01.07.2022 Aufrufe

Jahresbericht 2021 der Stiftung Liebenau

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Impuls<br />

Wir sind …<br />

noch nicht am Ende!<br />

Ich habe mich wochenlang, nein monatelang geweigert,<br />

diesen Impuls zu schreiben. Ich hatte immer gehofft, <strong>der</strong><br />

Krieg in <strong>der</strong> Ukraine wäre beendet, bevor ich mich mit diesen<br />

Gedanken befassen sollte. Aber nichts ist beendet. Leid<br />

und Schreie des Krieges – o<strong>der</strong> sollte ich besser schreiben:<br />

<strong>der</strong> Kriege – dringen unaufhaltsam an mein Ohr und lassen<br />

mein Herz erstarren. Angst trifft Empörung. Verzweiflung<br />

auf ein Gefühl gelähmt zu sein.<br />

Ich fühle mich <strong>der</strong> Zeit, die wir erleben, ausgeliefert. Corona<br />

ist noch nicht überwunden und in Europa herrscht Krieg.<br />

Aber machen wir uns nichts vor. Auf <strong>der</strong> ganzen Welt herrschen<br />

und toben die Kriege wie eh und je. Ich glaubte uns im<br />

Frieden. Aber das war immer ein Irrtum. Nur weil die Kriege<br />

weit weg waren, haben sie doch immer schon existiert. Mir<br />

geht es nicht besser, wenn ich die Kriegstreiber benennen<br />

kann. Und es ist mir kein Trost, dass die Absetzung eines<br />

Autokraten zumindest diesen Krieg wohl beenden könnte.<br />

Ich muss einsehen, dass ich mich dem Gedanken stellen<br />

muss, dass wir als Menschheit noch nicht gelernt haben<br />

ohne Kriege auszukommen. Augenscheinlich gibt es<br />

Gründe, das Leid und das Elend von Menschen, das Sterben<br />

und die Vergewaltigung von Frauen und Männern, die<br />

Schreie <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in den Bunkern <strong>der</strong> Zerstörung hinzunehmen<br />

für das, was die Mächtigen dann am Ende immer<br />

„höhere Ziele” nennen. Menschen waren es immer und<br />

werden es auf absehbare Zeit immer sein: Kanonenfutter für<br />

Interessen, mit kleinen friedlichen Zeitzonen dazwischen.<br />

Das nennen wir dann Glück. O<strong>der</strong> wohl besser: Glück gehabt!<br />

Wenigstens für siebenundsiebzig Jahre, in Deutschland.<br />

Ich hatte immer geglaubt, <strong>der</strong> nächsten Generation<br />

eine an<strong>der</strong>e, eine verständigere, friedvollere Welt, zu hinterlassen.<br />

Ich habe auch an das Märchen vom Wandel durch<br />

Handel geglaubt. Ich war <strong>der</strong> festen Überzeugung, dass eine<br />

vernetzte Welt mit Menschen, die befreundet sind über die<br />

Grenzen hinweg, die einan<strong>der</strong> achten und schätzen – unab-<br />

hängig von Glaube und Kultur –, am Ende dafür sorgen werden,<br />

dass die Kriege überflüssig werden, weil wir uns als<br />

Menschheit begreifen. Aber augenscheinlich sind wir noch<br />

nicht so weit. Offensichtlich gibt es die Menschheit als Einheit<br />

in Vielfalt noch nicht. Diese Menschheit ist ein Traum.<br />

Eine gefährliche Einsicht. Sollten wir uns daran gewöhnen?<br />

Wenn wir davor stehen bleiben, dass es uns Menschen als<br />

Solidargemeinschaft, als Menschheit, nicht gibt und auch<br />

nicht geben wird, dann spielt dieser eine Krieg mehr auf<br />

unserem Planeten am Ende auch keine entscheidende Rolle<br />

mehr. Dann wird das menschengemachte Klima uns alle<br />

hinwegraffen, früher o<strong>der</strong> später. O<strong>der</strong> wir erleben Krieg<br />

auf Krieg. Am Ende wäre dann aber jegliches Engagement –<br />

auch das unserer <strong>Stiftung</strong> – sinnlos. Warum sollten wir uns<br />

um Alte und Kranke kümmern, wenn sie doch früher o<strong>der</strong><br />

später von irgendeinem Krieg dahingerafft werden? Warum<br />

sollten wir Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen ins Leben hinein<br />

begleiten, wenn das Leben am Ende nur Elend hieße und<br />

Zerstörung. Alles würde keinen Sinn ergeben.<br />

Aber genau das Gegenteil erlebe ich jeden Tag. Jeden Tag<br />

weiß ich von Menschen in unseren Einrichtungen und<br />

Angeboten, die sich auf den Weg machen, an<strong>der</strong>e Menschen<br />

zu begleiten. Ich erlebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,<br />

die oft ihre letzte Kraft geben, trotz Krieg und Corona, alles<br />

zu tun, was ihnen möglich ist, dass es an<strong>der</strong>en Menschen<br />

gut geht. Ich erlebe Hingabe und Fürsorge. Ich erlebe, wie<br />

Trauernden Trost gespendet wird. Menschen werden gewaschen<br />

und versorgt. Geflüchteten wird Raum zum Leben<br />

gegeben und unermüdlich versuchen wir jungen Menschen<br />

ein Leben in Selbstbestimmtheit zu ermöglichen. Ich sehe<br />

wie sich Menschen umarmen und Halt geben. Ich sehe wie<br />

sie einan<strong>der</strong> die Hand reichen und die Tränen von den Wangen<br />

wischen. Diese Bil<strong>der</strong> sind nicht naiv o<strong>der</strong> romantisch.<br />

Vor allem sind sie kein Traum. Wir setzen <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

von Krieg und Ohnmacht, die Kraft <strong>der</strong> Versöhnung und<br />

30 Impuls

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!