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68er-Frauenrechtlerin Andrée Valentin<br />
«Wir wollten nichts<br />
als die Revolution»<br />
«Freiheit ist für mich das Wichtigste,<br />
wichtiger sogar als die<br />
Liebe. Eine Rebellin war ich<br />
schon als Kind. Die spiessige,<br />
todlangweilige Schweiz der 50erund<br />
60er-Jahre war bedrückend.<br />
Was hatten wir jungen Frauen für<br />
eine Perspektive? Vielleicht durften<br />
wir auf die höhere Töchterschule.<br />
Aber dann galt es, zu heiraten,<br />
Kinder zu kriegen, versorgt<br />
zu werden. Ich sah, wie meine<br />
Mutter als Hausfrau ihr Potenzial<br />
nicht ausleben konnte, und fragte<br />
mich: Ist das alles? Ich habe<br />
einen starken Gerechtigkeitssinn<br />
und war oft eine Vor reiterin. Als<br />
Teenager las ich Simone de Beauvoir<br />
und habe meinen Freundinnen<br />
von der Anti-Baby-Pille erzählt.<br />
An der Uni Zürich organisierte<br />
ich Proteste und war Präsidentin<br />
der Fortschrittlichen<br />
Studentenschaft Zürich. Der<br />
Vietnam-Krieg, die imperialistische<br />
Ausbeutung, die Unterdrückung<br />
der Frauen haben mich<br />
empört. Wir 68er wollten nichts<br />
anderes als die Revolution. Wie<br />
naiv wir doch waren! Das Frauenstimmrecht<br />
war für uns junge<br />
Feministinnen nicht das eigentliche<br />
Thema, sondern längst eine<br />
Selbstverständlichkeit.<br />
Wir<br />
wollten viel<br />
mehr: die<br />
Gleichstellung<br />
auf allen Ebenen.<br />
Diesen<br />
Wunsch trugen<br />
wir 1968 mit einer Störaktion in<br />
die Öffentlichkeit, als der Zürcher<br />
Frauenstimmrechtsverein sein<br />
75-jähriges Bestehen im Schauspielhaus<br />
feierte. Auf der Bühne<br />
Blumen und ein Quintett des<br />
Tonhalle-Orchesters, im Parkett<br />
die altehrwürdigen Frauenrechtlerinnen<br />
mit ihren Gatten. Ich bin<br />
auf die Bühne marschiert und<br />
forderte, dass wir nicht jubilieren<br />
sollten, sondern protestieren und<br />
diskutieren. Dass wir Frauen uns<br />
von den Zwängen traditioneller<br />
Geschlechterrollen emanzipieren<br />
müssten, statt bei den Männern<br />
um Rechte zu betteln. Alle waren<br />
schockiert. Die Männer im<br />
Pub likum schimpften. Es hat ihr<br />
Weltbild erschüttert. An dem<br />
Abend ist die Frauenbefreiungsbewegung<br />
entstanden. Und<br />
ich wurde eine Art Ikone des<br />
Schweizer Feminismus, ohne das<br />
wirklich zu wollen.»<br />
11<br />
1969<br />
Marsch auf Bern: Am 1. März demonstrieren<br />
5000 Frauen und Männer vor dem Bundeshaus<br />
für das Frauenstimmrecht, angeführt von<br />
Emilie Lieberherr (2. v. r.).<br />
lancierte der Schweizerische Verband<br />
für Frauenstimmrecht 1929 eine Petition<br />
mit fast 250 000 Unterschriften – bei vier<br />
Millionen Einwohnern eine Rekordzahl.<br />
Sie blieb wie alle anderen Vorstösse<br />
folgenlos. «Egal ob die Frauen das<br />
Stimmrecht forsch forderten oder zurückhaltend<br />
weibelten», sagt Joris,<br />
«es nützte nichts.»<br />
Erste Schritte ab den 50er-Jahren<br />
Und dann, 1959, sollte das Thema ein für<br />
allemal erledigt werden: Das Parlament<br />
stimmte der Vorlage des Bundesrats zur<br />
Einführung des Frauenstimmrechts zu –<br />
wohl ahnend, dass sie vom Männervolk<br />
versenkt würde. Tatsächlich sagten zwei<br />
Drittel Nein. Nur die Kantone Waadt,<br />
Genf und Neuenburg stimmten zu und<br />
führten das kantonale und kommunale<br />
Frauenstimmrecht ein.<br />
Schliesslich holte der Zeitgeist die<br />
patriarchale Eidgenossenschaft doch<br />
noch ein: Ende der 60er-Jahre sorgten<br />
Jugendrevolten weltweit für soziale<br />
Umbrüche. Die 68er-Bewegung (siehe<br />
Interview mit Frauenrechtlerin Andrée<br />
Valentin) rüttelte an alten Idealen und<br />
traditionellen Geschlechterrollen. In der<br />
Schweiz wollten die jungen Feministinnen<br />
der Frauenbefreiungsbewegung<br />
nicht mehr um politische Rechte betteln,<br />
sondern forderten die umfassende Gleich-<br />
Andrée Valentin (mit Sonnenbrille) als 24-Jährige bei der Besetzung des<br />
Globus-Provisoriums 1968. Die heute 77-Jährige studierte an der Universität<br />
Zürich Wirtschaft, Geschichte und Soziologie. Ab 1969 lebte sie unter<br />
anderem in Deutschland, Frankreich, Indien und Italien. →