<strong>EqualVoice</strong> MINT Mathematik Informatik Naturwissenschaft Technik Wo sind die Frauen? In technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen fehlt es an Frauen. Trotz zahlreichen Förderprogrammen und jahrelangen Bemühungen. Warum? Text: Adrian Meyer 62
Naturwissenschaften «Ich musste sicherlich mehr leisten als meine Kollegen. Weil ich eine Frau bin.» Kathrin Altwegg, Weltraumforscherin Fotos: Manu Friederich, Barbara Keller Als sie über ihr Studium spricht, kommen ihr die Tränen. Kathrin Altwegg (69) ist emeritierte Professorin für Astrophysik und eine Pionierin in ihrem Fach. International bekannt wurde sie als «Kometenjägerin» der ESA- Raumfahrtmission Rosetta. Sie hat den Massenspektrometer «Rosina» an Bord der Raumsonde entwickelt, die auf dem fernen Kometen Tschuri die Grundbausteine des Lebens entdeckte. Sie hatte eine erfolgreiche, aufregende Karriere. Doch wenn sie zurückdenkt an ihr Physikstudium an der Universität Basel, «kommen schon ein paar Emotionen hoch». Die Einsamkeit als einzige Frau im Vorlesungssaal, das Gefühl, wegen ihres Geschlechts nicht ernst genommen zu werden von den Herren Professoren, die abschätzigen Kommentare, die ständigen Zweifel am eigenen Können, «das nagt an einem». Sie kann sich gut an den älteren Professor erinnern, der ihr sagte, sie solle doch besser beim Warenhaus EPA Strümpfe verkaufen, als Physik zu studieren. Der Macht der Professoren war sie ausgeliefert, Gleichstellungsbeauftragte gab es damals nicht, «zu denen wäre ich damals längst gegangen». Zum Glück sei sie eine «Rossnatur» und habe es sich in den Kopf gesetzt, es allen zeigen zu wollen. Damit sei sie aber in die Falle getreten, perfekt sein zu wollen, besser als alle anderen. «Ich musste sicherlich mehr leisten als meine Kollegen. Weil ich eine Frau bin.» Heute sind Frauen in naturwissenschaftlichen Studiengängen nicht einsam. Dennoch bleiben sie eine Minderheit. Insbesondere die MINT-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – sind in Männerhand. Laut Bundesamt für Statistik waren vergangenes Jahr an den Schweizer Universitäten nur 18,4 Prozent der Informatik-Studienanfänger weiblich, in den Technikwissenschaften waren es 23 Prozent; an den Fachhochschulen waren die Frauenanteile in denselben Fächern mit rund 16 und 14 Prozent noch geringer. Dabei versuchen Hochschulen, Stiftungen, Unternehmen und die Politik seit Jahren, den Frauenanteil bei den MINT- Fächern mit Förderprogrammen zu steigern – mit mässigem Erfolg. Laut der Konjunkturforschungsstelle KOF an der ETH Zürich stieg zwischen 2009 und 2019 die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen ein MINT-Studium beginnen, bloss von 17,3 auf 20,6 Prozent. Bei den Männern hingegen von 43,9 auf 48,4 Prozent. Warum schrecken Frauen trotz aller Bemühungen vor MINT-Fächern zurück? Und wie liessen sie sich für diese Studiengänge begeistern? Das Problem sei weniger der Wissenschaftsbetrieb als die Gesellschaft, sagt Susanne Metzger. Die Physikerin leitet das Zentrum für Naturwissenschaftsund Technik didaktik an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und ist Vorsitzende der Fachkommission MINT der Akademien der Wissenschaften Schweiz. «Noch immer sind traditionelle Geschlechterrollen tief in der Gesellschaft verankert», sagt sie. Fördermassnahmen, die Frauen für MINT- Fächer begeistern sollen, fruchten demnach nur begrenzt. Zu stark wirken die Geschlechterstereotypen. Gemäss dieser Vorstellung sind Fachpersonen in Physik, Technik, ja Forschende allgemein weiterhin vor allem Männer. «Diese Prägung beginnt bereits im Kindergarten.» Dort gehen die Buben in die Ecke mit den technischen Spielzeugen, den Autos, Baggern und Metallbaukästen. Von den Mädchen aber wird erwartet, dass sie in die Bäbi-Ecke mit dem Susanne Metzger, Physikerin Tante-Emma-Laden und dem Kochherd → «Wenn sich intelligente Frauen nicht trauen, ein MINT-Fach zu studieren, verlieren wir viel Potenzial.» 63