Jahresbericht 2021 der Stiftung Liebenau
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Impuls<br />
Wir sind …<br />
noch nicht am Ende!<br />
Ich habe mich wochenlang, nein monatelang geweigert,<br />
diesen Impuls zu schreiben. Ich hatte immer gehofft, <strong>der</strong><br />
Krieg in <strong>der</strong> Ukraine wäre beendet, bevor ich mich mit diesen<br />
Gedanken befassen sollte. Aber nichts ist beendet. Leid<br />
und Schreie des Krieges – o<strong>der</strong> sollte ich besser schreiben:<br />
<strong>der</strong> Kriege – dringen unaufhaltsam an mein Ohr und lassen<br />
mein Herz erstarren. Angst trifft Empörung. Verzweiflung<br />
auf ein Gefühl gelähmt zu sein.<br />
Ich fühle mich <strong>der</strong> Zeit, die wir erleben, ausgeliefert. Corona<br />
ist noch nicht überwunden und in Europa herrscht Krieg.<br />
Aber machen wir uns nichts vor. Auf <strong>der</strong> ganzen Welt herrschen<br />
und toben die Kriege wie eh und je. Ich glaubte uns im<br />
Frieden. Aber das war immer ein Irrtum. Nur weil die Kriege<br />
weit weg waren, haben sie doch immer schon existiert. Mir<br />
geht es nicht besser, wenn ich die Kriegstreiber benennen<br />
kann. Und es ist mir kein Trost, dass die Absetzung eines<br />
Autokraten zumindest diesen Krieg wohl beenden könnte.<br />
Ich muss einsehen, dass ich mich dem Gedanken stellen<br />
muss, dass wir als Menschheit noch nicht gelernt haben<br />
ohne Kriege auszukommen. Augenscheinlich gibt es<br />
Gründe, das Leid und das Elend von Menschen, das Sterben<br />
und die Vergewaltigung von Frauen und Männern, die<br />
Schreie <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in den Bunkern <strong>der</strong> Zerstörung hinzunehmen<br />
für das, was die Mächtigen dann am Ende immer<br />
„höhere Ziele” nennen. Menschen waren es immer und<br />
werden es auf absehbare Zeit immer sein: Kanonenfutter für<br />
Interessen, mit kleinen friedlichen Zeitzonen dazwischen.<br />
Das nennen wir dann Glück. O<strong>der</strong> wohl besser: Glück gehabt!<br />
Wenigstens für siebenundsiebzig Jahre, in Deutschland.<br />
Ich hatte immer geglaubt, <strong>der</strong> nächsten Generation<br />
eine an<strong>der</strong>e, eine verständigere, friedvollere Welt, zu hinterlassen.<br />
Ich habe auch an das Märchen vom Wandel durch<br />
Handel geglaubt. Ich war <strong>der</strong> festen Überzeugung, dass eine<br />
vernetzte Welt mit Menschen, die befreundet sind über die<br />
Grenzen hinweg, die einan<strong>der</strong> achten und schätzen – unab-<br />
hängig von Glaube und Kultur –, am Ende dafür sorgen werden,<br />
dass die Kriege überflüssig werden, weil wir uns als<br />
Menschheit begreifen. Aber augenscheinlich sind wir noch<br />
nicht so weit. Offensichtlich gibt es die Menschheit als Einheit<br />
in Vielfalt noch nicht. Diese Menschheit ist ein Traum.<br />
Eine gefährliche Einsicht. Sollten wir uns daran gewöhnen?<br />
Wenn wir davor stehen bleiben, dass es uns Menschen als<br />
Solidargemeinschaft, als Menschheit, nicht gibt und auch<br />
nicht geben wird, dann spielt dieser eine Krieg mehr auf<br />
unserem Planeten am Ende auch keine entscheidende Rolle<br />
mehr. Dann wird das menschengemachte Klima uns alle<br />
hinwegraffen, früher o<strong>der</strong> später. O<strong>der</strong> wir erleben Krieg<br />
auf Krieg. Am Ende wäre dann aber jegliches Engagement –<br />
auch das unserer <strong>Stiftung</strong> – sinnlos. Warum sollten wir uns<br />
um Alte und Kranke kümmern, wenn sie doch früher o<strong>der</strong><br />
später von irgendeinem Krieg dahingerafft werden? Warum<br />
sollten wir Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen ins Leben hinein<br />
begleiten, wenn das Leben am Ende nur Elend hieße und<br />
Zerstörung. Alles würde keinen Sinn ergeben.<br />
Aber genau das Gegenteil erlebe ich jeden Tag. Jeden Tag<br />
weiß ich von Menschen in unseren Einrichtungen und<br />
Angeboten, die sich auf den Weg machen, an<strong>der</strong>e Menschen<br />
zu begleiten. Ich erlebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,<br />
die oft ihre letzte Kraft geben, trotz Krieg und Corona, alles<br />
zu tun, was ihnen möglich ist, dass es an<strong>der</strong>en Menschen<br />
gut geht. Ich erlebe Hingabe und Fürsorge. Ich erlebe, wie<br />
Trauernden Trost gespendet wird. Menschen werden gewaschen<br />
und versorgt. Geflüchteten wird Raum zum Leben<br />
gegeben und unermüdlich versuchen wir jungen Menschen<br />
ein Leben in Selbstbestimmtheit zu ermöglichen. Ich sehe<br />
wie sich Menschen umarmen und Halt geben. Ich sehe wie<br />
sie einan<strong>der</strong> die Hand reichen und die Tränen von den Wangen<br />
wischen. Diese Bil<strong>der</strong> sind nicht naiv o<strong>der</strong> romantisch.<br />
Vor allem sind sie kein Traum. Wir setzen <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
von Krieg und Ohnmacht, die Kraft <strong>der</strong> Versöhnung und<br />
30 Impuls