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GSa163_Sept23_Pausenkulturen

Pausenkulturen

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Praxis: <strong>Pausenkulturen</strong><br />

Im Laufe des Jahres habe ich meinen<br />

eigenen Rhythmus gefunden und das als<br />

große Freiheit empfunden. Meine Nachbarin<br />

meinte eines Tages: „Darf ich dir<br />

mal rückmelden, dass du in diesem Jahr<br />

viel mehr Gelassenheit und Offenheit<br />

ausgestrahlt hast!?“<br />

Diese Offenheit, aber gerade auch das<br />

Alleine-Unterwegs-Sein, ermöglicht<br />

mir immer wieder Begegnungen und<br />

Gespräche mit fremden Menschen, die<br />

schnell in die Tiefe gehen. Der beiderseitige<br />

Austausch und die (Lebens-)Geschichten<br />

der anderen bereichern und<br />

hinterlassen Spuren im Alltag. Nur selten<br />

erlebte ich mürrische Reaktionen, viel<br />

öfter wurde ich beschenkt durch Hilfsbereitschaft<br />

und Herzlichkeit. Sehr prägend<br />

war die Begegnung mit einer ehemals<br />

Inhaftierten, die mittlerweile in der<br />

Gefängnisseelsorge arbeitet und Menschen<br />

nun neue Hoffnung bringt.<br />

Eines meiner Vorhaben war es, während<br />

der Sabbatzeit einige Wochen in<br />

Israel zu verbringen. Pandemiebedingt<br />

wurde von einem Tag auf den anderen<br />

die Reisemöglichkeit dorthin untersagt,<br />

sodass meine Planung komplett auf den<br />

Kopf gestellt wurde. Im Nachhinein war<br />

es das Beste, was passieren konnte. Ich<br />

erlebte Israel verspätet im Frühling. Es<br />

waren vor allem die wenigen Wüstenerfahrungen,<br />

die mich auf einem Teil<br />

des Weitwanderwegs „Israel National<br />

Trail“ am meisten geprägt haben: Weniges<br />

schätzen, allein sein und doch Hilfe<br />

zur rechten Zeit bekommen, Lösungen<br />

finden in schwierigen Situationen …<br />

und immer wieder die Begegnungen mit<br />

anderen. „Mit wem du in Israel Freundschaft<br />

geschlossen hast, der bleibt dir als<br />

Freund dein Leben lang erhalten!“, erklärte<br />

mir eine Hamburgerin. Und tatsächlich<br />

begleiten und bereichern mich<br />

diese dort geschlossenen Kontakte auch<br />

weiterhin.<br />

Ab Dezember verbrachte ich statt in<br />

Israel sehr spontan mehr als zwei Monate<br />

in Costa Rica. Ich kannte die Sprache<br />

nicht, hatte keinen Reiseführer und<br />

war auf die Menschen vor Ort – Einheimische<br />

und Backpacker – angewiesen.<br />

Ich traf dort herzliche Menschen und<br />

war oftmals mit alternativen Lebensentwürfen<br />

konfrontiert: Rente, was ist das<br />

und wozu überhaupt? Leben mit und in<br />

der Natur, Permakultur/Landbesitz und<br />

selbstständiger Umgang mit der Zeit.<br />

Überdies half ich bei neu gewonnenen<br />

Christiane in Israel<br />

Freunden auf einem kleinen Bauernhof<br />

in den Bergen im Landesinneren aus. Sie<br />

leben ein hartes Leben mit viel Herzblut.<br />

Neben weiteren Reisen konnte ich Zeit<br />

für Freundschaften und Familie nutzen.<br />

Es ist eine besondere Zeit, die endlich ist.<br />

Es ist wie ein kostbarer Schatz, der Auswirkungen<br />

hat, auch wenn ich nur einen<br />

Bruchteil davon erzählen und durch<br />

mein Leben (mit-)teilen kann.<br />

Claudia<br />

Nachdem ein längerer Auslandsaufenthalt<br />

aus familiären Gründen nicht in<br />

Frage kam, genoss ich es einfach – ohne<br />

Vorgaben von außen – Zeit zu haben.<br />

Zeit, gemeinsam mit einer Freundin aus<br />

dem Kurs eine umfangreiche Diplomarbeit<br />

als Abschluss zur Montessoripädagogik-Ausbildung<br />

zu erstellen.<br />

Intensive, erfüllende Arbeit und<br />

Gemeinschaft. Zeit, in verschiedenen<br />

Montessori-Einrichtungen zu hospitieren<br />

und dabei stets den Gedanken zu<br />

bewegen, was ich von dem, was mich<br />

an der Arbeit in der Montessorischule<br />

überzeugt, mit in die Regelschule nehmen<br />

kann. Ist das überhaupt möglich,<br />

wenn ich Noten geben muss?<br />

Zeit, mich intensiv um die Familie zu<br />

kümmern, die flügge werdenden Kinder<br />

zu unterstützen und zu ermutigen, wo<br />

es nötig ist, und gleichzeitig zu lernen,<br />

sich zurückzunehmen. Zeit, kürzere und<br />

längere Touren mit dem Ehemann durch<br />

Deutschland zu unternehmen – ohne<br />

einen einzigen Gedanken, was ich für<br />

die Schule in den Ferien noch vorbereiten<br />

sollte. Zeit, intensiv für meine „große“<br />

Reise zu trainieren: mit Schneeschuhen<br />

auf einem Fernwanderweg in Lappland.<br />

120 km auf dem Schnee, Selbstversorgung<br />

in einfachen Hütten, kein<br />

Handyempfang und ab und zu auch stürmisches<br />

Wetter oder die Lawinengefahr<br />

einschätzen müssen. Auf der Heimreise<br />

mit neuem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten<br />

im Gepäck, aber auch der großen<br />

Frage: „Welche Erfahrungen verweigere<br />

ich mir selbst – ohne Ausprobieren<br />

–, weil ich sie mir nicht zutraue?“<br />

Diese Frage ist nun mein ständiger Begleiter<br />

und hat mich zu neuen Erlebnissen<br />

ermutigt. Ich habe – mit der Unsicherheit<br />

eines frischen Diploms und wenig<br />

praktischer Erfahrung – über mehrere<br />

Monate in einer Montessori-Schule<br />

mitgearbeitet und erlebt, in eine vertrauensvolle,<br />

respektvolle Atmosphäre von<br />

den Mitarbeiter*innen, den Kindern und<br />

den Eltern aufgenommen zu werden.<br />

Dabei konnte ich pädagogische Fachkräfte<br />

aus der Ukraine bei ihrem Hospitationsbesuch<br />

in Deutschland begleiten<br />

und wurde eingeladen, sie in ihren<br />

Einrichtungen in der Ukraine zu besuchen.<br />

Dort berührte und bewegte mich<br />

die Hingabe der Mitarbeiter*innen zutiefst.<br />

In diesen Zeiten der Unsicherheit<br />

lassen sie sich nicht von den äußeren<br />

Umständen lähmen, sondern arbeiten<br />

unermüdlich in den inklusiven Montessori-Kinderhausgruppen,<br />

bauen eine<br />

inklusive Montessori-Grundschule auf,<br />

erarbeiten ein Montessori-Curriculum<br />

für Grundschulen, um es staatlich genehmigen<br />

zu lassen. Sie bilden staatliche<br />

Lehrkräfte in Montessori-Pädagogik aus<br />

und entwickeln Konzepte für Inklusion<br />

und die Schulung von Schulbegleiter*innen.<br />

Dabei stehen sie immer wieder – so<br />

wie wir in Deutschland auch – vor der<br />

Herausforderung, neue Flüchtlingskinder<br />

aus dem Osten der Ukraine zu integrieren,<br />

in diesem oft überwältigenden<br />

Spannungsfeld zwischen kindgerechter<br />

Pädagogik und fragwürdigen staatlichen<br />

Vorgaben. Mit großem Herzen und viel<br />

Kreativität, das Vorhandene zu nutzen,<br />

ermöglichen sie es den Kindern, Selbstwirksamkeit<br />

und selbstreguliertes Lernen<br />

zu erfahren, auch wenn dies manchmal<br />

bei Fliegeralarm im Schutzraum des<br />

Kellers stattfinden muss.<br />

Ich habe die Ausbildung zur Didaktik<br />

des Deutschen als Zweitsprache (DaZ)<br />

begonnen und darf dabei auch Arabisch<br />

sprechen und schreiben lernen,<br />

was mich dankenswerterweise sehr in<br />

die Selbsterfahrung der Rolle der Lernenden<br />

treibt. Vertieft konnte ich mich<br />

mathematischen Fortbildungen auch in<br />

anderen Bundesländern widmen und<br />

so dortige Kolleg*innen kennenlernen.<br />

Durch einen dieser Kontakte durfte ich<br />

GS aktuell 163 • September 2023<br />

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