht: SchülerInnen können<br />

mit eigenen Produktionen Öffentlichkeiten jenseits von Schule erreichen, Unterricht und<br />

Schule können sich hin zur außerschulischen Lebens- und Arbeitswelt öffnen.<br />

Andererseits bieten sich hier gerade auch Chancen für Pädagogik, Kommunikation und<br />

Kooperation über lokale, regionale und nationale Grenzen hinaus zu inszenieren.<br />

205 AUFENANGER 1995, S. 61<br />

206 vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 41 (mit Rekurs auf J. P. HAASEBROOK)<br />

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Motivationsgewinne durch Computer und <strong>Internet</strong> werden allenthalben beobachtet 207 ;<br />

problematisch wird es m.E., wenn der didaktische Einsatz dieser Medien vorwiegend aus<br />

Gründen der Motivierung der Lernenden heraus stattfindet. Eine solche<br />

Instrumentalisierung des Netzes ist in Ansätzen bei FASCHING zu beobachten. Der<br />

Erwerb von <strong>Internet</strong>kompetenzen erscheint hier lediglich als ein ‘Zusatznutzen’, als<br />

„Wissenserwerb über den eigentlich intentionierten Lerngegenstand hinaus“, der einen<br />

„tieferen Einblick in die Möglichkeiten der Computertechnologie“ biete. 208 Deutlicher noch<br />

als eine bloße Instrumentalisierung des Netzes zur Opt<strong>im</strong>ierung von Wissensvermittlung,<br />

wie sie etwa AUFENANGER als typisch für den didaktischen <strong>Internet</strong><strong>Diskurs</strong> kritisiert,<br />

verfehlt Fasching hier m.E. die Herausforderungen des <strong>Internet</strong>-Zeitalters: Computer-<br />

bzw. Netzkompetenzen können heute <strong>im</strong>mer weniger mit technologischem<br />

Spezialistenwissen gleichgesetzt werden; Konzeptionen, die das <strong>Internet</strong> als bloßes<br />

Motivationsinstrument einplanen, geraten in Gefahr, eine ‘Rattenfängerdidaktik’ zu<br />

betreiben. 209<br />

In den individualisierten Lernmöglichkeiten von Mult<strong>im</strong>edia und <strong>Internet</strong> sieht<br />

AUFENANGER für die Lernenden Chancen der Unabhängigkeit von Bildungsinstitutionen;<br />

was hier als Chance erscheint, mag jedoch auch Gefahren beinhalten, so die der<br />

Privatisierung von Bildung und Bildungsaufwendungen (und die daraus folgende der<br />

Verfestigung sozialer Ungleichheiten) und die der Kommerzialisierung von Information:<br />

Fällt der von den Bildungsinstitutionen unabhängig gewordene Lerner möglicherweise in<br />

neue Abhängigkeiten - etwa, wie WERBER meint, von der Lernsoftware-Industrie? 210<br />

Ferner bleibt die Frage offen, ob und inwieweit individuelles Computer- bzw. Netzlernen<br />

tatsächlich angeleitetes Lernen ersetzen könne. Damit sind wir bei der Thematisierung<br />

von Gefahren und Grenzen des didaktischen Netzeinsatzes <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong><br />

angelangt.<br />

207 vgl. SCHORE 1995b, S. 24; AUFENANGER 1995, S. 62; MEISTER/SANDER 1999, S. 42; und<br />

insbesondere FASCHING 1997, S. 77, S. 89 sowie S. 100<br />

208 FASCHING 1997, S. 86<br />

209 dieser Begriff stammt aus dem musik<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>. Verwendet wird er dort zur kritischen<br />

Kennzeichnung einer ‘Abholdidaktik’, die SchülerInnen mit Popmusik ködern will, um sie dann zum<br />

‘Eigentlichen’ des Musikunterrichts - der großen abendländischen Kunstmusik - hinzuführen (vgl. DÜX<br />

1998)<br />

210 vgl. AUFENANGER 1995, S. 59; SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 209ff. sowie S. 258; MIKOS 1997, S.<br />

67; SCHORB 1995b, S. 12 sowie WERBER 1999, S. 415<br />

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Die didaktische Reflexion der Gefahren des <strong>Internet</strong> ist zum Teil deckungsgleich mit der<br />

allgemein <strong>pädagogischen</strong>, die unter 4.1. dargestellt wurde; spezifische Grenzen<br />

didaktischen Netzeinsatzes werden <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> vor allem daran<br />

festgemacht, dass das <strong>Internet</strong> erstens kein pädagogisch konzipiertes und zweitens ein<br />

kulturell noch nicht hinreichend verankertes Medium sei.<br />

Wir haben oben bereits MEISTER/SANDERS Einschätzung, dass „das <strong>Internet</strong> mit seiner<br />

Datenfülle oder das WWW mit seiner Hypertextstruktur allein in keiner Weise<br />

irgendwelche <strong>pädagogischen</strong> oder didaktischen Ansprüche“ erfülle 211 , relativiert. Neben<br />

der m.E. nicht zu unterschätzende D<strong>im</strong>ension informeller Lernprozesse bei der<br />

Netznutzung - ob auf Inhalte oder auf Medienkompetenz bezogen - kann dagegen auch<br />

SCHULZ-ZANDERs Beobachtung einer ‘Katalysatorfunktion’ der Netztechnologie<br />

angeführt werden. In der Debatte, inwieweit die (<strong>im</strong> Rahmen des Projekts ‘Schulen ans<br />

Netz’ erfolgte) Bereitstellung von Netzinfrastruktur per se bereits pädagogische<br />

Veränderungen auslöse, bezieht nämlich SCHULZ-ZANDER - anders als etwa VAN<br />

LÜCK 212 - eine opt<strong>im</strong>istische Position. Mit Rekurs auf Erfahrungsberichte aus Deutschland<br />

und Netzumfragen unter US-amerikanischen LehrerInnen schreibt sie dem Netz die<br />

Funktion eines Katalysators zu, der Anlass zu Methodendiskussionen <strong>im</strong> Lehrerz<strong>im</strong>mer<br />

gebe und einen Wandel von Unterricht begünstige: hin zu einer verstärkten Eigenaktivität<br />

von SchülerInnen, einer eher moderierenden Tätigkeit von Lehrenden und<br />

kommunikativem Lernen. Allerdings weist auch SCHULZ-ZANDER darauf hin, dass die<br />

technische Ausstattungsoffensive möglichst von Lehrerlnnenfortbildungen begleitet<br />

werden sollte. 213<br />

Kontrovers diskutiert wird also vor allem, ob der didaktische Einsatz des Netzes eher<br />

Kompetenzen voraussetzt oder schafft. MEISTER/SANDER beziehen hier klar Stellung für<br />

die bleibende Relevanz angeleiteten (sprich: schulischen) Lernens: Digitalisiertes Wissen<br />

mache Schule ebensowenig überflüssig wie eine Bibliothek eine Universität ersetzen<br />

könne - obgleich sich beide, <strong>Internet</strong> und Bibliothek, gut <strong>im</strong> Lernprozess einsetzen lassen<br />

könnten -, unklar bleibe ferner, inwieweit sich das <strong>Internet</strong> zur Vermittlung strukturierten<br />

211 MEISTER/SANDER 1999, S. 43<br />

212 vgl. VAN LÖCK 1997, S. 14: „Neue Medien oder die Netzanbindung von Schulen erzeugen aus sich<br />

heraus keine dauerhafte Veränderung“<br />

213 vgl. SCHULZ-ZANDER 1997, S. 11f.<br />

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Wissens einsetzen lasse. Als Voraussetzungen einer effizienten didaktischen<br />

Netznutzung erscheinen hier zum einen konkrete Anleitungen und Lernaufgaben seitens<br />

der LehrerInnen, zum anderen zu entwickelnde Kompetenzen seitens der Lernerlnnen. 214<br />

Damit ist die Frage der mangelnden kulturellen Verankerung des Netzes und der zu seiner<br />

Nutzbarmachung erforderlichen Fähigkeiten angesprochen. FASCHING (wie auch<br />

MEISTER/SANDER) zeichnet das <strong>Internet</strong> als ein Medium für Spezialistinnen: „Der<br />

technische Aufwand und die zu investierende Lernzeit sind hoch und das nötige<br />

Verständnis können [sic] nicht von jedem erlangt werden“. 215 Diese These wird m.E. von<br />

der Praxis widerlegt: erfolgreiche <strong>Internet</strong>arbeit in Grund- und Sonderschulen ist längst<br />

kein Einzelfall mehr. FASCHING sieht ferner die Gefahr einer Abschreckung von<br />

Lernerinnen durch die technische Oberfläche des Computers bzw. von Lernhindernissen<br />

für die „breite Schicht der Bevölkerung“, die dem Computer bekanntermaßen mehr als<br />

kritisch gegenüberstehe. 216 Diese Befürchtungen mögen in der Bildungsarbeit mit<br />

Seniorinnen angebracht sein (auch dort wird jedoch erfolgreich mit dem Netz gearbeitet),<br />

für den bei FASCHING angepeilten schulischen Bereich sind sie jedoch m.E. völlig fehl<br />

am Platze. So finden SCHWAB/STEGMANN in ihrer 1996 durchgeführten Umfrage nur<br />

bei 13% der Jugendlichen, gar nur bei 8% der damals 10-13jährigen computerdistanzierte<br />

Einstellungen vor. 217<br />

Nachvollziehbarer als die These vom - für die Nutzung durch ‘Normal-’ (oder gar<br />

‘Sonder’-)Schüler ungeeigneten - Spezialistenmedium <strong>Internet</strong> erscheint mir da schon<br />

KÜBLERs Diagnose, dass das mediale Potential des Netzes oft <strong>im</strong> Unterricht nicht zur<br />

Entfaltung gelange: <strong>Das</strong> <strong>Internet</strong> werde in der schulischen Realsituation „fast wie das<br />

herkömmliche Schulbuch“ genutzt, vom „gepriesenen individuellen, gar zufälligen Lernen“<br />

sei „wenig zu spüren“. 218 Dazu passt FEUERSTEINS interessante Feststellung, dass der<br />

Schwerpunkt schulischen Netzeinsatzes <strong>im</strong> außerunterrichtlichen Bereich liege - in AGs,<br />

in Projektwochen sowie in den bei SchülerInnen sehr beliebten freien Nutzungszeiten.<br />

214 vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 41<br />

215 FASCHING 1997, S. 112; vgl. auch a.a.O., S. 86<br />

216 a.a.O., S. 101<br />

217 SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 95f.<br />

218 KÜBLER 1997, S. 58<br />

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Begründet wird dieses Phänomen mit einem Netzkompetenzrückstand der LehrerInnen<br />

sowie einem Mangel an einschlägigen didaktischen Materialien und Konzepten. 219<br />

Zusammenfassend können wir feststellen: Erfolgreicher didaktischer Einsatz des <strong>Internet</strong><br />

wird nicht dadurch blockiert, das es ein ohne pädagogische Gestaltungsinstanz<br />

wachsendes Medium ist. Auch mangelnde Vertrautheit von SchülerInnen mit diesem<br />

Medium ist hier weniger ein Hindernis als die mangelnde Flexibilität von PädagogInnen<br />

und der kulturellen Konstruktion ‘Unterricht’. Damit sind wir bei der Frage angelangt,<br />

welche Voraussetzungen eines erfolgreichen didaktischen Einsatzes des <strong>Internet</strong> sich<br />

anführen lassen.<br />

Zunächst wäre hier die technische Ausstattung zu nennen. Mit KÜBLER ist hier das<br />

Postulat ‘Schulen ans Netz’ zu der Forderung nach zumindest einem Netzterminal in<br />

jedem Klassenz<strong>im</strong>mer zu erweitern. 220 Dabei stellt sich dann das Problem des schnellen<br />

Veraltens von Hard- und Software: Will Schule mit dem Stand der Technik bzw. der<br />

häuslichen Medienausstattung der sozial besser gestellten SchülerInnen mithalten, reicht<br />

eine einmalige Ausstattungsoffensive wie ‘Schulen ans Netz’ nicht aus; stattdessen sei,<br />

so SCHWAB/STEGMANNs Empfehlung, eine Aktualisierung <strong>im</strong> dreijährigen Turnus<br />

anzustreben? 221 Sollte es nicht zu bundesweiten finanz- und bildungspolitischen Reformen<br />

kommen, kann diese Forderung freilich nur durch Sponsoring bzw. Initiativen unter<br />

Beteiligung der Privatwirtschaft (so ja auch schon bei ‘Schulen ans Netz’) verwirklicht<br />

werden.<br />

Über die technische Ausstattung hinaus ist nach der <strong>pädagogischen</strong> Gestaltung von<br />

Netzangeboten zu fragen. Wenn auch das Netz als ganzes nicht pädagogisch kontrolliert<br />

werden kann, so sieht FASCHING doch die Möglichkeit, „Teilbereiche [...] als reine Lern-<br />

und Bildungsdienste“ 222 einzurichten. Auch VAN LÖCK postuliert die „aus dem Anliegen,<br />

219 vgl. FEUERSTEIN 1999, S. 174ff.<br />

220 KÜBLER 1997a, S. 8; zum Paradigmenwechsel <strong>im</strong> schulischen Computereinsatz - weg von einzelnen<br />

PC-Räumen hin zum Einsatz je einiger PC-Arbeitsplätze pro Klassenraum <strong>im</strong> offenen Unterricht vgl. auch<br />

SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 204; ein weiterer Paradigmenwechsel dürfte hier bevorstehen, wenn die<br />

Idee der Bundesbildungsministerin, einen Laptop für jedeN SchülerIn bereitzustellen, tatsächlich in den<br />

nächsten zehn Jahren Realität werden sollte<br />

221 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 209 sowie auch VAN LÖCK 1997, S. 14; eine detaillierte Liste<br />

infrastruktureller Voraussetzungen für einen erfolgreichen schulischen <strong>Internet</strong>einsatz findet sich bei<br />

SCHULZ-ZANDER 1997, S. 13<br />

222 FASCHING 1997, S. 85 - gewissermaßen der komplementäre Vorschlag zu ZEHNDERS Idee eines<br />

‘Rotlicht-Bezirkes’ <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />

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die Qualität des Lernens zu steigern“, erwachsende Notwendigkeit einer <strong>pädagogischen</strong><br />

Mitgestaltung des Netzes, genauer: Den Bedarf nach einem von professionellen<br />

PädagogInnen gestalteten Bildungsserver. 223 Auch hier ist zu fragen, ob ohne Beteiligung<br />

finanzkräftiger Global Players zustandekommende pädagogische Großprojekte (also ‘der<br />

deutsche Bildungsserver’, ‘der deutsche Jugendinformationsserver’, ‘der Bildungsbezirk<br />

<strong>im</strong> <strong>Internet</strong>’) überhaupt ihren Anspruch erfüllen können. Dazu müssten sie nämlich den<br />

hohen inhaltlichen und gestalterisch-formalen Aktualitätsanforderungen <strong>im</strong> Netz<br />

standhalten können, in der Aufmerksamkeitskonkurrenz mit den großen<br />

privatwirtschaftlichen/-medialen Anbietern bestehen können, und das heißt letztlich:<br />

gewaltige finanzielle, personelle, infrastrukturelle Ressourcen mobilisieren können.<br />

Fraglich ist außerdem, ob die Idee einer - wenn auch bereichsspezifischen -<br />

Zentralinstanz nicht inkompatibel ist mit der dezentralen Netzarchitektur von <strong>Internet</strong> und<br />

WWW, aber auch mit den gesellschaftlichen Individualisierungstrends. Wir werden diesen<br />

Themenkomplex nochmals streifen, wenn wir uns in Kapitel 5 bestehenden<br />

Netzangeboten aus dem Bereich der Jugendarbeit zuwenden; zunächst aber zurück zu<br />

den <strong>pädagogischen</strong> Voraussetzungen erfolgreicher didaktischer Netznutzung.<br />

Solche Vorraussetzungen können durchaus auch unterhalb der Ebene einer<br />

<strong>pädagogischen</strong> Mit-/Umgestaltung des Netzes gesucht werden. Als Bedingungen für eine<br />

erfolgreiche Projektarbeit mit dem <strong>Internet</strong> etwa benennt KÜBLER (unter Berufung auf<br />

Praktiker): „Ein relevantes Thema, genügend Vorbereitungszeit, ausreichende Laufzeit<br />

[...] und verläßliche Partner“. 224 Als weitere entscheidende Voraussetzungen werden <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> <strong>im</strong>mer wieder - wir haben es oben gesehen - Kompetenzen bei<br />

Lehrenden und Lernenden angeführt. Diese Thematik, also Netzkompetenzen auf Seiten<br />

der PädagogInnen und die Wege ihrer Aneignung, soll unter 4.2.2. behandelt werden.<br />

Wie ist es schließlich um Folgen des didaktischen Netzeinsatzes bestellt? Die These<br />

negativer psychischer Folgen der Netznutzung haben wir bereits unter 4.1.2. dekonstruiert<br />

und relativiert; DÖRING fasst zusammen: „Vom empirischen Standpunkt aus sind viele<br />

Vorbehalte gegen die psychologischen Folgen der <strong>Internet</strong>-Nutzung zu entkräften und<br />

223 vgl. VAN LUCK 1997, S. 1 7f.; eine Darstellung des von VAN LÖCK mitkonzipierten<br />

NRWBildungsservers ‘learn:line’ ist in Medien Praktisch 1997, Nr. 2, S. 10 zu finden<br />

224 KÜBLER 1997b, S. 58.<br />

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sogar positive Lernchancen und v.a. eine Erweiterung des Kommunikationsradius zu<br />

verzeichnen“. 225 Auf der gesellschaftlichen Ebene kann mit HAEFNER und SCHORB die<br />

Gefahr einer Demontage des Bildungswesen durch bei gleicher Effizienz deutlich billigere<br />

individualisierte Lernformen gezeichnet werden; wir haben diese Befürchtungen in ihrer<br />

Max<strong>im</strong>alvariante unter 3.1.2. zurückgewiesen, dennoch sollen mögliche Gefahren einer<br />

Nutzung des didaktischen Potentials des <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Dienste finanzpolitischer<br />

Einsparungswünsche hier nicht geleugnet werden. Mögliche positive Folgen didaktischer<br />

<strong>Internet</strong>nutzung sehen AUFENANGER, MEISTER/SANDER, FEUERSTEIN und SCHULZ-<br />

ZANDER - allerdings nur <strong>im</strong> Kontext pädagogischer Anstrengungen (MEISTER/SANDER)<br />

bzw. anzustrebender Veränderungen <strong>im</strong> Schulsystem (AUFENANGER): Hier ist von<br />

flexiblen Zeitzonen, von einem Rollenwandel der Lehrenden hin zu Lernberatern, zu<br />

Coachs für Wissensmanagement und Selbstregulierung, sowie von einer Gleichwertigkeit<br />

der drei Lernformen ‘individuelles netzunterstütztes Lernen’, ‘kooperative Lernprozesse in<br />

Gruppen und Projekten’ sowie ‘soziale Lernprozesse <strong>im</strong> Klassenverband’ die Rede. 226<br />

Ziehen wir an dieser Stelle ein Fazit: Der <strong>Diskurs</strong> um den Einsatz des <strong>Internet</strong> als<br />

didaktisches Medium wird auf einem relativ hohen Reflexionsniveau geführt (wenn sich<br />

auch viele spätere Beiträge wie Fußnoten zu DÖRING 1995 lesen). Ausgeblendet bleiben<br />

<strong>im</strong> didaktischen und schul<strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>-<strong>Diskurs</strong> freilich meistens<br />

gesellschaftliche Veränderungsprozesse <strong>im</strong> Zeichen des <strong>Internet</strong>.<br />

Während Lernsoftware bzw. pädagogisch gestaltete Hypermedia-Lernumgebungen<br />

geeignet erscheinen, über individualisiertes (adaptives) und mult<strong>im</strong>ediales (mult<strong>im</strong>odales<br />

und multikodiertes) Lernen in effektiver und effizienter Weise geschlossenes<br />

systematisiertes Wissen und genau definierte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln,<br />

hat die ‘Lernwelt <strong>Internet</strong>’ (FASCHING) den - angesichts des zunehmend schnelleren<br />

Veraltens inhaltlichen Wissens erheblichen - Vorteil der größeren Offenheit und der<br />

besseren Lernchancen für weiter gefasste Kompetenzen, für Schlüsselqualifikationen auf<br />

einer formalen Ebene. Diese Kompetenzen erschließen sich jedoch nicht allen<br />

Nutzerinnen gleichermaßen ‘von selbst’, sondern entwickeln sich in Abhängigkeit etwa<br />

von (nicht nur medien-)sozialisatorischen und infrastrukturellen Faktoren sowie<br />

225 DÖRING 1995, S. 334<br />

226 vgl. AUFENANGER 1995, S. 62; MEISTER/SANDER 1999, S. 42f.; FEUERSTEIN 1999, S. 193f.;<br />

SCHULZ-ZANDER 1997, S. 10f.<br />

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pädagogischer Intervention. Pädagogische Institutionen und insbesondere die<br />

allgemeinbildenden Schulen stehen daher in der Verantwortung, eine gemeinsame Basis<br />

metakognitiver und metamotivationaler Strategien zum Wissensmanagement und zur<br />

Selbstregulation zu vermitteln. 227<br />

4.2.2. Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong><br />

Wie ist mit dem Inhalt ‘<strong>Internet</strong>’ in der schulischen und außerschulischen Pädagogik<br />

umzugehen? Wie soll der Erwerb welches computer- und internetbezogenen Wissens<br />

gefördert werden? Kann bzw. sollte es eine spezifische Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong><br />

geben? Und wie ist ‘Medienkompetenz’ <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong> zu buchstabieren? Diese<br />

Fragen sollen uns <strong>im</strong> Folgenden beschäftigen.<br />

<strong>Internet</strong>- und computerbezogenes Wissen wird von TULLY unterschieden in technisches<br />

Grundlagenwissen (‘Basics’), konkretes Anwendungswissen sowie soziales Wissen. 228<br />

Den verschiedenen Wissensformen ordnet TULLY dann geeignete Lernorte und -weisen<br />

zu: Während die Schule als institutioneller Bildungsträger Grundlagenwissen besser als<br />

und soziales Wissen ebensogut wie informelle Angebote vermitteln könne, sei sie für das<br />

ständig zu innovierende Anwendungswissen nicht zuständig zu machen: „[...] die<br />

Dynamisierung des Softwarewissens bedingt es, daß für die Schule gar nicht antizipierbar<br />

ist, welche beruflichen Kontexte und welche Programmtypen für die ‘Ernstsituation’ einmal<br />

Anwendung finden werden“. 229<br />

Ich teile TULLYs Einschätzung, dass Wissen über soziale Bedingungen und<br />

Konsequenzen computer-/netztechnischer Entwicklungen durch Schule, Jugendarbeit und<br />

‘alte’ Medien gleichermaßen - wenn auch auf je spezifische Weise - vermittelt werden<br />

kann. (Zu fragen wäre hier, ob und inwieweit etwa Schule solche Themen tatsächlich<br />

behandelt.) Widersprechen möchte ich dagegen sowohl der These, das<br />

227 vgl. DÖRING 1995, S. 327<br />

228 siehe oben unter 3.1.2; vgl. TULLY 1994, S. 294 sowie S. 186ff.; unter dem Begriff des<br />

Anwendungswissens fasse ich hier zusammen, was TULLY ausdifferenziert in (je auf eine spezifische<br />

Anwendung oder Programmiersprache bezogenes) ‘Funktionswissen’ sowie (über einzelne<br />

Anwendungen hinausgehendes) ‘kombinatorisches Wissen’ als Kompetenz, gegebene Probleme unter<br />

Nutzung der verfügbaren Hard- und Software zu lösen<br />

229 a.a.O., S. 183<br />

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anwendungsbezogenes Computerwissen nicht in die Schule gehört, als auch der<br />

umgekehrten, dass die Vermittlung von Grundlagenwissen hier, und nur hier, besonders<br />

gut aufgehoben sei - beiden Thesen lassen auf mangelnde didaktische Reflexion<br />

schließen.<br />

Letztere beruht auf einem sehr verengten, mit konstruktivistischen Ansätzen<br />

unvereinbaren Wissensbegriff. <strong>Das</strong> lässt sich daran zeigen, wie TULLY eine definitorische<br />

Grenzlinie errichtet zwischen seinem Begriff schulisch zu vermittelnden<br />

Grundlagenwissens einerseits und den <strong>im</strong> individuellen Umgang mit dem Computer<br />

erworbenen Kompetenzen der ‘Computerkids’ andererseits: Deren „begriffsloses<br />

Hantieren mit den Apparaten durch Eingabe von unbegriffenen Buchstabenfolgen“ habe<br />

„mit Wissen [...] nur wenig zu tun“. Als Beispiel hierfür erwähnt TULLY ein Kind, welches<br />

ihm „ohne Wissen dessen, was die Befehle ‘run’ und ‘load’ bedeuten“, diese als „(in<br />

deutscher Aussprache gemachte) Vorgaben [...] mit denen etwas bewirkt werden kann“<br />

erklärt habe. <strong>Das</strong> Beispiel macht deutlich, dass TULLY ‘Wissen’ hier normativ fasst, als<br />

Kenntnis best<strong>im</strong>mter gesetzter Inhalte: Gerätekunde, Betriebssystem, Algorithmik,<br />

Binärsystem. 230 Dem ist aus konstruktivistischer Perspektive entgegenzuhalten, dass<br />

‘Wissen’ nicht auf Wahrheit überprüft werden kann, sondern auf Tauglichkeit (Viabilität) in<br />

best<strong>im</strong>mten Situationen. 231 Aus dieser Sicht reicht es völlig aus, zu wissen, dass der<br />

Befehl ‘run’ in der verwendeten Programmiersprache (vermutlich BASIC) das Starten<br />

eines Programms bewirkt. Die englische Bedeutung (‘lauf!’) zu kennen, mag das Behalten<br />

dieses Befehls erleichtern; diese ‘Wissensgrundlage’ hätte aber das betreffende Kind in<br />

keiner Weise medienkompetenter gemacht, oder es gar besser auf die heutige Gegenwart<br />

vorbereitet - eine Gegenwart, in der BASICProgrammieren nicht mehr besonders<br />

gebräuchlich ist (Ausnahme: Microsofts ‘Visual Basic’), Programme meist mit einem<br />

Doppelklick auf ein Symbol gestartet werden und nur Mathematikerinnen,<br />

Medienphilosophlnnen und Programmierlnnen sich noch ernstlich für das Binärsystem<br />

interessieren. Es ist erstaunlich, dass gerade TULLY, dessen zentrale These der<br />

Bedeutungsgewinn informeller Bildungsprozesse in der Informationsgesellschaft ist, hier<br />

230 a.a.O., S. 293ff. - TULLY hat hier den von TURKLE (1998, S. 62) beschriebenen, mit der Einführung<br />

graphischer Benutzeroberflächen einhergehenden Bedeutungswandel von ‘Transparenz’ - von<br />

‘Durchschauen der zugrundeliegenden Funktionsmechanismen’ hin zu ‘leichte Bedienbarkeit’ - noch nicht<br />

mitvollzogen<br />

231 vgl. SCHMIDT 1996, S. 96<br />

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die individuellen Lernformen <strong>im</strong> Umgang mit ‘den Sachen’ - seit ROUSSEAU Königsweg<br />

der Didaktik! - so geringschätzt.<br />

Mangelnde didaktische Reflexion lässt sich TULLY auch in Bezug auf seine These von<br />

der schulischen Ununterrichtbarkeit des Anwendungswissens 232 vorwerfen: So kann zwar<br />

m.E. durchaus von einem schnellen Veralten von ganz konkret auf ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Programm bezogenem Bedienungswissen gesprochen werden; angesichts der<br />

gleichzeitig beobachtbaren Entwicklung hin zu intuitiver Benutzerführung, zu „geringeren<br />

Zugangshürden und einer hohe Diversifizierung komplexer Programme“, die „fast alle der<br />

gleichen Strukturierungslogik folgen“ 233 , kann jedoch an gezielt ausgewählter Software<br />

exemplarisch vermitteltes Bedienungswissen durchaus seinen Platz in der Schule<br />

finden 234 - wo denn deren Ausstattung sowie die Qualifikation der LehrerInnen solches<br />

zulässt.<br />

Haltbar erscheint TULLYs These somit nur in der abgemagerten Form, dass schulische<br />

Bildung einen Beitrag zur Vermittlung sozialen und technischen Wissens leisten kann -<br />

letzteres vielleicht besser systematisiert, dafür in weniger tagesaktueller Form als<br />

informelle Lernorte - und auch soll; das aber weniger aus Gründen ihrer größeren<br />

Fähigkeit, Grundlagen zu vermitteln (zumal sowohl die Best<strong>im</strong>mung und Systematisierung<br />

des ‘Grundlagenwissens’ als auch dessen Abgrenzung von exemplarisch erworbenem<br />

Anwendungswissen - also etwa der Erkenntnis, dass gegenwärtig in den meisten<br />

Programmen die Tastenkombination ‘Strg+Z’ die vorangegangene Aktion rückgängig<br />

macht - offenkundig Schwierigkeiten bereitet), als vielmehr aus dem bei<br />

SCHWAB/STEGMANN ausgeführten Motiv der Herstellung von Chancengleichheit. 235<br />

Wie relevant aber sind computer- und internetbezogene Inhalte überhaupt? Wir haben<br />

oben Positionen kritisiert, die das <strong>Internet</strong> didaktisch instrumentalisieren - etwa zur<br />

Steigerung der Motivation der Lernenden oder der Effizienz des Lernens - und das mit der<br />

232 diese Formulierung findet sich so bei TULLY nicht; sie spitzt jedoch seine These pointiert zu und<br />

verweist auf die Ähnlichkeit seiner Argumentationsfigur zu der seit längerem in der Musikpädagogik<br />

geführten Diskussion über die ‘Ununterrichtbarkeit der Popularmusik’ (JÜRGEN TERHAG) - genauer: der<br />

von SchülerInnen gehörten Popmusik - bedingt (unter anderem) durch deren schnellen Wandel<br />

233 SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 91; vgl. auch a.a.O., S. 216<br />

234 exemplarisches Lehren und Lernen wird ausführlich thematisiert bei KLAFKI 1996, S. 141ff.<br />

235 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 209ff. sowie S. 258; siehe auch oben unter 3.1.2. und 1.2.3<br />

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Nutzung dieses Instruments einhergehende „Erlernen von Fertigkeiten <strong>im</strong> Umgang mit<br />

dem Medium Computer/<strong>Internet</strong>“, so bei FASCHING, nur als Zusatznutzen, als<br />

erfreulichen Nebeneffekt ansehen. 236 Wenn aber ‘<strong>Internet</strong>’ und ‘Netzkompetenzen’ zu<br />

Inhalten eigenen Rechts erklärt werden, droht dann nicht eine Rückkehr zum in den 80er<br />

Jahren dominierenden technizistischen Paradigma der Computerbildung - einem<br />

Paradigma, das von MEISTER/SANDER m.E. zu Recht als Irrweg bezeichnet wird? 237<br />

<strong>Das</strong> am Beispiel des Inhalts ‘Programmieren in BASIC’ gezeigte schnelle Veralten<br />

vermeintlicher ‘Grundlagen’ computerbezogenen Wissens lässt sich in ähnlicher Weise für<br />

den Bereich des <strong>Internet</strong> wiederfinden: <strong>Das</strong> Programmieren von WWW-Seiten in html<br />

etwa stand 1997 bei FASCHING noch <strong>im</strong> Zentrum der didaktischen Behandlung des<br />

Inhalts ‘<strong>Internet</strong>’ 238 , inzwischen genügt ein rud<strong>im</strong>entäres Anwendungswissen, um mit<br />

komfortablen Editoren (die automatisch html-Code generieren) WWW-Seiten gestalten zu<br />

können. Zu dieser Entwicklung passt MEISTER/SANDERs Beobachtung, dass<br />

gegenwärtig „in der bildungspolitischen und -theoretischen Debatte über den Umgang mit<br />

den Neuen Medien die technische Bedienungsfähigkeit in den Hintergrund [rücke] und die<br />

Nutzung bzw. die Inhalte der Medienkommunikation selbst [...] zentralen Stellenwert“<br />

bekamen. 239 <strong>Das</strong> explizit Technische verschwindet zwar nicht, aber es erfordert <strong>im</strong><br />

Zeitalter der ‘intuitiv’ bedienbaren graphischen Benutzeroberflächen nur noch <strong>im</strong> Falle der<br />

Nichtfunktion gezielte Aufmerksamkeit.<br />

236 FASCHING 1997, S. 86<br />

237 vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 47<br />

238 vgl. FASCHING 1997, S. 107<br />

239 MEISTER/SANDER 1999, S. 48<br />

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Nur konsequent erscheint da KÜBLERs Postulat, pädagogisches Trachten dürfe sich nicht<br />

darin erschöpfen, das Medium <strong>Internet</strong> als Objekt kennenzulernen - da das Netz aufgrund<br />

seiner Universalität keine spezifischen medialen Objektqualitäten mehr habe. Mithin sei<br />

das Netz aus pädagogischer Perspektive pr<strong>im</strong>är Instrument und Mittel für Inhalte, die mit<br />

ihm transportiert würden. Weitergehende internetbezogene medienpädagogische<br />

Aufgabenstellungen ließen sich nur radikal subjektorientiert, über die diversen<br />

individuellen Weisen seiner Nutzung gewinnen. 240 <strong>Das</strong> hieße: Eine Pädagogik des<br />

Mediums <strong>Internet</strong> kann es nicht geben, bzw. es kann sie nur als völlig individualisierte<br />

Pädagogik geben, die dann freilich auf der medialen Ebene kein Gemeinsames mehr<br />

hätte.<br />

Dem ist dreierlei entgegenzuhalten: Erstens lässt das <strong>Internet</strong> zwar <strong>im</strong> Prinzip beliebige<br />

Nutzungsweisen zu, dennoch lassen sich geronnene überindividuell typische Formen in<br />

großer Zahl beschreiben. Diese entstehen über Formen kollektiven Wissens (SCHMIDT)<br />

bzw. gehärtete kulturelle Konstruktionen (‘Medien zweiter Ordnung’ nach SCHMID), oder<br />

soziotechnisch vermittelt, über standardisierende Software (Browser, vernetzte Spiele<br />

u.a.) und Netzangebote (hier wäre z.B. auf ‘Channels’ und auf sogenannte ‘Portale’ -<br />

Websites, die sich als Startseite ins WWW anbieten - zu verweisen).<br />

Zweitens mögen ‘dem <strong>Internet</strong>’ vielleicht spezifisch mediale Qualitäten ermangeln - seine<br />

Dienste, etwa als populärster das WWW, haben solche Qualitäten fraglos. So weist<br />

BORRMANN aus der Perspektive der modernen Textlinguistik darauf hin, dass<br />

Hypertextualität bzw. die Produktion von WWW-Hypertexten <strong>im</strong> Deutschunterricht<br />

SchülerInnen dazu verhelfen könne, sich „handelnd mit einem geeigneten Modell für<br />

Texte vertraut [zu] machen“. 241<br />

Drittens schließlich mag die oben beschriebene gesellschaftsverändernde Dynamik des<br />

<strong>Internet</strong> überindividuelle Problemlagen (Telearbeit, zunehmende Notwendigkeit von<br />

Netzkompetenzen auf dem Arbeitsmarkt und <strong>im</strong> Alltagsleben usw.) hervorzubringen; und<br />

oben unter 2.3.2. wurde gezeigt, dass systemisch bedingte Problemlagen eine<br />

Vernetzung der Betroffenen und verständigungsorientierte <strong>Diskurs</strong>e auslösen können. In<br />

diesem Sinne fordert SCHORB, dass eine Pädagogik, die „die Heranwachsenden zu<br />

240 vgl. KÜBLER 1997a, S. 7f. sowie ders. 1997b, S. 55<br />

241 vgl. BORRMANN 1997, S. 16<br />

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Partizipation in der Gesellschaft und Selbstbest<strong>im</strong>mung ihres Handelns“ befähigen wolle,<br />

sich als aufklärende politische Bildung verstehen müsse und als solche die zentrale<br />

Aufgabe habe, Struktur und komplexe gesellschaftliche Auswirkungen der Informations-<br />

und Kommunikationstechniken verstehbar zu machen. 242<br />

An allen drei Punkten könnte eine Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong> ansetzen - freilich<br />

<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Bewusstsein, dass das gegenwärtige <strong>Internet</strong>, der gegenwärtige Stand<br />

gesellschaftlicher Informatisierung nicht das Ende der Fahnenstange (respektive der<br />

Geschichte) ist. - Wie sähe nun eine solche Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong> aus? Und<br />

wie sollte sich ihr Verhältnis zur allgemeinen Pädagogik und zur ‘allgemeinen’<br />

Medienpädagogik best<strong>im</strong>men?<br />

MEISTER/SANDER zeigen Parallelen zwischen Entwicklungen in der allgemeinen und in<br />

der medienbezogenen Bildung auf: Die rasante technische Entwicklung <strong>im</strong> Medienbereich<br />

hier, sowie die Quantität, Komplexität und das schnelle Wachstum des für SchülerInnen<br />

(bzw. Lernende allgemein) relevanten Wissens dort führten zu einer Entwertung<br />

systematisierter Wissensinhalte. 243 Wie <strong>im</strong> schulischen Bereich die Möglichkeit,<br />

‘Allgemeinbildung’ über kanonisierte Inhalte und geschlossene Curricula zu definieren,<br />

zunehmend fragwürdig werde, zeige sich auch <strong>im</strong> Bereich der Neuen Medien die<br />

Untauglichkeit festgelegten Faktenwissens. Auf beiden Ebenen werde daher eine Lösung<br />

<strong>im</strong> Bereich formaler Qualifikationen gesucht: dort Schlüsselqualifikationen, Lernen des<br />

Lernens und Suchkompetenz (‘wo finde ich diese Information’), hier Medienkompetenz.<br />

Dabei sei mit abnehmender Wichtigkeit dezidiert technischen Wissens für Computer- und<br />

<strong>Internet</strong>nutzung eine wachsende Angleichung der für schriftliche, audiovisuelle und eben<br />

digitale Medien erforderlichen Medienkompetenzen festzustellen. 244<br />

So hat auch THIELES integrativer medienpädagogischer Ansatz den Anspruch,<br />

Leseerziehung, Medienerziehung und bisherige Ansätze informationstechnischer Bildung<br />

zu vereinen. Dieser Integration pädagogischer Inhalte wird eine einheitliche<br />

Zielperspektive an die Seite gestellt: Eine „spezielle <strong>Internet</strong>-, Mult<strong>im</strong>edia- oder<br />

Cyberspace-Pädagogik“ sei obsolet, unter den gleichbleibenden übergreifenden Zielen<br />

242 SCHORB 1995b, 5. 25<br />

243 hier liegt eine Parallele zu SCHMIEDES Theorem der Entqualifizierung von Arbeit (siehe oben unter<br />

3.1.1.)<br />

244 MEISTER/SANDER 1999, S. 48f.<br />

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medienpädagogischer Arbeit (die hier als Kompetenzbereiche von Medienkompetenz<br />

formuliert werden; ich kommen unten darauf zurück) müsse lediglich nach den jeweils<br />

„neuen bzw. modifizierten Qualifikationen und Haltungen“ gesucht werden, die „wir zur<br />

aktiven und verantwortungsvollen Mitgestaltung unserer zukünftigen Lebenswelt<br />

benötigen“. 245<br />

Die Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong> wird hier also verortet als ein Teilgebiet einer<br />

einheitlichen Medienpädagogik; diese Medienpädagogik, so THIELES Forderung, solle <strong>im</strong><br />

Bildungsauftrag aller Schulformen fest installiert werden - und dort quer durch alle Fächer:<br />

diese sollen „medienbezogene Themen und Lernfelder verbindlich [...] berücksichtigen,<br />

systematisch [...] verorten und ihre Bearbeitung miteinander ab[ ... ]st<strong>im</strong>men“. THIELE<br />

macht sich hier Forderungen der GMK (Gesellschaft für Medienpädagogik und<br />

Kommunikationskultur) zu eigen, die als Reaktion auf den Orientierungsrahmen<br />

„Medienerziehung in der Schule“ der BLK (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung<br />

und Forschungsförderung) von 1995 formuliert wurden. 246<br />

<strong>Das</strong> Postulat medienpädagogischer Breitenbildung wird bei SCHORB gesellschafts- und<br />

sozialisationstheoretisch fundiert: Medienpädagogik stehe heute vor der „Aufgabe zu<br />

generalisieren. Die Notwendigkeit, sich über die Beschränkung einer speziellen<br />

Pädagogik zu erheben, folgert aus der Omnipräsent und der stetig zunehmenden<br />

Bedeutung der Medien selbst“. Eine Entwicklung der Medienpädagogik zu einer „neuen<br />

Universalpädagogik“ wird - <strong>im</strong> Kontext der Verbreitung des <strong>Internet</strong> - auch bei KÜBLER<br />

prognostiziert; er schließt dann aber die Frage an, ob man eine solche Pädagogik noch<br />

‘Medienpädagogik’ nennen könne. Ähnlich wie SCHORB und KÜBLER, jedoch mit<br />

anderen inhaltlichen Vorstellungen, argumentiert OPASCHOWSKI: Je größer der<br />

sozialisatorische Einfluß der Medien sei, desto mehr müssten Erziehung und<br />

Allgemeinbildung auch Medienerziehung und –bildung sein. 247<br />

245 THIELE 1997<br />

246 ebd.; diesen ‘Orientierungsrahmen’ betrachtet auch MIKOS (1997, S. 69) lediglich als einen<br />

„bescheidenen Anfang“ auf dem Weg zu einer anzustrebenden umfassenden Verankerung von<br />

Medienerziehung in den Lehrplänen<br />

247 SCHORB 1995b, S. 25 sowie KÜBLER 1997a, S. 8; vgl. OPASCHOwSKI 1999, S. 90 (mit Rekurs auf H.<br />

MOSER)<br />

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Eine Pädagogik des Mediums <strong>Internet</strong>, so der Zwischenstand, ist in den weiteren Rahmen<br />

der allgemeinen Medienpädagogik einzuordnen, deren Ziel die Förderung von<br />

Medienkompetenz ist. Diese Medienpädagogik erhebt - ebenso wie übrigens die bei<br />

PRENGEL vorgestellten Formen einer ‘Pädagogik der Vielfalt’: Interkulturelle,<br />

Feministische und Integrative Pädagogik 248 - zunehmend den Anspruch, keine spezielle<br />

Pädagogik zu sein, sondern vielmehr Kernbestandteil allgemeiner Pädagogik, sofern<br />

diese die Herausforderungen reflexiver Modernisierung annehmen will (also u.a. die<br />

Individualisierung von Lebenswelten und die Mediatisierung von Kommunikation).<br />

Bevor wir dazu übergehen, die Konzeption einer Erziehung zu Medienkompetenz<br />

inhaltlich zu füllen, soll hier den Fragen nachgegangen werden, welcher Handlungsbedarf<br />

auf welchen Handlungsebenen in der medien<strong>pädagogischen</strong> Reflexion gesehen wird, und<br />

welche Kompetenzen bei Erziehenden für nötig erachtet werden, damit Medienkompetenz<br />

erfolgreich gefördert werden könne.<br />

Handlungsebenen für eine Medienpädagogik <strong>im</strong> Zeichen der Computernetze und der auf<br />

diesen jeweils gesehene Handlungsbedarf thematisiert MIKOS; er nennt hier fünf<br />

Aufgabenfelder: <strong>Das</strong>jenige der Theorie und Forschung, dasjenige der Medien-, Schul- und<br />

Bildungspolitik, dasjenige der medien<strong>pädagogischen</strong> Arbeit als Erziehung zu<br />

Medienkompetenz, dasjenige der Mediendidaktik und dasjenige der Aus- und Fortbildung<br />

für PädagogInnen. 249 Gehen wir diese fünf Felder der Reihe nach durch.<br />

Theorie und Forschung wird bei MIKOS die Aufgabe der Begriffsklärung und der<br />

Entwicklung handlungsleitender Konzeptionen von Medienkompetenz zugewiesen. Man<br />

sollte m.E. die von SCHORB benannte Aufgabe hinzufügen, Forschungsergebnisse<br />

anderer Disziplinen zum <strong>Internet</strong> und seiner gesellschaftsverändernden Dynamik zu<br />

rezipieren. 250<br />

Auf der politischen Ebene fordert MIKOS metapädagogisches Engagement: Einsatz<br />

medienpädagogischer Akteurinnen für institutionelle Verankerung und finanzielle<br />

Absicherung von Medienpädagogik bzw. Medieninfrastruktur (Netzzugang) und<br />

Medienkompetenzerwerb nämlich.<br />

248 vgl. PRENGEL 1995<br />

249 vgl. MIKOS 1997, S. 68ff.<br />

250 vgl. SCHORE 1995b, S. 26; siehe auch oben unter 1.1.3.<br />

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Der Ebene der medien<strong>pädagogischen</strong> Arbeit kommt hier der Auftrag zu, die von Theorie<br />

und Forschung entwickelte Konzeption von Medienkompetenz in die Praxis umzusetzen.<br />

Diese deduktive Konzeption wird dadurch relativiert, dass MIKOS den Bedürfnissen des<br />

konkreten Klientel einen zentralen Platz in seinem Theoriegebäude zugesteht und mit<br />

THEUNERT für die pädagogische Praxis die Aufgabe formuliert, „Räume zu öffnen, die<br />

das selbstbest<strong>im</strong>mte Erproben von Mult<strong>im</strong>edia-Welten erlauben, und zwar eingebettet in<br />

soziale lnteraktionsprozesse“. 251 Man könnte dennoch kritisch ein theoretieorientiertes<br />

Dominanzmodell vermerken; gegen dieses ließe sich, mit BADERS radikaler<br />

Formulierung, halten: „Die Kriterien für den Erfolg einer Praxis kommen aus der Praxis“ 252 ;<br />

zumindest wäre aber ein gleichberechtigtes Austauschverhältnis von Theorie und Praxis<br />

zu fordern. Eine offenere Konzeption auf der Ebene der <strong>pädagogischen</strong> Praxis entwickelt<br />

RÖLL mit seiner ‘Pädagogik der Unschärfe’: Hier hat die Pädagogin/der Pädagoge nicht<br />

mehr die Aufgabe, inhaltliche Vorgaben zu machen, sondern soll statt dessen einen<br />

Lernzusammenhang zu strukturieren, ein Feld vorzugeben, in welchem es sein könne,<br />

„dass sich Aufgaben entwickeln, die ich [= der Pädagoge, S.D.1 vorher gar nicht kannte,<br />

weil die Klientel [...] eigene Kompetenzen, eigene Erfahrungen, eigene Wünsche, eigene<br />

Suchbewegungen mit einbringt“. 253<br />

Auf die didaktische Ebene sind wir unter 4.2.1. hinreichend eingegangen; hier soll nur<br />

erwähnt werden, dass MIKOS diese Ebene auf den Bereich der Spiele und<br />

Lernprogramme beschränkt abhandelt und nicht die Chancen der ‘Lernwelt <strong>Internet</strong>’ sieht.<br />

Mit dem Bereich der Aus- und Fortbildung (von PädagogInnen bzw. Multiplikatorinnen)<br />

wollen wir uns gleich <strong>im</strong> Anschluss auseinandersetzen. Hier sollen noch zwei quer zu den<br />

von MIKOS genannten Handlungsfeldern liegende Aufgabenzuweisungen an<br />

Medienpädagogik benannt werden: So fordert HAEFNER ein Schritthalten der Pädagogik<br />

mit der Innovationsgeschwindigkeit der Hard- und Softwareindustrie, und SCHORB<br />

postuliert ein Aufspüren und Weitergeben subkulturell-alternativer Netznutzungsweisen. 254<br />

251 HELGATHEUNERTzit. nach MIKOS 1997, S. 68f.<br />

252 ROLAND BADER, mündlicher Beitrag auf der Konnekt-Tagung am 19.11.1999 (ich zitiere nach meiner<br />

Mitschrift)<br />

253 SCHORB/RÖLL 1999, S. 21<br />

254 vgl. HAEFNER 1995, S. 107 sowie SCHORB 1995b, S. 27<br />

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Wenden wir uns also der Fragestellung zu, welche Kompetenzen Erziehende brauchen,<br />

um Medienkompetenzen bei ihrem Klientel fördern zu können. THIELE nennt hier als<br />

Min<strong>im</strong>alforderung eigene Erfahrungen mit dem Medium: „Kenntnis, Erprobung und<br />

Reflexion der unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten und ihrer möglichen<br />

Konsequenzen“. Mit Bezug auf die oben erwähnte Stellungnahme der GMK zur Förderung<br />

einer umfassenden Medienerziehung in der Schule werden sodann<br />

Konkretisierungsvorschläge für den Bereich der Lehrerbildung gemacht: von<br />

medien<strong>pädagogischen</strong> Pflicht und Wahlpflichtangeboten <strong>im</strong> Lehramtsstudium, von<br />

obligatorischen Fortbildungen für Fachseminarleiterlnnen, vom übergreifenden Ziel eines<br />

medien<strong>pädagogischen</strong> Curriculums für jede Schule und von der Installation einer Funktion<br />

‘Fachberaterin Medienpädagogik’ ist hier die Rede. Inhaltlich wird eine klare<br />

pädagogische (also keine pr<strong>im</strong>är technische) Orientierung der Multiplikatorlnnenbildung<br />

angestrebt. 255 Problematisch erscheint mir der Zwangscharakter der angestrebten<br />

Maßnahmen; angesichts der aktuellen Situation des medien<strong>pädagogischen</strong> Lehrangebots<br />

an deutschen Universitäten, des evidenten Missverhältnisses zwischen (sozio-)<br />

technischen Entwicklungen und deren Berücksichtigung in der akademischen<br />

LehrerInnenausbildung 256 , erscheinen mir die genannten Postulate als<br />

Max<strong>im</strong>alforderungen dennoch politisch sinnvoll.<br />

Aktuelle Ansätze in der medien<strong>pädagogischen</strong> LehrerInnenfortbildung thematisiert<br />

ESCHENAUER. Hier wird sowohl eine Vernachlässigung der medienbezogenen<br />

Lehrerfortbildung von staatlicher und institutioneller Seite als auch mangelnde<br />

Fortbildungsbereitschaft seitens der LehrerInnenschaft problematisiert. Wie THIELE<br />

spricht sich auch ESCHENAUER ferner für (schulinterne wie auch schulexterne)<br />

Medienberaterinnen aus. Inhaltlich wird zum einen für eine LehrerInnenbildung nach den<br />

Prinzipien handlungsorientierter Medienpädagogik - d.h., medienpädagogische<br />

Kompetenz wird erworben über den produktiven ‘Umweg’ des Erwerbs bzw. der Reflexion<br />

eigener Medienkompetenz - plädiert, zum anderen mit BAACKE für eine Perspektivierung<br />

medientechnischen Wissens „in den Horizont menschlicher Kompetenz zur<br />

Selbstentfaltung“. 257 Mit MEISTER/SANDER und DÖRING wäre darüber hinaus eine<br />

255 THIELE 1997<br />

256 vgl. KETZER 1999, Kap. 10<br />

257 ESCHENAUER 1997, S. 52<br />

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Befähigung von PädagogInnen zur Vermittlung von metakognitiven und<br />

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metamotivationalen Strategien, zur Förderung von Kompetenzerwerb zu fordern. Mit<br />

anderen Worten: Lehrende müssen lernen, Lernstrategien zu lehren, bzw. günstige<br />

Umgebungen für deren Erwerb zu schaffen. 258<br />

Hier kann HAEFNERs Aufgabenbest<strong>im</strong>mung für Lehrende in der computerisierten<br />

Gesellschaft anschließen: Diese müssten Gestalterinnen von Lernumgebungen aus<br />

interaktiven Medien und sozialem Miteinander sein und sollten sich ferner auf der<br />

ethischen Ebene am „Prozeß der Entwicklung von Werten, Normen und Zielen“ in einer<br />

zunehmend informatisierten, soziotechnisch integrierten Gesellschaft beteiligen. Aus<br />

dieser Aufgabenbest<strong>im</strong>mung leite sich die Untauglichkeit des gegenwärtigen<br />

„Zweifachstudiums“ <strong>im</strong> Lehramt sowie die Notwendigkeit einer zwischen akademischer<br />

Ausbildung und Lehrtätigkeit eingeschobenen Phase außerschulischer Berufstätigkeit ab,<br />

die dem Lehrer vermitteln soll, „in welcher - sich rasch verändernden - Welt seine<br />

SchülerInnen und Schüler später leben werden“. 259 Hier verstrickt sich HAEFNER freilich<br />

in Paradoxa: Vorausgesetzt, der diagnostizierte schnelle Wandel wird nicht als einmaliger,<br />

sondern als permanenter Veränderungsprozess aufgefasst, wäre die Arbeitswelt, welche<br />

der werdende Lehrer aktiv kennenlernt, eine ganz andere als die, in der später, nach<br />

einigen Dienstjahren, die Eltern seiner SchülerInnen tätig sind, und nochmals eine ganz<br />

andere als die, in der diese SchülerInnen dann selbst arbeiten werden - so sie denn<br />

arbeiten werden.<br />

So bleibt festzuhalten, dass eine Bildungsplanung mit der Zielperspektive<br />

‘Medienkompetenz für alle’ zumindest einen zweigleisigen Ausbau der <strong>pädagogischen</strong><br />

Aus- und Fortbildung nahelegt:<br />

Auf der einen Seite müssten (angehende) PädagogInnen vermehrt Chancen erhalten,<br />

vielfältige Erfahrungen mit diversen Medien zu sammeln, und darunter auch<br />

konsumierende, recherchierende und gestaltende <strong>Internet</strong>nutzung kennen zu lernen.<br />

<strong>Das</strong>s in der Lehrerausbildung Veranstaltungen, die explizit solche Inhalte thematisieren,<br />

noch eher spärlich anzutreffen sind und vermutlich auch der Anteil von PädagogInnen, die<br />

sich in dieser Richtung fortbilden, noch marginal ist, muss freilich nicht gleich in die<br />

258 vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 42 sowie DÖRING 1995, S. 327<br />

259 HAEFNER 1995, S. 106f.<br />

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HAEFNERsche ‘neue Bildungskatastrophe’ führen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass<br />

auch bei Lehrenden und Pädagogikstudentlnnen häufig ein informeller Erwerb von<br />

<strong>Internet</strong>erfahrungen/-kompetenzen <strong>im</strong> Alltag bzw. be<strong>im</strong> instrumentellen Netzeinsatz für<br />

Studium und Unterricht erfolgen wird. Freilich wäre eine verstärkte explizite<br />

Berücksichtigung medienpädagogischer Themen in der formalen <strong>pädagogischen</strong> Aus-/<br />

Fortbildung dennoch zu begrüßen.<br />

Auf der anderen Seite - und diese Forderung wird nicht nur <strong>im</strong> medien<strong>pädagogischen</strong><br />

<strong>Diskurs</strong> erhoben - müssten Lehrende für eine Didaktik jenseits der Instruktion qualifiziert<br />

werden, müssten verstärkt auf Tätigkeiten des Moderierens, der Unterstützung von<br />

Lernprozessen und der Gestaltung von Lernräumen vorbereitet werden.<br />

Wir haben nun den spezifischen Auftrag von Schule und außerschulischer Jugendarbeit<br />

angesichts der zunehmenden Relevanz und gesellschaftsverändernden Dynamik des<br />

<strong>Internet</strong> best<strong>im</strong>mt als ‘Vermittlung bzw. Förderung von Medienkompetenz’; wir haben<br />

diesen Auftrag für verschiedene Ebenen medien<strong>pädagogischen</strong> Handelns ausdifferenziert<br />

und haben seine infrastrukturellen Voraussetzungen diskutiert. Es steht nun die Frage an,<br />

wie diese Medienkompetenz auszusehen hat und wie sie in <strong>pädagogischen</strong> Prozessen<br />

vermittelt und gefördert werden kann.<br />

Medienkompetenz stelle heute, so MEISTER/SANDER, „so etwas wie eine ‘Zauberformel’<br />

dar. Dabei besteht einerseits weitgehend Konsens darüber, daß Medienkompetenz<br />

teilweise ein Resultat autodidaktischer Bemühungen ist und teilweise sogar en passant<br />

erworben wird, andererseits sind sich die Pädagogen weithin einig, daß der umfassenden<br />

Bewältigung von Anforderungen in der ‘Wissensgesellschaft’ nur mittels pädagogischer<br />

Förderung entsprochen werden kann“. 260 Der pädagogische Fachdiskurs über dieses<br />

Spannungsfeld von informellem und angeleitetem Medienkompetenzerwerb soll hier<br />

zunächst genauer betrachtet werden, bevor eine inhaltliche Füllung und Differenzierung<br />

von ‘Medienkompetenz <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong>’ erfolgen soll.<br />

Die Bedeutung informell erworbener bzw. ‘natürlicher’ Medienkompetenz wird etwa von<br />

AUFENANGER herausgestellt: Kinder und Jugendliche seien als „aktive Rezipienten, die -<br />

bewusst oder auch unbewusst - gezielt sich aus dem Medienangebot dasjenige<br />

aussuchen, was ihre Bedürfnisse befriedigt“ zu betrachten und seien somit<br />

260 MEISTER/SANDER 1999, S. 44<br />

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„medienkompetent in dem Sinne [...], daß sie größtenteils sinnvoll mit Medien umgehen<br />

können“ 261 . Auch BAACKE vertritt eine „grundsätzlich positive pädagogische Auffassung“:<br />

Kinder und Jugendliche könnten „alle Kommunikationsmöglichkeiten - die neuen und die<br />

alten - einigermaßen gut nutzen“. Unter Berufung auf Erkenntnisse der neueren<br />

Kindheitsforschung wird hier dem traditionellen Bild von Kindheit/Jugend als einer „supra-<br />

kulturell quasi anthropologisch festgelegten Wachstumsphase“ dasjenige eines<br />

„historisch-kulturellen Produkts sich wandelnder Verhältnisse“ entgegengestellt; die<br />

Pointe: Kinder seien nicht mehr als „bloße Rezipienten einer Erwachsenenkultur, in die sie<br />

allmählich hineinwachsen“, sondern vielmehr als aktive „Produzenten ihres<br />

Lebenszusammenhangs“, als „Personen aus eigenem Recht“ zu betrachten. Als<br />

Konsequenz fordert BAACKE einen <strong>pädagogischen</strong> Paradigmenwechsel weg von<br />

Erziehung, hin zum Dialog. 262<br />

Bezogen auf Mediennutzung, bedeutet das natürlich einen Abschied von der Idee einer<br />

erwachsenen Leitkultur; kindliche Mediennutzungsweisen bekommen einen Eigenwert<br />

und ‘Eigensinn’ zugesprochen.<br />

Während OPASCHOWSKI dieser These einer unproblematischen Mediennutzung bei<br />

Kindern und Jugendlichen qua ‘natürlicher’ Medienkompetenz kategorisch widerspricht 263 ,<br />

nehmen MEISTER/SANDER eine differenzierte Bewertung vor: Bisherige Beobachtungen<br />

ließen zwar vermuten, dass „eine sich wandelnde Medienwelt begleitet durch Phänomene<br />

einer Mediensozialisation <strong>im</strong> Sinne einer sich wandelnden (informellen) Lernumgebung<br />

[...] heutige Kinder und Jugendliche quasi ‘automatisch’ mit der notwendigen<br />

Medienkompetenz versorgen“ würde. Daher sei zu erwarten, dass die Medienerfahrungen<br />

gegenwärtig Heranwachsender deren zukünftigem Erwachsenenalltag näher seien als die<br />

261 AUFENANGER 1995, S. 59f.<br />

262 BAACKE 1997, S. 35f. - als Entdecker der Kindheit als Lebensphase eigenen Rechts gilt freilich schon<br />

ROUSSEAU, und auch die bei BAACKE (a.a.O.) pädagogisch geforderte „Bemü hung, uns auf eine<br />

authentische Kinderperspektive einzulassen“, ist ein alter Topos aus dem reform<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong>,<br />

dort meist unter dem Motto einer ‘Pädagogik vom Kinde aus’ postuliert. Anders als bei BAACKE wurde<br />

hier freilich meist mit einer stabilen, teleologisch gedachten Vision von der ‘Natur des Kindes’ operiert<br />

(vgl. OELKERS 1989, S. 73ff.); auch dialogische Modelle von Erziehung wurden bereits in den 1920er<br />

Jahren von MARTIN BUBER angedacht (vgl. OELKERS 1989, S. 149)<br />

263 OPASCHOWSKI 1999, S. 88: „Eine zukunftsorientierte Medienpädagogik darf sich nicht länger ebenso<br />

emanzipiert wie fortschrittsgläubig geben, indem sie einfach darauf vertraut, daß die Medien bei den<br />

Kindern ‘problemlos Verwendung finden’, weil sie vermeintlich selbständiger und kompetenter mit den<br />

Medien umgehen können, als die Erwachsenen ihnen zutrauen“<br />

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Lebenswelten gegenwärtig Erwachsener (inkl. PädagogInnen). Allerdings seien die<br />

genannten informell erworbenen Kompetenzen vorwiegend konsumptiver Art<br />

(„Unterhaltungskompetenz“). 264 Auch KÜBLER sieht die Tragweite informell erworbener<br />

Medienkompetenz auf den Konsumbereich beschränkt, mit Strukturveränderungen - etwa<br />

in Richtung Demokratisierung - sei auf diesem Wege nicht zu rechnen. 265<br />

Gegen diese Position ließen sich die von CHARLTON/NEUMANN-BRAUN für die<br />

Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen konstatierte „Spannung zwischen<br />

akzeptierender Annahme und widerständiger Skriptmanipulation“ 266 wie auch RÖLLs<br />

Beobachtungen aktiver und kreativer jugendkultureller Netzaneignung anführen.<br />

Außerdem dürfte es sich als empirische Unmöglichkeit erweisen, säuberlich zwischen<br />

funktional ansozialisierten und mit Hilfe pädagogischer Interventionen - bewusster oder<br />

unbewusster, elterlicher oder professioneller - erworbenen Medienkompetenzen zu<br />

unterscheiden. Beachtenswert erscheint mir jedoch MEISTER/SANDERs empirisch<br />

abgesicherte Erkenntnis, dass eine Mediennutzung zur gezielten - allgemeinen oder<br />

zweckbest<strong>im</strong>mten - Informationsbeschaffung nur von denjenigen sozialen Kontexten<br />

unterstützt werde, in denen ‘Wissen’ als relevantes Kapital gelte - also bildungsnahen<br />

Schichten und Milieus sowie der Institution Schule. 267<br />

Eine pädagogische Vermittlung bzw. Förderung von Medienkompetenz auf breiter Basis<br />

ließe sich also begründen über den Abbau sozialer Ungleichheiten, über eine Erweiterung<br />

des Horizonts der Nutzungsmöglichkeiten, über Emanzipation des Individuums (MIKOS:<br />

„Ziel der Medienmündigkeit muß es sein, die Handlungsmächtigkeit des einzelnen<br />

Individuums angesichts einer <strong>im</strong>mer undurchschaubareren, von technischen Geräten<br />

durchsetzten Welt zu fördern“ 268 ), über Kompetenzen zur demokratischen (Mit/Um-)<br />

Gestaltung von Medien, sowie negativ gewendet: Wenn Medienkompetenz, insbesondere<br />

computer- und internetbezogene, zunehmend den Rang einer grundlegenden, einer<br />

264 MEISTER/SANDER 1999, S. 50<br />

265 vgl. KÜBLER 1997b, S. 55<br />

266 MICHAEL CHARLTON und KLAUS NEUMANN-BRAUN zit. nach SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 30<br />

267 vgl. RÖLL 1999, S. 35 sowie MEISTER/SANDER 1999, S. 50f.<br />

268 MIKOS 1997, S. 70<br />

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‘vierten Kulturtechnik’ einn<strong>im</strong>mt 269 - wie sollte sich dann deren pädagogische (und vor<br />

allem: schulische) Nichtberücksichtigung rechtfertigen lassen?<br />

Kommen wir also auf die Frage zurück, wie - pädagogisch zu vermittelnde bzw. zu<br />

fördernde - ‘Medienkompetenz’ <strong>im</strong> Zeitalter der Computernetze inhaltlich zu füllen sei.<br />

Systematische Konzeptionen liegen hierzu von BAACKE und THIELE vor; beide sollen<br />

hier kurz vorgestellt werden.<br />

THIELE nennt vier Bereiche unspezifischer, also nicht auf ein konkretes Medium<br />

bezogener Medienkompetenz: Die reflektierte Nutzung (Nutzung <strong>im</strong> Bewusstsein der<br />

eigenen Motive), die aktive Nutzung (Nutzung für die Artikulation eigener Interessen), die<br />

Medienanalyse (inhaltliche Aussagen und Gestaltungsformen wahrnehmen, analysieren,<br />

verstehen und bewerten) sowie die Medienkritik (den sozio-ökonomischen Kontext der<br />

Medienproduktion einschätzen und für das eigene Handeln bewerten können). Diese<br />

Kompetenzbereiche werden gleichzeitig als übergreifende Ziele medienpädagogischer<br />

Arbeit benannt. 270<br />

Ähnlich, wenn auch mit anderen Akzenten, systematisiert BAACKE Medienkompetenz:<br />

Hier wird zunächst zwischen der D<strong>im</strong>ension der Vermittlung und derjenigen der<br />

Zielorientierung unterschieden; auf letzterer (eher der individuellen Verantwortung<br />

zugeschlagen) siedelt BAACKE dann die Bereiche ‘Mediennutzung’ und<br />

‘Mediengestaltung’ an, auf ersterer (eher der <strong>pädagogischen</strong> Verantwortung<br />

zugeschlagen) ‘Medienkunde’ und ‘Medienkritik’. 271 Diese Bereiche entsprechen inhaltlich<br />

weitgehend denjenigen bei THIELE (in gleicher Reihenfolge gelesen); durch die bei<br />

BAACKE eingeführte Unterscheidung zwischen Ziel- und Vermittlungsd<strong>im</strong>ension ergeben<br />

sich dennoch Differenzen.<br />

So haben Nutzung und Gestaltung bei THIELE stärkere pädagogischaufklärerische<br />

Konnotationen; die Reflexion der Nutzungsmotive - insbesondere, so ist zu vermuten, bei<br />

einer Mediennutzung zu Unterhaltungs- und Zerstreuungszwecken - und die instrumentell<br />

auf Interessenvertretung ausgerichtete Mediengestaltung stehen hier einem eher<br />

Unterhaltungskompetenz und Kreativität betonenden Verständnis bei BAACKE<br />

269 vgl. ZIELINSKI 1993, S. 207; TULLY 1994, S. 42f. sowie MEISTER/SANDER 1999, S. 46f.<br />

270 vgl. THIELE 1997 - die Benennung dieser Kompetenzbereiche habe ich in Zusammenfassung von<br />

THIELES Aussagen vorgenommen<br />

271 vgl. BAACKE 1999, S. 23f<br />

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gegenüber. So sinnvoll ein kritisches Hinterfragen eigener Nutzungsmotive und eine<br />

Nutzung des <strong>Internet</strong> als (sub-)politisches Artikulationsinstrument sein mögen: Pädagogik<br />

sollte m.E. erstens unterhaltungs-, entspannungs- und zerstreuungsbezogene<br />

Mediennutzung nicht generell als legit<strong>im</strong>ationspflichtig betrachten und zweitens auf keinen<br />

Fall ein auf Interessenartikulation verkürztes Konzept von Mediengestaltung entwerfen;<br />

statt dessen sollte m.E. deren künstlerisches und expressives Potential mindestens<br />

gleichwertig berücksichtigt werden (freilich kann jeder kreative Akt als Ausdruck von<br />

Bedürfnissen/Interessen <strong>im</strong> weitesten Sinne gewertet werden, und in THIELES weiteren<br />

Ausführungen finden auch kreative Aktivitäten Berücksichtigung).<br />

Während Medienkritik bei BAACKE ähnlich wie bei THIELE entfaltet wird - BAACKE hebt<br />

neben der analytischen (problematische gesellschaftliche Prozesse wie z.B.<br />

Konzentrationsbewegungen angemessen erfassen) und der reflexiven (das analytisch<br />

Erfasste auf eigenes Handeln anwenden) noch die ethische Komponente hervor (das<br />

eigene analytische Denken und reflektierte Handeln auf soziale Verantwortung beziehen)<br />

- klaffen <strong>im</strong> Bereich der Medienanalyse (THIELE) bzw. -kunde (BAACKE), wie schon die<br />

unterschiedlichen Begriffe zeigen, größere Lücken: Während BAACKE hier informative<br />

(„Was ist ein ‘duales Rundfunksystem’? Wie arbeiten Journalisten? Welche<br />

Programmgenres gibt es? Wie kann ich auswählen? Wie kann ich einen Computer für<br />

meine Zwecke effektiv nutzen?“) und instrumentell-qualifikatorische Aspekte<br />

(Medienkompetenz <strong>im</strong> engen Sinne als Bündel von Anwendungsqualifikationen) anführt,<br />

bewegt sich THIELE eher auf dem Feld der ästhetischen Erziehung und der<br />

hermeneutischen Kompetenz. 272 Hermeneutische Kompetenz wird auch von<br />

AUFENANGER und SCHULZ-ZANDER als ein zentraler Bestandteil von<br />

Medienkompetenz postuliert (bezogen insbesondere auf das Verstehen von<br />

Bilderwelten). 273<br />

Zusammengenommen und in Absehung von den jeweiligen blinden Flecken und<br />

Verkürzungen sind diese beiden Systematiken m.E. geeignet, das Feld der<br />

Medienkompetenz aufzuspannen. Wir wollen <strong>im</strong> Folgenden wegen ihrer größeren<br />

Prägnanz die BAACKEschen Begriffe verwenden, ohne jedoch seine Unterscheidung in<br />

272 vgl. ebd. sowie THIELE 1997<br />

273 vgl. AUFENANGER 1995, S. 75 sowie SCHULZ-ZANDER 1997, S. 13<br />

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Ziel- und Vermittlungsd<strong>im</strong>ension zu übernehmen, und mit einer Fassung von<br />

‘Medienkunde’, die die informativen Aspekte bei BAACKE und die ästhetischen und<br />

hermeneutischen bei THIELE vereinigt (BAACKEs instrumentell-qualifikatorische Aspekte<br />

schlage ich dem Bereich ‘Mediennutzung’ zu).<br />

Der so aufgespannte Begriff der Medienkompetenz kann noch in mehrere Richtungen<br />

erweitert werden: So weisen MEISTER/SANDER darauf hin, dass <strong>im</strong> Gegensatz zum<br />

traditionellen Verständnis von Sozialisationsaufgaben und pädagogischer Förderung<br />

‘Medienkompetenz’ sich auf alle Altersgruppen bezieht. 274 BAACKE regt an, in<br />

‘Medienkompetenz’ auch ‘Medienerziehung’ (<strong>im</strong> Sinne einer methodisch geordneten,<br />

zielorientierten Förderung durch verantwortliches professionelles Personal) und<br />

‘Medienbildung’ (<strong>im</strong> Sinne der Unverfügbarkeit des Subjekts, also als ‘sich bilden’)<br />

hineinzudenken, sowie ferner Kompetenz nicht kognitivistisch-rationalistisch zu halbieren,<br />

sondern Emotionalität und Körperlichkeit einzubeziehen. 275<br />

Dieses allgemeine Konzept von Medienkompetenz soll nun auf das Medium <strong>Internet</strong><br />

(angesichts dessen universellen Potentials müsste man genauer sagen: auf die entlang<br />

der Strukturen des <strong>Internet</strong> gegenwärtig algorithmisch und kulturell konstruierten ‘Medien<br />

zweiter Ordnung’) und seine Nutzung durch Jugendliche angewendet werden. Nach und<br />

nach sollen dabei die Bereiche Mediennutzung, Mediengestaltung, Medienkunde und<br />

Medienkritik konkretisiert werden.<br />

Nutzung des universellen Mediums <strong>Internet</strong> kann auf verschiedenste Weise erfolgen; die<br />

Grenzen zwischen Informationssuche, Individualkommunikation, many-to-many-<br />

Kommunikation, Spiel und Rezeption von Unterhaltungsangeboten sind ebenso fließend<br />

wie der Übergang zum Bereich der Mediengestaltung (es ist ja gerade das Eigentümliche<br />

des <strong>Internet</strong>, dass die Grenzen zwischen Nutzung und Gestaltung verschw<strong>im</strong>men). Für<br />

jede dieser überlappenden Nutzungsd<strong>im</strong>ensionen und abhängig von der jeweils genutzten<br />

ten Software ist Bedienungswissen, sind Anwendungskompetenzen in je spezifischen<br />

Formen und Ausmaßen erforderlich. Inwieweit der/die Nutzerin auf solche Kompetenzen<br />

zurückgreifen kann, hängt zum einen von der jeweiligen (Medien-)Sozialisation ab und<br />

zum anderen vom individuellen ‘sozialen Kapital’, also den <strong>im</strong> persönlichen Netzwerk<br />

274 vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 44<br />

275 vgl. BAACKE 1999, S. 24f.<br />

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(Peergroup, Eltern, Geschwister, PädagogInnen usw.) zugänglichen<br />

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Kompetenzressourcen. Pädagogik kann solche Kompetenzen nun entweder direkt zu<br />

fördern versuchen - hier ist m.E. produkt- bzw. projektorientiertem Lernen entlang einer<br />

Aufgabenstellung der Vorzug vor reinen ‘Bedienungskursen’ zu geben - oder indirekt, über<br />

die Förderung sozialer Kontakte zwischen unterschiedlich bzw. in verschiedenen<br />

Bereichen kompetenten Jugendlichen (denkbar ist auch, dass PädagogInnen hier selbst<br />

‘Nachhilfe’ durch Jugendliche bekommen - etwa bezüglich der Nutzung je neuer<br />

Netzdienste bzw. Software).<br />

Nutzungskompetenz kann jedoch nicht auf technische Bedienungsfertigkeiten beschränkt<br />

werden - ja, ‘technische Bedienungsfertigkeiten’ selbst sind <strong>im</strong> universellen Medium<br />

<strong>Internet</strong> schwer abgrenzbar: Gehört die Installation einer Netzverbindung dazu, oder kann<br />

das Fachleuten überlassen werden? Die Bedienung eines Browsers? das Wissen um die<br />

URLs der subjektiv interessantesten Chat-Räume oder der wichtigsten<br />

Suchmaschinen? 276 Die Fähigkeit, eine mit logischem ‘und’ verknüpfte Suche in einer<br />

spezifischen Suchmaschine durchzuführen, bzw. sich dieses Verfahren mittels der<br />

Hilfefunktion der jeweiligen Suchmaschine anzueignen? Oder reicht es, an die<br />

‘Hilfefunktion’ der mehr oder weniger freundlichen Expertin am Nebenrechner appellieren<br />

zu können? - Vielmehr ist meist eine Gemengelage kognitiver und kommunikativer<br />

Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen gefordert.<br />

Nutzungsweisenübergreifende Geltung beansprucht THIELEs Postulat einer Förderung<br />

der Qualifikation, „unterschiedliche Zugangsweisen zu Informations- und<br />

Unterhaltungsquellen auch in den Netzen [zu] kennen, beherrschen und selbstbest<strong>im</strong>mt<br />

und verantwortlich nutzen [zu] können“ - hier liegt der Akzent weniger auf einem<br />

fixierbaren Kanon best<strong>im</strong>mter Nutzungsweisen, sondern mehr auf der Vielfalt, auf einer<br />

Erweiterung des Nutzungsspektrums, sowie auf Eigenverantwortlichkeit. 277 Wenn <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> spezifische Nutzungskompetenzen angeführt werden, dann<br />

meistens in entlang den D<strong>im</strong>ensionen von Information und von Kommunikation<br />

gegliederter Form.<br />

276URL (‘uniform resource locator’) heißen die textförmigen <strong>Internet</strong>adressen (z.B. für die Suchmaschine<br />

Fireball: http://www.fireball.de), die stellvertretend für die rein numerischen - und daher schwerer zu<br />

erinnernden - IP-Adressen stehen<br />

277 THIELE 1997<br />

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Als zu fördernde informationsbezogene Kompetenzen werden vor allem - anschlussfähig<br />

an den unter 4.2.1. dargestellten didaktischen <strong>Diskurs</strong> der Netznutzung - Recherchieren,<br />

Selektieren, Validieren und Strukturieren angeführt. Jugendliche sollen unter Nutzung<br />

vorhandener Suchinstrumente individuelle Suchstrategien entwickeln können; „die<br />

Befähigung, das jeweils Gewünschte zu finden, somit Informationen über Informationen<br />

zu erhalten“, so RÖLL, werde <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>-Zeitalter zu einer „entscheidenden<br />

‘aufklärerischen’ Kompetenz“. 278 Damit ‘Informationen über Informationen’ nicht <strong>im</strong> Sinne<br />

eines unübersichtlichen Haufens, sondern als nutzbare Metainformationen verstanden<br />

werden können, sind freilich Strategien des selbstorganisierten, kognitiven<br />

Informationsmanagements, aber auch des Aufmerksamkeitsmanagements nötig, wie<br />

FASCHING feststellt. 279 Die Fähigkeiten, selbstgesteuert eine Auswahl zu treffen,<br />

Komplexität reduzieren zu können, aber auch die gefundenen, ausgewählten Inhalte<br />

strukturieren und kontextualisieren zu können sowie eine Bewertung - etwa in Bezug auf<br />

ihre „Echtheit, Vollständigkeit, Glaubwürdigkeit, Qualität und/oder Unterhaltungswert [...]<br />

und Relevanz“ - werden somit zu zentralen Schlüsselqualifikationen. 280<br />

Hierbei zeigt sich wieder, wie schon <strong>im</strong> didaktischen Kontext, die Zirkelstruktur von<br />

Medienkompetenz. Alle hier angeführten Teilkompetenzen können sowohl Voraussetzung<br />

als auch Ergebnis einer effektiven Nutzung sein: Sie können einerseits, mit genügend Zeit<br />

und Motivation - sowie, <strong>im</strong> Falle von Lern-’Sackgassen’, off- oder <strong>online</strong> erhaltenen<br />

Hilfestellungen - ‘by doing’ gelernt werden. Andererseits kann, insbesondere bei unter<br />

Zeitdruck zu lösenden Aufgaben oder überzogenen Erwartungen an das <strong>Internet</strong>, der<br />

Mangel an einschlägigen Kompetenzen <strong>im</strong> Umgang mit den komplexen bis chaotischen<br />

Netzstrukturen zu Frustrationserlebnissen führen.<br />

‘Verantwortliche Nutzung’ auf der D<strong>im</strong>ension der Information pädagogisch zu<br />

operationalisieren, könnte heißen: Jugendschutz- und copyrightbezogene Rechtslagen zu<br />

klären und Problembewusstsein zu fördern, ethische Fragen zu diskutieren; wobei<br />

Pädagogik m.E. nicht die Aufgabe hat, sich in jedem Punkt die Position des Gesetzgebers<br />

auch auf ethischer Ebene zu eigen zu machen (konkret: Pädagogik sollte MP3- und<br />

278 RÖLL 1999, S. 34<br />

279 FASCHING 1997, S. 91ff.<br />

280 THIELE 1997; vgl. MEISTER/SANDER 1999, S. 44ff. sowie FEUERSTEIN 1999, S. 180ff.<br />

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Software-Piratinnen über mögliche strafrechtliche Konsequenzen ihres Tuns informieren,<br />

aber ohne den moralisierenden Zeigefinger).<br />

Für die D<strong>im</strong>ension der Netzkommunikation lässt sich mit THIELE als pädagogisch zu<br />

förderndes Ziel die Fähigkeit zur bedürfnis- wie auch zur sachorientierten Nutzung<br />

verschiedener Kommunikationsdienste anführen. Hier sind Kenntnisse der englischen<br />

Sprache sowie Fertigkeiten <strong>im</strong> schnellen Tippen gegenwärtig von Vorteil; für die<br />

Kommunikation in Diskussionsforen bzw. virtuellen Gemeinschaften empfiehlt THIELE<br />

ferner die Kenntnisnahme, Anwendung und Bewertung der allgemeinen (‘Netiquette’) und<br />

der je spezifischen lokalen Kommunikationsregeln. Man könnte hier ‘Bewertung’ noch<br />

ausweiten in Richtung auf einen <strong>Diskurs</strong> über solche lokalen Regeln <strong>im</strong> Netz und ggf. die<br />

Mitwirkung an Veränderungsversuchen - etwa der Einführung demokratischerer<br />

Strukturen 281 - hinzufügen. Mit KETZER kann weiterhin die Förderung von Kompetenzen<br />

zur aktiven Gegenwehr bei Belästigungen und Übergriffen <strong>im</strong> Netz angeführt werden. 282<br />

Als eine über das Netz hinausreichende Kompetenz wäre ferner die Toleranz für Dissens<br />

und kulturelle Differenzen (<strong>im</strong> nicht national bzw. ethnisch verkürzten Sinne, sondern als<br />

Unterschiede in Lebensstil und Wertorientierungen) zu nennen. 283<br />

‘Verantwortliche Nutzung’ auf der D<strong>im</strong>ension der Kommunikation kann neben den<br />

angeführten Aspekten von reflektiertem Umgang mit Kommunikationsregeln und mit<br />

Dissens auch - so von ZACHARIAS und von TURKLE gefordert 284 - heißen: Förderung<br />

von Reflexion über Verantwortung, über das Verhältnis von Worten und Taten, von<br />

physischem und virtuellem Körper in der Online-Kommunikation.<br />

Kommen wir von der Mediennutzung zur Mediengestaltung. In diesem Bereich sind, mit<br />

THIELE, Fähigkeiten zur Produktion von <strong>Internet</strong>angeboten unter Anwendung<br />

gestalterischer, inhaltlicher und ethischer Kriterien zu fördern, weiterhin zur Publikation<br />

und zum Schützen dieser Angebote gegen ungewollte externe Manipulation. 285 Auf der<br />

medientechnischen Ebene ist hierfür die Beherrschung entsprechender<br />

281 vgl. TURKLE 1998, S. 393<br />

282 vgl. KETZER 1999, Kap. 10<br />

283 vgl. THIELE 1997 sowie SUBROWEIT/VAN LÖCK 1998 und FASCHING 1997, S. 99<br />

284 vgl. ZACHARIAS 1999b, S. 50 sowie TURKLE 1998, S. 374f.<br />

285 vgl. THIELE 1997<br />

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Gestaltungsoftware (etwa htmlund Flash-Editoren, Autorenprogramme, Bild- und<br />

Tonbearbeitungssoftware) und -hardware (z.B. Scanner und digitale Kameras)<br />

erforderlich; auf der gestalterischen je nach Schwerpunktsetzung - soll etwa ein<br />

individueller<br />

‘Wohnraum’ für eine virtuelle Welt entstehen oder eine WWW-Seite mit<br />

Informationscharakter? - eher Kreativität oder eher auf die jeweilige Gestaltungsform<br />

bezogene ‘handwerkliche’ Kompetenzen. Hier wäre dann auch ein möglicher<br />

Anknüpfungspunkt für Medienkunde <strong>im</strong> Sinne einer Wahrnehmung, Analyse und<br />

Bewertung von Gestaltungsformen (‘Was macht - aus meiner Sicht, aber auch auf<br />

mögliche Zielgruppen meines WWWAngebots bezogen - ein gutes Webseitendesign<br />

aus?’).<br />

Die Gestaltung von <strong>Internet</strong>angeboten kann jedoch neben der kreativen, expressiven,<br />

selbstdarstellerischen Ebene und neben möglichen Lerneffekten - z.B. eines kritischeren<br />

Blicks auf Medienangebote und Medieninhalte durch eigene Produktionstätigkeit - auch<br />

eine kommunikative und eine handfest kommerzielle D<strong>im</strong>ension haben: Erstere, insofern<br />

Angebote <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> von einer potentiell weltweiten Öffentlichkeit wahrgenommen<br />

werden können, und letztere dadurch, dass mit erfolgreichen (d.h. häufig aufgerufenen)<br />

Seiten Geld verdient werden kann, indem z.B. ‘Werbeflächen’ vermietet werden. Bei<br />

RÖLL finden sich - allerdings <strong>im</strong> Kontext jugendkultureller Netzaneignung - einige<br />

Beispiele erfolgreicher, von Jugendlichen betriebener Seiten; so das einer<br />

Schülerselbsthilfe <strong>im</strong> Netz, die eine kostenlose Datenbank von Referaten, Hausaufgaben<br />

und Entschuldigungen betreibe. 286 Pädagogisch relevante Problemstellungen können sich<br />

in diesem Kontext aus kommunikativem ‘Mißerfolg’ ergeben: Wie umgehen mit der<br />

Frustration, wenn sich niemand für die mühsam erstellten Seiten zu interessieren scheint?<br />

Welche Gegenstrategien können ergriffen werden, um Aufmerksamkeit für eigene Seiten<br />

zu erzeugen? Anmeldung bei populären Suchmaschinen, Aufgreifen aktuell gefragter<br />

Themen 287 , Bemühungen um wechselseitige Links? - Aber auch der Umgang mit<br />

286 vgl. ROLL 1999, S. 35 - die hier angegebene Webadresse http://www.cheatweb.de führt mittlerweile zu<br />

‘young.de - Portal und Community Website für junge Menschen’; die genannten Hilfen für den<br />

SchülerInnenalltag gibt es hier <strong>im</strong>mer noch, dazu aktuelle Nachrichten und Werbung<br />

287 der vermutlich jugendliche Programmierer, der <strong>im</strong> Kontext des Medienrummels um das kostenlos<br />

herunterzuladende Spiel ‘Moorhuhnjagd’ ein sehr s<strong>im</strong>pel gestricktes Spiel, in welchem Figuren aus der<br />

TV-Kinderserie ‘Teletubbies’ abgeschossen werden müssen, ins Netz setzte, braucht über niedrige<br />

Zugriffsquoten jedenfalls nicht zu klagen (http://www.the-sammy.de)<br />

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möglichem Erfolg wirft Fragen auf: Wer beantwortet all die E-Mails? Will man Werbung<br />

oder nicht, und wenn, dann welche? Was passiert mit ggf. übrigbleibendem Geld? In<br />

welchem Verhältnis stehen pädagogische Institution und in ihrem Rahmen entstandene<br />

Netzangebote Jugendlicher zueinander? Außerdem ist zu berücksichtigen, dass ab einer<br />

gewissen Anzahl von Zugriffen auf die erstellten Webseiten bzw. ab einem gewissen<br />

Volumen transferierter Daten die meisten Provider Preisaufschläge verlangen.<br />

Im Bereich der Medienkunde wird von AUFENANGER und SCHULZ-ZANDER die<br />

Förderung hermeneutischer Kompetenz fokussiert, bezogen vor allem auf das ‘Lesen’ von<br />

Bilderwelten, also die Analyse, Interpretation und Bewertung von Bildern, auch <strong>im</strong> Sinne<br />

einer größeren Distanz zum Bild <strong>im</strong> Zeitalter seiner vollständigen Manipulierbarkeit. 288 Hier<br />

besteht Anschlussfähigkeit an die oben für die Informationsd<strong>im</strong>ension von Netznutzung<br />

postulierten Kompetenzen des Validierens und Strukturierens von Netzinhalten.<br />

Auch bei den dort benannten Kompetenzen des Recherchierens und Auswählens<br />

bestehen Überlappungen zum Bereich der Medienkunde; das betrifft etwa die Kenntnis<br />

von Suchstrategien und von relevanten Adressen <strong>im</strong> Netz. Hier ist DÖRINGs Vorschlag<br />

einzuordnen, in <strong>pädagogischen</strong> <strong>Internet</strong>Projekten solle „das Spektrum der Chat-Foren<br />

möglichst umfassend vorgestellt und ein bewusster Auswahlprozess angeregt werden,<br />

damit die Beteiligten nicht bei den erstbesten Foren hängen bleiben“. 289<br />

Wenn auch eine Kanonisierung von ‘Grundlagenwissen’ (TULLY) über das <strong>Internet</strong>, seine<br />

Geschichte und seine technische Struktur schwerfallen dürfte und die subjektiv-<br />

lebensweltliche Bedeutsamkeit solches Wissens nicht überschätzt werden sollte, hat -<br />

insbesondere schulische - Pädagogik m.E. doch auch den Auftrag, historisches und<br />

systematisches medienkundliches Wissen zu vermitteln. Wenn hier mit<br />

Medienentwicklungen verknüpfte gesellschaftliche Veränderungsprozesse in die Analyse<br />

mit aufgenommen werden, sind wir <strong>im</strong> Bereich der Medienkritik angekommen.<br />

In Kapitel 3 haben wir uns um eine interdisziplinäre Perspektive auf das<br />

gesellschaftsverändernde Potential des <strong>Internet</strong> bemüht; in diesem Kapitel, insbesondere<br />

unter 4.1.3., wurde gefragt, inwieweit dieses Potentials in der <strong>pädagogischen</strong> Reflexion<br />

wahrgenommen, als Herausforderung begriffen und mit <strong>pädagogischen</strong> und<br />

288 vgl. AUFENANGER 1995, S. 75 sowie SCHULZ-ZANDER 1997, S. 13 - zum ‘Verlust des<br />

Dokumentarischen’ <strong>im</strong> Zeitalter virtueller Welten siehe oben unter 2.2.2. sowie bei BÜHL 1997, S.56<br />

289 DÖRING 1999, S. 38<br />

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meta<strong>pädagogischen</strong> Konzepten beantwortet wird. Mit Blick auf den Kompetenzbereich<br />

‘Medienkritik’ ist nun speziell nach Konzeptionen zu fragen, die aus der beobachteten<br />

Dynamik internetbedingter Veränderungsprozesse eine aufklärerische Aufgabe ableiten.<br />

Hilfreich ist hier BAACKEs Unterscheidung einer analytischen und einer ethisch-reflexiven<br />

Ebene.<br />

Eine aufklärerische Position auf der analytischen Ebene finden wir, wenn auch nur<br />

rud<strong>im</strong>entär, bei TULLY: Hier wird als eine von vier pädagogisch zu vermittelnden<br />

computerbezogenen Wissensformen ‘soziales Wissen’ angeführt, definiert als Wissen<br />

über soziale Folgen und Bedingungen neuer Technologien, jedoch ohne weitere<br />

inhaltliche Konkretisierung oder pädagogische Operationalisierung. 290 Eine auch inhaltlich<br />

gefüllte Konzeption finden wir bei SCHORB: „Pädagogik muß sich somit zum einen<br />

fachkundig machen bezüglich all der Bereiche, in welchen Medien eingreifen (werden)<br />

und der Effekte, die sie dabei erzielen (werden), sie muß aber auch [...] die Kompetenz<br />

der Menschen stärken, Entwicklungen nicht hinzunehmen, sondern zu best<strong>im</strong>men,<br />

Zukunftsentwürfe zu machen [...]. Es wird zur wichtigen Aufgabe, das Wissen und auch<br />

die ethischen Kräfte der Menschen zu steigern“. 291<br />

Damit ist die ethisch-reflexive Ebene angesprochen. Hier wäre nach BAACKE eine<br />

Anwendung des analytisch erworbenen Wissens auf das eigene Handeln pädagogisch zu<br />

fördern, und das vor dem Hintergrund sozialer Verantwortung. Was das konkret heißen<br />

mag - Beteiligung an OnlinePetitionen gegen oder für staatliche Regulierung des <strong>Internet</strong>,<br />

Einführung basisdemokratischer Strukturen in virtuellen Gemeinschaften, Einsatz für oder<br />

gegen <strong>Internet</strong> oder Lernsoftware an der Schule, Gründung einer virtuellen Gewerkschaft -<br />

bleibt hier offen, und sollte m.E. auch offen bleiben: Es geht ja gerade um den <strong>Diskurs</strong>,<br />

um die Förderung individueller ethischer Entscheidungskompetenz. Die Vermittlung einer<br />

materialen Ethik erscheint hier fehl am Platze, es sei denn in Form der bei THIELE<br />

benannten Min<strong>im</strong>alforderung kommunikativer Netznutzung: Medienpädagogische Arbeit<br />

solle die Haltung fördern, „sich für eine Grundversorgung an Information, für einen<br />

290 vgl. TULLY 1994, S. 188 sowie S. 291ff.<br />

291 SCHORB 1995, S. 26<br />

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diskr<strong>im</strong>inierungsfreien Zugang zu Informationen und für informationelle Selbstbest<strong>im</strong>mung<br />

solidarisch einsetzen [zu] können“. 292<br />

Wir haben nun eine m.E. tragfähige Konzeption von Medienkompetenz aufgespannt und<br />

für das <strong>Internet</strong> durchbuchstabiert. Wie diese Konzeption <strong>im</strong> Rahmen von Jugendarbeit<br />

umgesetzt werden kann, soll Thema des folgenden Kapitels sein. Für eine Umsetzung an<br />

Schule gilt m.E., dass <strong>Internet</strong>einsatz hier generell mit einer doppelten Perspektive<br />

erfolgen sollte: Auch wenn das Medium hier vor allem als didaktisches Instrument <strong>im</strong><br />

Dienst netzexterner Inhalte und Lernziele genutzt wird, sollte diese Nutzung von den<br />

Lehrenden generell auch vor dem Hintergrund medienkompetenzbezogener Inhalte und<br />

Ziele reflektiert werden.<br />

4.2.3. <strong>Internet</strong> in der Jugendarbeit<br />

Bevor wir uns in Kapitel 5 exemplarisch mit <strong>pädagogischen</strong> Praxen des <strong>Internet</strong>einsatzes<br />

in der außerschulischen Jugendarbeit auseinandersetzen, soll an dieser Stelle die<br />

Reflexion über den <strong>Internet</strong>einsatz in der außerschulischen Jugendarbeit <strong>im</strong><br />

<strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> beobachtet werden. 293 Dabei soll in einem ersten Schritt die unter<br />

3.2.3. begonnene Auseinandersetzung mit der Bedeutung des <strong>Internet</strong> für Lebenswelten<br />

Jugendlicher in pädagogischer Perspektive wiederaufgenommen werden, um dann in<br />

einem zweiten nach Spezifika und Aufgaben einer Jugendarbeit <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong><br />

zu fragen - und damit auch nach einer Umsetzung des Konzepts ‘Förderung von<br />

Medienkompetenz’ in pädagogische Prozesse.<br />

Wir sind bereits mehrfach der These von der Mediatisierung der Lebenswelten von<br />

Kindern und Jugendlichen hin zu ‘Medienwelten’ begegnet; in BAACKEs Formulierung:<br />

„Freizeit ist Medienzeit [...] Kinder und Jugendliche wachsen [...] in reich differenzierten,<br />

ihren Alltag umgreifenden ‘Medienwelten’ auf“. 294 Oben wurde gezeigt, dass hier sowohl<br />

kulturpess<strong>im</strong>istische Mediatisierungskritik (siehe 4.1.2.) als auch eine opt<strong>im</strong>istische<br />

292 THIELE 1997<br />

293 Die Unterscheidung in pädagogische Theorie bzw. <strong>pädagogischen</strong> Fachdiskurs einerseits und<br />

pädagogische Praxis andererseits ist freilich eine heuristische mit erheblichen Unschärfen, wie das unten<br />

behandelte Beispiel des wissenschaftlich begleiteten Praxisprojekts „Kidz <strong>im</strong> Netz“ (http://iubawo.uniduesseldorf.de)<br />

zeigt<br />

294 BAACKE 1999, S. 20f.<br />

96


medienpädagogische Grundhaltung anschließen können: Letztere traut<br />

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Heranwachsenden ä zu, grundsätzlich kompetent Medien nutzen zu können und ihre<br />

jeweiligen Mediennutzungsweisen nach eigenen ‘Sinn’-Kriterien zu verantworten; die I<br />

Aufgabe von Pädagogik wäre dann nicht Behütung oder Bevormundung, sondern<br />

einerseits die Förderung von Autonomie und selbstsozialisatorisch 1i angeeigneten<br />

Medienkompetenzen, andererseits die Einführung zusätzlicher Reflexionsebenen und die<br />

Erweiterung des Horizonts möglicher Nutzungsweisen. 295<br />

Folgt man der These vom Aufwachsen in Medienwelten, so wäre nach möglichen<br />

Veränderungen jugendlicher Medienwelten durch die Verbreitung des <strong>Internet</strong> zu fragen.<br />

Wenn, wie BAACKE meint, insbesondere die außerschulische Lebenswelt (‘Freizeit’)<br />

medial geprägt ist, dann wäre die außerschulische Jugendarbeit in besonderem Maße<br />

aufgerufen, diese Veränderungen zu analysieren und pädagogisch zu beantworten.<br />

Wenden wir uns also den <strong>pädagogischen</strong> und insbesondere den auf Jugendarbeit<br />

bezogenen <strong>Diskurs</strong>en in diesem Feld zu.<br />

Die alltagsstrukturierende Funktion der traditionellen Rundfunkmedien wird von<br />

SCHWAB/STEGMANN hervorgehoben: „Fest in den Alltag integriert, strukturieren Medien<br />

mitunter den Tagesablauf auf best<strong>im</strong>mte Ereignisse oder Sendungen hin“. 296 Hier sind<br />

Individualisierungstendenzen durch das nicht an Sendezeiten gebundene<br />

Individualmedium <strong>Internet</strong> zu erwarten. Über bloße Zeitstrukturierung hinaus sieht<br />

BAACKE in den Medien die „eigentlichen Träger der [...] Soziokultur“, die in ihrer<br />

Alltäglichkeit jedoch „biographisch kaum gewichtet“ würden. Mit der kommunikativen<br />

Interaktivität des <strong>Internet</strong> verlieren nun die Medien „ihren bisher extra-ordinären<br />

Sozialisationsmodus, nur über symbolisch vermittelte Träger wirksam zu sein“ - ihre<br />

Funktion ist also nicht mehr eingegrenzt auf das Anbieten einer ‘Meta-Kultur’<br />

(HASSE/WEHNER), eines ‘Steinbruchs’ je individuell anzueignender kommunikativer<br />

Elemente 297 - und werden somit, so BAACKE, strukturell nur noch alltäglicher, weil<br />

„vollends in den Urgrund menschlichen Handelns eingelassen“ 298<br />

295 vgl. etwa MEISTER/SANDER 1999, S. 44f.<br />

296 SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 30<br />

297 siehe dazu oben unter 3.3.1.<br />

298 BAACKE 1999, S. 16ff.<br />

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Hier klaffen aber, glaubt man den bei SCHWAB/STEGMANN referierten empirischen<br />

Untersuchungen, gegenwärtig (genauer: klafften 1997/’98) noch Lücken: 90% der<br />

<strong>Internet</strong>nutzerlnnen seien als ‘Read Only Members’ (ROM) zu betrachten, fungierten also<br />

nur als ‘Hörer’ <strong>im</strong> Netz, und nur 5% - die ‘Radical Active Members’ (RAM) - nutzten das<br />

volle kommunikativ interaktive Potential des Netzes (die Zahlen beziehen sich aber nicht<br />

gezielt auf Jugendliche; hier ist m.E. ein höherer Grad aktiver Nutzung zu erwarten). 299 Ein<br />

gespaltenes Bild zeichnet auch SCHORB: Jugendliche Subkulturen seien generell als<br />

<strong>im</strong>mer neu generierte Mixturen medialer Codes aufzufassen; dabei sei zu unterscheiden<br />

zwischen der kritiklosen fortschrittsopt<strong>im</strong>istischen Offenheit weiter Teile der Jugend<br />

einerseits und Tendenzen zur alternativen, widerständigen, aktiven Mediennutzung<br />

andererseits. 300 Pädagogisch gefordert erscheint hier somit eine Förderung aktiver,<br />

gestaltender, ‘sprechender’ statt nur ‘hörender’/’lesender’ <strong>Internet</strong>nutzung. Auf die hier<br />

anklingende problematische Ambivalenz zwischen der pädagogisch geforderten<br />

Schaffung von Freiräumen einerseits und einer normativen Haltung zu Weisen<br />

jugendlicher Mediennutzung werden wir weiter unten zurückkommen; wenden wir uns<br />

jedoch zunächst zurück zur jugendlichen bzw. jugendkulturellen Netzaneignung.<br />

Auf die Frage, inwieweit das <strong>Internet</strong> für Jugendliche interessant ist, lässt sich mit<br />

SCHINDLER eine doppelte Antwort geben: <strong>Internet</strong>nutzung habe für Jugendliche erstens<br />

einen hohen Statuswert sowie zweitens einen hohen Gebrauchswert. Der Statuswert<br />

ergebe sich dabei aus dem hohen gesellschaftlichen Rang des Themas ‘<strong>Internet</strong>’;<br />

Netzkompetenzen eigneten sich daher für Jugendliche gut, um einerseits Distanz zu<br />

Erwachsenen zu demonstrieren und andererseits deren Respekt zu gewinnen.<br />

Den Gebrauchswert von Netznutzung beschreibt SCHINDLER auf mehreren Ebenen: So<br />

seien vernetzte PCs „leistungsfähige Produktions- und Kommunikationsmittel“, die<br />

Jugendlichen „einen bisher privilegierten Erwachsenen vorbehaltenen Bereich“ öffneten.<br />

Neben finanziellen und logistischen Vorteilen von E-Mail und elektronischem Publizieren<br />

wird hier auch auf soziale, sozialpsychologische und politische D<strong>im</strong>ensionen verwiesen:<br />

299 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 157 (mit Rekurs auf die GfK-Online-Studie 1998 und Zahlen des<br />

DIFF Tübingen); die Begriffe ‘RAM’ und ‘ROM’ beziehen sich sprachspielerisch auf die Bezeichnungen<br />

für verschiedene Typen von Computerspeicher (‘Read Only Memory’ = Speicher, aus dem nur ‘gelesen’<br />

werden kann; ‘Random Access Memory’ = Speicher, der beliebig zum ‘Schreiben’ oder ‘Lesen’ verwendet<br />

werden kann)<br />

300 vgl. SCHORB 1995, S. 16ff. sowie S. 21f.<br />

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Viele Chatkanäle des <strong>Internet</strong> seien als „jugendkulturelles Reservat“ zu betrachten. Somit<br />

eigneten sie sich - wie auch, auf andere Weise, WWW-Homepages - als Instrumente<br />

jugendlicher Partizipation und Information (aus dem alten Prinzip der Jugendbewegung<br />

‘Jugend erzieht Jugend’ wird hier „Jugendinformation als wechselseitiger Prozess“, also:<br />

‘Jugend informiert Jugend’), aber auch jugendlicher Selbstvergewisserung,<br />

Selbststilisierung und Selbstinszenierung. 301 Auf diesen ‘lebensästhetischen’<br />

(GOEBEL/CLERMONT) Individualisierungswert der Netznutzung weist auch<br />

VOGELSANGS Beobachtung hin, dass der Technikgebrauch in den Szenen der<br />

Netzfreaks „durch vielschichtige ästhetische und expressive Codierungen<br />

gekennzeichnet“ sei. 302 (Darüber hinausgehend dürfte auch ein arbeitsmarktbezogener<br />

Gebrauchswert zu verzeichnen sein, bedingt durch die Chancen der Jobsuche <strong>im</strong> Netz<br />

einerseits und den Qualifikationscharakter der erworbenen Netzkompetenzen<br />

andererseits. Dazu passt SCHWAB/STEGMANNS Feststellung, dass angesichts<br />

andauernder Arbeitslosigkeit die Bereitschaft von Jugendlichen wachse, ihre Freizeit für<br />

Qualifikationszwecke zu nutzen. 303 )<br />

Mit Jugendkultur <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> beschäftigt sich auch RÖLL. Er beobachtet, dass explizite<br />

Thematisierung von Jugendkultur sich <strong>im</strong> Netz nur an wenigen Orten findet, und dort vor<br />

allem als Verweis auf Offline-Aktivitäten. Dafür bietet er die Erklärung an, dass<br />

Kommunikation <strong>im</strong> Netz von gegenwärtigen Jugendlichen ohnehin schon <strong>im</strong>plizit als<br />

Manifestation jugendkulturellen Verhaltens verstanden werde: „Darüber redet man nicht,<br />

man/frau tut es“. Der „virtuellen Jugendkultur“ in den Foren, Chat-Räumen und virtuellen<br />

Gemeinschaften des <strong>Internet</strong> wird dabei von RÖLL die Funktion einer Avantgarde<br />

zugeschrieben, „die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kommunikationskultur unserer<br />

Gesellschaft verändern“ werde. 304 Zu fragen bleibt, ob und inwiefern eine Pädagogisierung<br />

<strong>im</strong> Bereich dieser ‘virtuellen Jugendkultur’ sinnvoll und überhaupt möglich wäre.<br />

Wie könnte, wie sollte also eine Jugendarbeit <strong>im</strong> Zeitalter des <strong>Internet</strong> aussehen? Wie<br />

wäre in ihrem Kontext eine Förderung von Medienkompetenz umzusetzen? Und: Wie<br />

301 SCHINDLER 1997, S. 427<br />

302 VOGELSANG 1997, S. 30<br />

303 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 23<br />

304 ROLL 1999, S. 33ff.<br />

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sehen die - finanziellen, politischen, juristischen - Rahmenbedingungen für eine solche<br />

Arbeit aus?<br />

Beginnen wir mit dem letzten Punkt: Finanzknappheit wird <strong>im</strong> Bereich der Jugendarbeit<br />

allenthalben konstatiert. So sieht KÜBLER insbesondere abseits der Großstädte einen<br />

Mangel an Geld- und Sachmitteln für die nötige Qualifizierung von PädagogInnen und für<br />

die technische Infrastruktur. LAUFFER empfiehlt die effizientere Nutzung vorhandener<br />

Ressourcen, unter anderem via Vernetzung und Kooperation. THIELE schließlich spricht<br />

von einem Scheitern der kontinuierlichen Verankerung von Medienpädagogik in der<br />

Kinderund Jugendarbeit und führt dieses Scheitern auf das Fehlen wesentlicher<br />

Rahmenbedingungen zurück. Er verweist dabei auf den Konzeptionsbericht der<br />

Jugendministerkonferenz (JMK) ‘Medienpädagogik als Aufgabe der Kinder- und<br />

Jugendhilfe’ von 1996, in dem ein Aufbau stabiler kooperativer Strukturen - insbesondere<br />

zwischen Jugendarbeit und Schule - zur Förderung von Medienkompetenz postuliert<br />

wird. 305 Nun stammen diese Aussagen allesamt von 1997, und ERTELT kann gut zwei<br />

Jahre später konstatieren: „Innerhalb kurzer Zeit wurden Schule, Weiterbildung,<br />

Jugendpflege und Jugendkulturarbeit unvermittelt mit der plötzlich politisch gewollten<br />

Notwendigkeit der Vermittlung von Medienkompetenz konfrontiert. Der Handlungszwang<br />

zur Alphabetisierung in digitaler Kommunikation schritt so sprunghaft voran wie die<br />

Entwicklung der computerbasierten Technologie“. 306 Der politische Wille zur<br />

Informationsgesellschaft 307 scheint sich also mit einiger Verspätung auch auf die<br />

Förderung von Medienkompetenz auszudehnen.<br />

Rechtsgrundlagen medienpädagogischer Jugendarbeit lassen sich <strong>im</strong> KJHG bislang <strong>im</strong><br />

Kontext des erzieherischen Jugendmedienschutzes (In §14, Absatz 2 ist von Angeboten<br />

an Jugendliche die Rede, die diese zu Selbstschutz, Kritikfähigkeit und<br />

Eigenverantwortung befähigen sollen), sowie speziell auf außerschulische<br />

Jugendbildungsarbeit bezogen, <strong>im</strong> Kontext technischer Bildung finden (§11); hier wird vor<br />

allem der oben unter ‘Medienkritik’ gefasste Sektor von Medienkompetenzen<br />

angesprochen. 308<br />

305 vgl. KÜBLER 1997a, S. 9; LAUFFER 1997, S. 114; THIELE 1997<br />

306 ERTELT 1999, S. 29<br />

307 siehe dazu oben unter 2.2.1.<br />

308 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, 5. 205 sowie oben unter 1.1.1.<br />

100


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Im Vergleich mit der Schule sind der außerschulischen Jugendbildung spezielle Chancen<br />

für die Vermittlung internetbezogener Medienkompetenz zuzusprechen;<br />

SCHWAB/STEGMANN nennen z.B. die Möglichkeit kleinerer Lerngruppen und den<br />

Zugang zu modernerer, vielseitigerer technischer Infrastruktur. Aber auch Grenzen sind<br />

zu benennen: So die eingeschränkte Angebotskapazität und die begrenzte soziale<br />

Reichweite außerschulischer Bildungsangebote („geringere Bildungsbereitschaft der<br />

Hauptschüler in ihrer Freizeit“). 309 Für eine Gegensteuerung gegen<br />

Polarisierungstendenzen entlang einer ‘Informationskluft’ scheint außerschulische<br />

Jugendbildungsarbeit - zumindest wenn sie explizit als solche auftritt - also nur bedingt<br />

geeignet zu sein (SCHINDLER führt dagegen erfolgreiche Modellprojekte in der<br />

Jugendarbeit an, die zeigten, dass effiziente <strong>Internet</strong>nutzung nicht auf Jugendliche mit<br />

höherer Schulbildung begrenzt sein müsse 310 ).<br />

Welche Ansätze für Jugendarbeit mit <strong>Internet</strong>bezug sind nun <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong><br />

Fachdiskurs vorzufinden? Um das Feld der einschlägigen Konzeptionen zu strukturieren,<br />

möchte ich hier eine Unterscheidung von fünf Typen einführen:<br />

– Der aktiv-gestaltenden <strong>Internet</strong>arbeit,<br />

– der sozialräumlichen <strong>Internet</strong>arbeit,<br />

– der Jugendbildungsarbeit zum Thema <strong>Internet</strong>,<br />

– der Jugendbildungsarbeit mit dem Medium <strong>Internet</strong> und<br />

– der Online-Jugendarbeit.<br />

Unter aktiv-gestaltender <strong>Internet</strong>arbeit will ich Ansätze verstehen, die den<br />

Handlungsbereich ‘Mediengestaltung’, in der Regel in Form von Projektarbeit oder<br />

kontinuierlicher Gruppenarbeit, fokussieren; solche Ansätze stehen oft in der Tradition<br />

außerschulischer Jugendbildungs- und -kulturarbeit, insbesondere der produktiven<br />

Medienarbeit. Unter sozialräumlicher <strong>Internet</strong>arbeit sollen Ansätze in der Tradition der<br />

offenen Jugendarbeit und hier insbesondere des sozialräumlichen Ansatzes von<br />

BÖHNISCH/MÜNCHMEIER 311 gefasst werden, die die Öffnung von Räumen zur<br />

309 vgl. SCHWAB/STEGMANN 1999, S. 205, S. 209ff. sowie S. 258<br />

310 vgl. SCHINDLER 1997, S. 427; ein solches (bei SCHINDLER nicht erwähntes) Modellprojekt ist das in<br />

Kapitel 5 vorzustellende der Düsseldorfer AWO-Jugendberatung<br />

311 vgl. BÖHNISCH/ MÜNCHMEIER 1990 - eine explizite Bezugnahme auf BÖHNISCH/MÜNCHMEIER<br />

findet sich allerdings in keinem der hier untersuchten Texte<br />

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eigenständigen Netzaneignung in sozialen Kontexten fokussieren; hier steht der<br />

Handlungsbereich ‘Mediennutzung’ <strong>im</strong> Zentrum. In beiden Ansätzen wird die indirekte<br />

Vermittlung der jeweils nicht <strong>im</strong> Mittelpunkt stehenden Kompetenzbereiche 312 meist<br />

mitgedacht. Der Typus einer Jugendbildungsarbeit zum Thema <strong>Internet</strong> steht für Ansätze<br />

in der Tradition kultureller bzw. politischer Jugendbildung, die die Handlungsebenen von<br />

‘Medienkunde’ bzw. ‘Medienkritik’ fokussieren, die also Bildungsangebote über das<br />

<strong>Internet</strong> bzw. seine gesellschaftsverändernde Dynamik in den Vordergrund stellen,<br />

während Jugendbildungsarbeit mit dem Medium <strong>Internet</strong> Ansätze der außerschulischen<br />

Jugendbildungsarbeit bezeichnen soll, die das <strong>Internet</strong> als didaktisches Medium zur<br />

Vermittlung vorwiegend externer Ziele und Inhalte nutzt. Online-Jugendarbeit schließlich<br />

spricht für sich selbst: Pädagogische Prozesse werden ins <strong>Internet</strong>, werden auf die<br />

virtuelle Ebene verlagert. Diese fünf Typen sollen nun, be<strong>im</strong> letzten beginnend, näher<br />

betrachtet werden.<br />

Reine Online-Jugendarbeit - also eine entörtlichte Jugendarbeit, in der ausschließlich oder<br />

doch zumindest überwiegend internetvermittelte Kontakte zwischen PädagogInnen und<br />

Klientel bestehen - ist <strong>im</strong> hier untersuchten Ausschnitt der <strong>pädagogischen</strong> Fachdiskurses<br />

noch ein Randthema. Wir werden jedoch in Kapitel 5 Praxisprojekten aus den Bereichen<br />

‘Jugendinformation’ und ‘betreute Netzkommunikation’ begegnen, die sich<br />

schwerpunktmäßig dem Typus Online-Jugendarbeit zuordnen lassen.<br />

Auch für eine Jugendbildungsarbeit mit dem Medium <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Bereich außerschulischer<br />

Jugendbildung lassen sich kaum theoretische Konzepte finden, da die aktuelle<br />

didaktische Diskussion vor allem für die Handlungsfelder Schule (siehe dazu oben unter<br />

4.2.1.) und Erwachsenenbildung/Weiterbildung geführt wird. Ansätze lassen sich hier etwa<br />

bei FASCHING finden, der die Tauglichkeit des Mediums <strong>Internet</strong> für eine<br />

lebensweltorientierte Bildungsarbeit <strong>im</strong> Sinne ARNIM KAISERs prüft und positiv<br />

bescheidet. 313 Für einen Einsatz des <strong>Internet</strong> als didaktisches Medium <strong>im</strong><br />

außerschulischen Bereich gilt m.E. auch das oben für schulischen Bereich aufgestellte<br />

Postulat der doppelten Perspektive: Auch bei einer pr<strong>im</strong>ären Ausrichtung auf externe<br />

312 zur hier verwendeten Systematik der Bereiche von Medienkompetenz siehe oben unter 1.2.2.<br />

313 vgl. FASCHING 1997, S. 103ff.<br />

102


Inhalte und Lernziele sollte eine pädagogische Reflexion möglicher<br />

medienkompetenzbezogener Inhalte und Ziele erfolgen.<br />

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Der Typus Jugendbildungsarbeit zum Thema <strong>Internet</strong> lässt sich weiter differenzieren in<br />

anwendungsorientierte und nicht-anwendungsorientierte Ansätze. Erstere werden hier,<br />

wenn sie produktorientiert arbeiten und nicht bloße technische Schulungen sind, der aktiv-<br />

gestaltenden <strong>Internet</strong>arbeit zugeschlagen. Technisch orientierte Schulungen können<br />

freilich auch dort - sowie <strong>im</strong> Bereich der sozialräumlichen <strong>Internet</strong>arbeit - ihre<br />

Berechtigung haben, um erstes oder spezifisches Anwendungswissen zu vermitteln. Sie<br />

werden jedoch <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> nicht weiter thematisiert.<br />

Konzepte einer nicht-anwendungsorientierten Jugendbildungsarbeit zum Thema <strong>Internet</strong> -<br />

einer Jugendarbeit also, die sich als Bildung über das <strong>Internet</strong> versteht - sind m.E. auf<br />

dem Rückzug. Man dürfte heute von den größeren Trägern der Jugendarbeit kaum noch<br />

Positionen hören, wie sie noch 1987 eine Arbeitsgruppe des Bayerischen Jugendrings<br />

vertrat: „Als eigenständiger Lernort neben Schule und Elternhaus muß Jugendarbeit in der<br />

Bildungsarbeit luK Technologien [Informations- und Kommunikationstechnologien, S.D.]<br />

und ihre gesellschaftliche Anwendung thematisieren. Wir fordern die Jugendarbeit auf [...]<br />

in ihrem Bereich Computer nur unter der Voraussetzung zuzulassen, daß diese als<br />

Hilfsmittel zur Verwirklichung ihrer Prinzipien und Zielsetzungen beitragen“. 314 Diese<br />

technikskeptische Position ist aus zwei Gründen als überholt zu bezeichnen: Erstens<br />

dürfte es heutzutage schwerfallen, Teilnehmerlnnen für überwiegend theorie-orientierte<br />

Bildungsmaßnahmen zum Thema <strong>Internet</strong> zu gewinnen. Zweitens werden mittlerweile<br />

auch <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> <strong>Diskurs</strong> Freiräume zum Erproben der neuen Technologien<br />

massiv eingefordert, legit<strong>im</strong>iert über die Prinzipien der Lebensweltorientierung<br />

(‘Aufwachsen in Medienwelten’) und der Chancengleichheit (‘Zugang für alle’).<br />

Ansätze einer sozialräumlichen <strong>Internet</strong>arbeit können sich über quantitativ bzw. qualitativ<br />

unzureichende <strong>Internet</strong>-Zugangsmöglichkeiten für Jugendliche, insbesondere für solche<br />

aus benachteiligten Gruppen, begründen. Jugendarbeit erhält dann den Auftrag, das als<br />

defizitär beschriebene Angebot an Nutzungsorten in Privatbereich, Öffentlichkeit und<br />

Schule gezielt zu ergänzen - eben als ein speziell auf die Bedürfnisse bzw. die<br />

Lebenssituation Jugendlicher zugeschnittener Nutzungsraum.<br />

314 K. H. BRANDENBURG u.a. zit. nach SCHORB 1995a, S. 92<br />

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So kritisiert KüBLER (der freilich keine eigene Konzeption für internetbezogene<br />

Jugendarbeit entwirft) die Zugänge in öffentlichen Bibliotheken und kommerziellen<br />

<strong>Internet</strong>cafes - letztere wegen ihres Spielhallencharakters, beide wegen der für eine<br />

intensive, erprobende Netzaneignung denkbar ungeeignete Atmosphäre tickender<br />

Geldzähler und mangelnden Beistandes. Hier kann LAUFFER anschließen, der zwar auch<br />

in kommerziellen Zugangsangeboten Sozialisationschancen sieht, jedoch als Korrektiv<br />

und als Ort der Ersterfahrung von ökonomischen Interessen freie Netzzugänge in<br />

öffentlichen Räumen für geeigneter hält. Auch Institutionen der außerschulischen<br />

Jugendbildung werden hier aufgerufen, entsprechende Infrastrukturen zu schaffen bzw.<br />

auszubauen. 315<br />

Unter 3.1.3. wurde auf mögliche Begrenzungen und Reglementierungen auch der<br />

schulischen <strong>Internet</strong>zugänge hingewiesen: Zwar gehen <strong>im</strong>mer mehr Schulen ‘ans Netz’,<br />

damit ist aber noch nichts über die Anzahl der internetfähigen Computerplätze und deren<br />

Zugänglichkeit außerhalb von strukturiertem Unterricht ausgesagt. Zu diesen formalen<br />

Reglementierungen können inhaltliche etwa in Form technischer Filterung tatsächlich oder<br />

vermeintlich jugendgefährdender Inhalte kommen. Solche Filtertechniken können - und<br />

müssen oft mangels Aufsichtspersonal - freilich auch in Einrichtungen der<br />

außerschulischen (und hier insbesondere der offenen) Jugendarbeit zum Einsatz<br />

kommen. Hier bieten sich jedoch m.E. bessere Chancen für eine dialogische<br />

Verständigung mit den beteiligten Jugendlichen über Regulierungen der Netznutzung. So<br />

könnte etwa, wie KETZER vorschlägt, anstelle der problematischen Filterung nach<br />

Schlüsselwörtern der Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften als<br />

weniger restriktive Sperrliste Verwendung finden. 316<br />

Eine dezidiert sozialräumlichen Standpunkt vertreten MIKOS und THEUNERT, wenn sie<br />

für die pädagogische Praxis die Aufgabe formulieren, „Räume zu öffnen, die das<br />

selbstbest<strong>im</strong>mte Erproben von Mult<strong>im</strong>edia-Welten erlauben, und zwar eingebettet in<br />

soziale Interaktionsprozesse“. 317 Auch SCHORB plädiert dafür, „Jugendlichen die Räume<br />

zu öffnen, die sie zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten brauchen“. Dies<br />

315 vgl. KÜBLER 1997a, S. 9 sowie LAUFFER 1997, S. 112<br />

316 vgl. KETZER 1999, Kap. 6.4<br />

317 HELGA THEUNERT zit. nach MIKOS 1997, S. 68f.<br />

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begründet er jedoch damit, dass <strong>im</strong> Rahmen pädagogischer Medienkompetenz-Förderung<br />

auch „die Fertigkeit, mediale Gestaltungsmöglichkeiten selbst zur Vermittlung von Inhalten<br />

zu nutzen, eigentätig einen reflexiv-praktischen Medienzugang zu gewinnen“,<br />

berücksichtigt werden müsse; das hierzu notwendige Bedienungswissen sei bei den<br />

medial sozialisierten Jugendlichen der Gegenwart eh vorhanden. Es geht SCHORB also<br />

auch <strong>im</strong> sozialräumlichen Kontext vor allem um das Handlungsfeld der Mediengestaltung<br />

(in jugendlicher Eigeninitiative). Dennoch findet sich an dieser Stelle bei SCHORB auch<br />

eine Rehabilitation des Chattens: Dieses sei „für Jugendliche mindestens so sinnvoll wie<br />

eine Übertragung von Börsennachrichten über das gleiche Medium“. 318<br />

Sozialräumliche Positionen an der Schwelle zu Online-Jugendarbeit bezieht ZACHARIAS.<br />

Aus spielpädagogischer Perspektive fordert er: „Auch die Spielpädagogik sollte sich aktiv<br />

virtuelle Räume, Treffs und Diskussionsforen sichern, für sich, für Kinder und Jugendliche.<br />

<strong>Das</strong> könnte der aktuelle Ansatz sein: Nichtkommerzielle Spielplätze <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> in der<br />

Logik öffentlicher Kinder- und Jugendkulturarbeit“. Hier ist auch vom „‘Recht’ der Kinder<br />

und Jugendlichen auf ihre eigenen Spiele, Kulturen, Freizeitformen“ sowie von einer<br />

tendenziellen Auflösung pädagogischer Hierarchie bedingt durch den Wissensvorsprung<br />

der jüngeren Generation <strong>im</strong> Bereich digitaler Spiel- und Lernwelten die Rede. 319 So schön<br />

die Idee nichtkommerzieller, nach <strong>pädagogischen</strong> Kriterien gestalteter, virtueller<br />

‘Spielräume’ ist: Werden diese in der Aufmerksamkeitskonkurrenz mit den unzähligen<br />

kommerziellen (oder auch aus pädagogischer Perspektive fragwürdigen<br />

nichtkommerziellen) bestehen können? Und unter welchen Bedingungen? Fragen, die wir<br />

mit ins nächste Kapitel nehmen sollten.<br />

Als Zielsetzung sozialräumlicher Ansätze wird meist die Ermöglichung des Erwerbs von<br />

<strong>Internet</strong>nutzungskompetenzen für benachteiligte Jugendliche genannt. Als ‘benachteiligt’<br />

können hier insbesondere Jugendliche ohne private Zugangsmöglichkeit, Jugendliche aus<br />

bildungsferneren Milieus und weibliche Jugendliche angesehen werden; letztere, da die<br />

kulturelle Konstruktion ihrer Geschlechtsrolle <strong>im</strong>mer noch technikdistanzierte<br />

Einstellungsmuster fördert. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang die auf<br />

dem Neunten Remscheider Computerforum von <strong>pädagogischen</strong> Praktikerinnen mehrfach<br />

318 SCHORB 1995a, S. 90f.<br />

319 ZACHARIAS 1999b, S. 48ff.<br />

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vorgetragene Beobachtung, dass es zwei deutlich abgegrenzte Varianten der<br />

Geschlechterverteilung in offenen <strong>Internet</strong>angeboten gebe: In den einen herrsche<br />

Gleichverteilung, in den anderen eine erhebliche Überzahl männlicher Nutzer. <strong>Das</strong> erlaubt<br />

den Schluss, dass zumindest geschlechtsspezifische Hürden durch geeignete<br />

institutionelle Bedingungen bzw. pädagogische Maßnahmen abbaubar sind.<br />

Die Öffnung von Freiräumen zur eigenständigen Netzaneignung - meist gedacht in<br />

sozialen Kontexten, mit pädagogischer Unterstützung und Anleitung bei Bedarf - kann<br />

neben Chancengleichheit aber auch <strong>im</strong> Interesse eher qualitativer Zielsetzungen<br />

eingefordert werden. So führt etwa LAUFFER <strong>im</strong> Kontext seiner Forderung nach offenen<br />

Nutzungsräumen in der Kinderund Jugendbildung die Lernziele eines kreativen, eines<br />

kritischen und eines in Bezug auf Gefährdungspotentiale kompetenten Umgangs mit den<br />

Möglichkeiten des <strong>Internet</strong> an. 320<br />

Auch Ansätze sozialräumlicher <strong>Internet</strong>arbeit bewegen sich, wie man hier sieht, in der<br />

problematischen Zwiespältigkeit, die MÜLLER-GIEBELER insbesondere bei<br />

Vertreterinnen ‘modernisierter’ Ansätze in der Jugendarbeit kritisch vermerkt: „Man<br />

postuliert zwar einerseits Freiraumcharakter für die Jugendarbeit und will sich der<br />

Lebenslage Jugendlicher in den hochgradig individualisierten gesellschaftlichen<br />

Zusammenhängen stellen, verbindet das aber seltsam unklar mit jeweils ganz best<strong>im</strong>mten<br />

Vorstellungen von den richtigen, für die Jugendlichen relevanten, in ihrem Interesse<br />

liegenden, ihnen zu vermittelnden Wissensbeständen und Deutungsvorgaben“. 321 Auf<br />

MÜLLER - GIEBELERs Lösungsansatz werden wir abschließend zu sprechen kommen,<br />

wenden wir uns jedoch zunächst der aktiv-gestaltenden <strong>Internet</strong>arbeit zu.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Internet</strong>, so FASCHING, „wird durch seine Nutzung definiert; was die Nutzer daraus<br />

machen, bleibt abzuwarten“; und an anderer Stelle: „Da das <strong>Internet</strong> die Aktivierung des<br />

Nutzers <strong>im</strong>pliziert, ist es hervorragend zum Einsatz in der aktiven Medienarbeit geeignet.<br />

Neben der Handlungskompetenz <strong>im</strong> Umgang mit dem Medium <strong>Internet</strong> [...] soll sich auch<br />

eine tiefere Einsicht in den Prozeß der Informationsbereitstellung und -aufnahme und in<br />

die mögliche Manipulierbarkeit entwickeln“. 322 Während hier ‘Mediengestaltung’ vor allem<br />

instrumentell auf die anderen drei der unter 4.2.2. genannten vier Kompetenzbereiche -<br />

320 vgl. LAUFFER 1997, S. 112<br />

321 MÜLLER-GIEBELER 1996, S. 129<br />

322 FASCHING 1997, S. 114 sowie S. 107<br />

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‘Mediennutzung’, ‘Medienkunde’ und ‘Medienkritik’ - bezogen wird, thematisiert BAACKE<br />

sie vor allem in ihrem Eigenwert: Außerschulische Jugendarbeit - egal, ob eher an Kultur-<br />

oder an Sozialarbeit orientiert - habe die Aufgabe (und besondere Eignung), kreative<br />

mult<strong>im</strong>ediale Gestaltungsmöglichkeiten des Netzes auszuloten, neue Arbeitsformen und-<br />

felder zu erschließen; anders als Schule, die eher für curricular organisierte Lernformen<br />

zuständig zu machen sei. 323<br />

Wenn also informell ansozialisierte Medienkompetenz vorwiegend (wie<br />

MEISTER/SANDER und KÜBLER meinen) konsumptiven Charakter hat und der<br />

schulische Netzeinsatz (so er denn stattfindet) vorwiegend Medienkunde/Medienkritik<br />

sowie instrumentelle Mediennutzung <strong>im</strong> Dienst oftmals geschlossener<br />

Aufgabenstellungen hervorbringt, so liegen besondere Chancen für Jugendarbeit in der<br />

expressiven, kreativen, selbstdarstellenden Mediengestaltung (neben der freilich ebenso<br />

berechtigten ‘sozialräumlichen’ Ermöglichung des Erwerbs eher ‘konsumptiver’<br />

Mediennutzungsweisen für hier benachteiligte Jugendliche).<br />

In die Richtung eines Eigenwerts expressiver <strong>Internet</strong>gestaltung geht auch die oben<br />

angeführte Position SCHORBs, wenn hier auch die Kompetenz zu Medienkritik auf der<br />

Zield<strong>im</strong>esion eine wichtige Rolle spielt. Mögliche demokratisierende und auch<br />

innovierende Aspekte internetbezogener Mediengestaltung hat SCHORB <strong>im</strong> Blick, wenn<br />

er Pädagogik die Aufgabe zuweist, „neue, alternative und selbstverständliche<br />

Umgangsweisen mit den Medien aufzuspüren und weiterzugeben“; diese seien vor allem<br />

bei besonders medienkompetenten Jugendlichen zu finden: „In der Neugier und<br />

Exper<strong>im</strong>entierfreude der Jugend steckt ein Potential, das das Postulat, Medien seien<br />

Mittler selbstbest<strong>im</strong>mter menschlicher Kommunikation, ernst n<strong>im</strong>mt“. 324<br />

Während SCHORB hier eine aufklärerische Zielrichtung nur oberhalb der Ebene des<br />

Mediums <strong>Internet</strong> akzeptiert, sieht SCHINDLER schon in der Aneignung der „neuen<br />

Kulturtechnik“ <strong>Internet</strong>nutzung einen „Emanzipationsprozeß <strong>im</strong> besten Sinne“. Der<br />

internetvermittelte Prozess wechselseitiger Jugendinformation, ermöglicht durch<br />

323 Vgl. BAACKE 1997, S. 33<br />

324 SCHORB 1995b, S. 27 sowie S. 21<br />

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niederschwelliges Publizieren via E-Mail und WWW, wird hier als Beitrag zu medialer<br />

Demokratisierung betrachtet. 325<br />

Ansätze aktiv-gestaltender <strong>Internet</strong>arbeit finden sich auch <strong>im</strong> Kontext<br />

jugendschützerischer Argumentationen: So sieht KETZER eine zentrale Aufgabe eines<br />

reflektierten Jugendmedienschutzes darin, „Jugendliche zur aktiven Beteiligung am<br />

weltweiten Netz zu motivieren und sie nicht als passive Rezipienten des angebotenen<br />

Materials zu betrachten“; die pädagogische Qualität von Mediengestaltung wird dabei<br />

nicht schwerpunktmäßig <strong>im</strong> medialen Output (nämlich: jugendgemäßen Angeboten von<br />

Jugendlichen für Jugendliche), sondern in der Stärkung, <strong>im</strong> Kompetenzerwerb der<br />

Jugendlichen qua gestaltender Aneignung des Mediums gesehen. 326<br />

Konzepte zur praktischen Umsetzung aktiv-gestaltender <strong>Internet</strong>arbeit werden von<br />

SCHORB und RÖLL kontrovers diskutiert: ROLL spricht sich für eine lockere Vernetzung<br />

von Einzel- und Gruppenaktivitäten aus, in der Erfahrungsmöglichkeiten erweitert werden,<br />

aber auch die verschiedenen internetbezogenen Bedürfnisse, Hobbys, Interessen und<br />

spezifischen Fähigkeiten der beteiligten Jugendlichen „interagierend zusammengeführt“<br />

werden: „Die Mehrd<strong>im</strong>ensionalität einer Fläche, in der man sich in einem virtuellen Gipfel<br />

als Gemeinschaft definiert, aber gleichzeitig Einzelerfahrungen sammeln kann, ohne<br />

gebunden zu sein, dies schafft eine andere Qualität, ein anderes Lernverhältnis“. Die<br />

Funktion des Pädagogen wird hier als die eines ‘Navigators’ best<strong>im</strong>mt; dessen Aufgabe<br />

ist es, Jugendliche bei der Verwirklichung von Ideen zu unterstützen, ihnen neue<br />

Perspektiven zu eröffnen und als Mittler zwischen Jugendlichen den Erwerb von<br />

Medienkompetenz in wechselseitigem Von-einander-Lernen zu fördern. SCHORB sieht in<br />

diesem Modell die Gefahr einer „Reproduktion der arbeitsteiligen kapitalistischen<br />

Informationsgesellschaft“; PädagogInnen müssten eben mehr sein als bloße<br />

Navigatorinnen, müssten einen - mit dem Medium <strong>Internet</strong> schwer zu erreichenden -<br />

kollektiven Prozess ermöglichen, in dem Jugendliche „etwas voneinander mitkriegen“ und<br />

nicht ein gemeinsames Produkt erstellen, bei dem am Ende „gar keiner mehr weiß, was<br />

der andere wirklich gemacht hat“. 327<br />

325 SCHINDLER 1997, S. 427f.<br />

326 KETZER 1999, Kap. 10<br />

327 SCHORB/RÖLL 1999, S. 23f.<br />

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Die an den Topos Entfremdung’ aus der marxistischen Theorie anschließende Kritik<br />

SCHORBs sollte m.E. zwar in die Reflexion pädagogischer Praxisprojekte einbezogen<br />

werden, ist jedoch sowohl in ihren Prämissen als auch in ihrer Anwendbarkeit auf RÖLLs<br />

Konzept zu kritisieren: Warum sollte jedeR Jugendliche alle zum gemeinsamen Produkt<br />

hinführenden Arbeitsprozesse kennenlernen müssen, wenn spezifische Interessen<br />

überwiegen? Und geht es RÖLL nicht gerade auch um den Austausch von Erfahrungen?<br />

RÖLLs Fazit: „Ich will die Leute kompetent machen in der hiesigen Gesellschaft, die<br />

arbeitsteilig ist, die vom Computer beherrscht wird, sie in die Lage versetzen,<br />

handlungsorientiert, selbstbewusst, interaktiv und mit dem Moment von Faszination, die<br />

dieses Medium für sie auch ausübt, annehmend arbeiten, agieren und partizipativ in die<br />

Gesellschaft eingreifen zu können“. 328<br />

In RÖLLs Entwurf konvergieren Elemente sozialräumlicher und aktivgestaltender<br />

<strong>Internet</strong>arbeit, insofern einerseits der Schwerpunkt pädagogischer Aufgaben <strong>im</strong> Öffnen<br />

von Räumen, <strong>im</strong> Ermöglichen von bedürfnisgerechter eigenständiger Netzaneignung und<br />

in der vermittelnden Schaffung bzw. Förderung sozialer Netze gesehen wird, andererseits<br />

die Zielrichtung auf die Vermittlung neuer Nutzungsperspektiven - hier als pädagogisch<br />

unterstützter Austausch zwischen Jugendlichen konzipiert - und auf ein gemeinsames<br />

Produkt hin erhalten bleibt.<br />

Hier ist m.E. Anschlussfähigkeit gegeben an MÜLLER-GIEBELERs Konzeption des<br />

‘Pädagogen als Mittler in der Wirklichkeitsvielfalt’ individualisierter und damit notwendig<br />

multikultureller Gesellschaften. Die Kernpunkte dieser auf ähnlichen<br />

gesellschaftstheoretischen Grundlagen wie die vorliegende Arbeit 329 entwickelten<br />

Konzeption sollen hier abschließend, als ein möglicher Maßstab für pädagogische Praxis,<br />

vorgestellt werden.<br />

Als Aufgaben für pädagogische Praktikerinnen werden hier benannt:<br />

328 a.a.O., S. 24<br />

329 siehe dazu oben unter 2.3. und vgl. MÜLLER-GIEBELER 1996, S. 15ff ., S. 35ff sowie S. 40ff<br />

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a)das Anbieten von Räumen, in denen „Jugendliche die Möglichkeit haben, ihre eigenen<br />

Deutungen und soziokulturellen Ausarbeitungen 330 sich bewusst zu machen, zu<br />

reflektieren und weiterzuentwickeln“;<br />

b)der <strong>Diskurs</strong> mit den Jugendlichen über ihre Ausarbeitungen und Lösungsvorschläge vor<br />

der Folie ihres Alltags und der Situation vor Ort;<br />

c)ein Angebot an methodischen Hilfestellungen zur Förderung wechselseitiger<br />

Verständigung (genauer: einer wechselseitigen tendenziellen Annäherung „in<br />

vorläufigen Theorien“) einschließlich des Umgangs mit Vorläufigkeit und Grenzen<br />

intersubjektiven Verstehens;<br />

d)eine Erweiterung des Spektrums der Wahlmöglichkeiten Jugendlicher durch Vorstellung<br />

von bzw. Erfahrungsangebote mit neuen „Deutungsmöglichkeiten, Interpretationen,<br />

Ausarbeitungen, Symbolsystemen“ und schließlich<br />

e)das Anbieten vermittelnder Methoden, die Jugendlichen bei Auseinandersetzungen,<br />

Einigungsprozessen und ggf. auch bei Trennung und Ablösung voneinander<br />

unterstützen: zentrale Aufgabe für PädagogInnen „in der Vermittlung der Vielfalt der<br />

modernen Lebenswelt wäre eben nicht nur, Einigung und Verstehen zu ermöglichen,<br />

sondern auch, Unterschied und Nichtverstehen zu ermöglichen, den Zwang zu<br />

Homogenität aufzubrechen, statt ihn einzuführen oder zu verstärken“ 331<br />

f) <strong>Das</strong> Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zust<strong>im</strong>mung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. <strong>Das</strong> gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und<br />

Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

330 ‘soziokulturelle Ausarbeitung’ meint bei MÜLLER-GIEBELER das, was REICH ‘Rekonstruktion’ nennt:<br />

von kollektiven Wissensbeständen best<strong>im</strong>mte Konstruktionen; nicht-konstruktivistisch gesprochen:<br />

ansozialisierte Einstellungen<br />

331 MÜLLER-GIEBELER 1996, S. 131f. (MÜLLER-GIEBELER bezieht sich hier insbesondere auf den<br />

Umgang mit problematisch gewordenem Alltag bzw. mit <strong>im</strong> <strong>pädagogischen</strong> Praxisfeld ustande<br />

kommenden Problemen; diese Perspektive bleibt in meiner Wiedergabe ihrer Position aufgrund der<br />

anders gelagerten Fragestellung – hier geht es in erster Linie um bedürfnisgerechte kreative<br />

Mediennutzung und erst in zweiter um dabei möglicherweise auftretende Probleme – ehrer am Rand)<br />

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