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SCHULE<br />
COMPANIES<br />
AZUBIPORTRAITS<br />
Deshalb ist das so, so funktioniert das“,<br />
hebt sie hervor. „Man hatte viel mehr das<br />
Gefühl, wirklich etwas zu lernen, was man<br />
irgendwann wirklich braucht, weil man<br />
direkt so eine Vergleichsmöglichkeit hatte.“<br />
Diese Art der Wissensvermittlung ist Ruth<br />
Merk besonders wichtig. Sie betont, dass die<br />
klassische Aufarbeitung des Schulmaterials<br />
nur ungefähr 35 bis 40 Prozent des Zeitumfanges<br />
einnimmt, den die Jugendlichen von<br />
der Schule daheim gewohnt wären. Doch<br />
auch während der restlichen Zeit werde<br />
gelernt – nur nicht auf konventionelle Art.<br />
„Wenn zum Beispiel ein fliegender Fisch an<br />
Deck landet, dann kommt der im Bio-Unterricht<br />
auf den Tisch. Wenn wir auf einen<br />
Vulkan gehen, dann erfahren wir bei der<br />
Exkursion mehr zum Thema Vulkanismus.<br />
Wenn wir durch den Regenwald wandern,<br />
wird tropischer Regelwald zum Unterrichtsinhalt“,<br />
sagt Merk. Alle Lerninhalte würden<br />
mit der Realität verknüpft werden, betont<br />
sie. Zum Glück passen die meisten Themen<br />
auch mit dem bayrischen Lehrplan überein,<br />
an dem sich das KuS-Projekt orientiert.<br />
Auf Deck, unter Deck oder an Land –<br />
gelernt wird überall<br />
Der Unterricht selbst finde dabei entweder<br />
unter Deck in der Messe statt – also dem<br />
„Wohnzimmer“ des Schiffs, der Klassen- und<br />
Freizeitraum zugleich sei – oder in wärmeren<br />
Gegenden, wie in der Karibik, an Deck.<br />
Dabei, erzählt Lilian, war die Beziehung<br />
zu den Lehrern freundschaftlich und auf<br />
Augenhöhe: „An Bord haben wir uns alle<br />
geduzt, irgendwie war das auch fürs Lernen<br />
förderlich – so eine lustige, entspannte<br />
Stimmung zwischen den Erwachsenen und<br />
uns“, erinnert sich die Schülerin.<br />
Das Leben findet für die Jugendlichen aber<br />
nicht nur auf hoher See statt. Neben dem<br />
Besuch einiger kleiner Inselstaaten in der<br />
Karibik gibt es auch mehrwöchige Landaufenthalte.<br />
Insgesamt viermal sind die<br />
Jugendlichen während der Reise an Land,<br />
um Flora, Fauna, Kultur und Geschichte der<br />
jeweiligen Länder zu studieren – diesmal<br />
wegen des Vulkanausbruchs auf La Palma<br />
und Erdbeben auf den Azoren aber zum Teil<br />
etwas anders als ursprünglich geplant.<br />
Ein Abenteuer, das Menschlichkeit lehrt<br />
„Unsere Reise war wirklich ein Abenteuer<br />
– von Anfang bis Ende“, erzählt Lilian.<br />
Am eindrücklichsten findet sie ein Ereignis,<br />
was gleich am Anfang, in der ersten<br />
Etappe passierte: „Ich hatte zu der Zeit<br />
Backschaft, stand also in der Küche und<br />
kochte, aber unser Ausguck entdeckte zwei<br />
Männer, die auf einem winzigen Schlauchboot<br />
mitten auf dem Meer dahintrieben.“<br />
Sie erzählt, wie die Schiffsmannschaft ein<br />
„Person-über-Bord“-Manöver fährt und den<br />
Männern Essen, Getränke und Rettungswesten<br />
zuwirft.<br />
Später erfahren sie, dass es sich um zwei<br />
somalische Geflüchtete handelt, die von<br />
Calais in Frankreich nach Großbritannien<br />
übersetzen wollten, aber abgetrieben worden<br />
waren. „Wären sie weiter auf die Nordsee<br />
getrieben, wären sie wahrscheinlich nicht<br />
mehr gefunden worden“, sagt Lilian. „Als es<br />
dunkel wurde, entschied unser Kapitän, dass<br />
wir sie an Bord nehmen – obwohl wir das<br />
rechtlich nicht durften.“ Am Abend dann<br />
seien beide Männer von der Küstenwache<br />
abgeholt worden. Zurück bleibt eine Gruppe,<br />
die das Erlebnis stark mitgenommen, die der<br />
Akt des Helfens aber zusammengeschweißt<br />
hat.<br />
24 Stunden in einem Wald auf den<br />
Azoren allein für sich<br />
Nun ist ein Monat seit der Rückkehr der<br />
Thor Heyerdahl vergangen. Lilian ist aber<br />
noch immer bewegt: „Ich habe auch so viel<br />
über mich selbst gelernt“, sagt sie. Gefördert<br />
hätten das die sogenannten Solo-Zeiten,<br />
die den Schülern aufgetragen wurden. „Das<br />
war ein fester Zeitraum, in dem man sich<br />
hinsetzen sollte, um einfach nur nachzudenken“,<br />
erinnert sie sich. „Anfangs ging<br />
das eine halbe Stunde, dann waren es drei<br />
Stunden und zuletzt wurde es gesteigert<br />
auf ein 24-Stunden-Solo.“ Dabei seien die<br />
Schüler 24 Stunden in einem Wald auf den<br />
Azoren allein für sich gewesen, ausgestattet<br />
mit Rucksäcken, Hängematten und Schlafsäcken.<br />
„Das war eine so wahnsinnig tolle<br />
Erfahrung, das würde ich sofort nochmal<br />
machen“, erzählt sie begeistert. Mußestunden,<br />
um das Geschehene Revue passieren zu<br />
lassen und zu reflektieren.<br />
„Während des halben Jahres ist mir auch<br />
aufgefallen, wie wenig ich mein Handy<br />
noch brauche“, ergänzt Lilian. „Mir wurde<br />
bewusst, dass wir uns viel mehr mit den<br />
Dingen befasst haben, die um uns herum<br />
waren, als auf Instagram zu gucken, was die<br />
neusten Updates sind“, sagt sie. Diese aktive<br />
Auseinandersetzung mit der meist fremden<br />
Umwelt, hätte bei ihr zu einem neuen<br />
Bewusstsein geführt und sie erzählt, dass<br />
sie heute ihr Handy viel weniger benutze als<br />
davor.<br />
33 Jugendliche, ein Schiff und sechseinhalb<br />
Monate Zeit. Das Klassenzimmer unter<br />
Segeln schafft etwas, was eine kostbare Seltenheit<br />
in unserem schnelllebigen digitalen<br />
Zeitalter ist: Jugendlichen beizubringen,<br />
was Gemeinschaft heißt – auch Bedürftigeren<br />
gegenüber. Aber auch, was es heißt,<br />
achtsam zu sein mit sich. Ohne Handy, ohne<br />
Strom, in der Natur oder auf dem Wasser.<br />
Eine Schule für nichts Geringeres als das<br />
Leben selbst.<br />
www.thor-heyerdahl.de<br />
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