CHRISTOPH GRUBER KONSUM NEU DENKEN 16 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2023</strong>
„Sind wir eigentlich dafür da, um die Zwischenlager für Produkte zu sein?“ In seiner Keynote zum Topic „Konsum neu denken“ hält Harald Welzer ein eloquentes Plädoyer dafür, Konsum eben nicht neu-, sondern wegzudenken. Denn: Innerhalb der bestehenden Zuschüttung mit Produkten könne der Sprung hinaus nicht gelingen. Von Andrea Heinz Darüber, wie wir „Konsum neu denken“ könnten, will Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer in seiner Keynote überhaupt nicht sprechen – vielmehr darüber, wie extrem jung unsere Konsumgesellschaft ist, und dass Narrative nicht verbal sein müssen. „Wir sind Teil eines Narrativs, das sich über die beständige Zuschüttung der Welt mit Produkten formuliert.“ Eine Infrastruktur, die aus Straßen für den Individualverkehr, Tankstellen und Autohäusern besteht, ist ebenfalls eine „Erzählung über das So-Sein der Welt“. Unsere Kultur behaupte die Fiktion, dass eine permanente Steigerung nicht nur möglich, sondern notwendig sei. „Eine ganz große Geschichte, die einfach falsch ist. Jedes Kind versteht, dass in einem endlichen Universum keine endlose Steigerung möglich ist.“ Was die Folgen dieser Erzählung sind, sei spätestens jetzt überall bemerkbar, dennoch würde behauptet, sie seien durch weitere Steigerung in den Griff zu bekommen. Anschaulich beschreibt Welzer die Widersprüche unserer Gegenwart aus der Perspektive der fiktiven Nachgeborenen: Eine Gesellschaft, die Regalmeter an Literatur zur Klimakrise und Bewegungen wie Die Grünen oder Greenpeace hervorgebracht hat – und zugleich das Konzept der Kreuzfahrtreisen oder maximal klimaschädliche Luxuswägen mit bizarrer PS-Zahl und einem Hybrid-Elektromotor als Zierde. Welzer erzählt vom VW-Golf, den er gemietet und der ihn daraufhin „hunderte Kilometer permanent terrorisiert und bevormundet“ habe. Wir befänden uns in einem sozialpsychologischen Zustand, in dem die Produkte uns nicht mehr dienen, sondern wir darauf konditioniert werden, den Produkten zu dienen. Es gebe ein beständiges Anwachsen der Produktmenge bei gleichzeitiger Verringerung ihrer Lebensdauer. Mittlerweile existiert auf der Erde mehr tote als lebendige Materie, der Großteil davon aus der Nachkriegszeit. Was also tun? „Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Innerhalb des Bestehenden kommen wir da nicht raus.“ Es gehe nicht darum, Konsum neu-, sondern ihn wegzudenken. Die internationale Glücksforschung zeige, dass über einem gewissen Einkommensniveau das subjektive Glücksempfinden nicht mehr ansteigt. An diesem Punkt in einen gesellschaftlichen Dialog über ein gelingendes Zusammenleben einzusteigen, war aber mit der Wachstumslogik nicht kompatibel, weshalb es etwa seit den 1980ern eine beständige Produktion von Bedürfnissen gibt: Nicht nur materiellen, sondern zum Beispiel auch an Medien. So halte man die Menschen unter Vollbeschäftigung und mache sie selber zum Konsumgut, weil alle Gerätschaften dazu dienten, Daten über uns zu erheben, die, „und das ist der diabolische Witz dabei, nur dazu dienen, uns noch mehr Mist anzudrehen, als wir ohnehin schon haben“. Worum es am Ende gehe, sei das „Rausspringen“ aus tradierten Erzählungen, was zur Frage führt: Sind wir eigentlich dafür da, um „die Zwischenlager für Produkte zu sein“? Die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft, erinnert Welzer, war eine andere: Partizipationsmöglichkeiten für alle, um ein stabiles Fundament für die Demokratie zu schaffen. • Harald Welzer ist ein deutscher Soziologe und Sozialpsychologe, der zahlreiche Bücher veröffentlicht hat und heute als Publizist tätig ist. Er hat an der Universität Hannover Soziologie, Germanistik und Politikwissenschaft studiert, wo er später in Soziologie und Sozialpsychologie habilitierte. Von 2001 bis 2012 war er Professor für Sozialpsychologie an der privaten Universität Witten/Herdecke. Welzer ist Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung „FuturZwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“, die sich das Aufzeigen und Fördern alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen zur Aufgabe gemacht hat. Die Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung. FREEPIK/SENIVPETRO <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2023</strong> 17