GSa163_Sept23_Pausenkulturen
Pausenkulturen
Pausenkulturen
- Keine Tags gefunden...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Praxis: <strong>Pausenkulturen</strong><br />
Im Laufe des Jahres habe ich meinen<br />
eigenen Rhythmus gefunden und das als<br />
große Freiheit empfunden. Meine Nachbarin<br />
meinte eines Tages: „Darf ich dir<br />
mal rückmelden, dass du in diesem Jahr<br />
viel mehr Gelassenheit und Offenheit<br />
ausgestrahlt hast!?“<br />
Diese Offenheit, aber gerade auch das<br />
Alleine-Unterwegs-Sein, ermöglicht<br />
mir immer wieder Begegnungen und<br />
Gespräche mit fremden Menschen, die<br />
schnell in die Tiefe gehen. Der beiderseitige<br />
Austausch und die (Lebens-)Geschichten<br />
der anderen bereichern und<br />
hinterlassen Spuren im Alltag. Nur selten<br />
erlebte ich mürrische Reaktionen, viel<br />
öfter wurde ich beschenkt durch Hilfsbereitschaft<br />
und Herzlichkeit. Sehr prägend<br />
war die Begegnung mit einer ehemals<br />
Inhaftierten, die mittlerweile in der<br />
Gefängnisseelsorge arbeitet und Menschen<br />
nun neue Hoffnung bringt.<br />
Eines meiner Vorhaben war es, während<br />
der Sabbatzeit einige Wochen in<br />
Israel zu verbringen. Pandemiebedingt<br />
wurde von einem Tag auf den anderen<br />
die Reisemöglichkeit dorthin untersagt,<br />
sodass meine Planung komplett auf den<br />
Kopf gestellt wurde. Im Nachhinein war<br />
es das Beste, was passieren konnte. Ich<br />
erlebte Israel verspätet im Frühling. Es<br />
waren vor allem die wenigen Wüstenerfahrungen,<br />
die mich auf einem Teil<br />
des Weitwanderwegs „Israel National<br />
Trail“ am meisten geprägt haben: Weniges<br />
schätzen, allein sein und doch Hilfe<br />
zur rechten Zeit bekommen, Lösungen<br />
finden in schwierigen Situationen …<br />
und immer wieder die Begegnungen mit<br />
anderen. „Mit wem du in Israel Freundschaft<br />
geschlossen hast, der bleibt dir als<br />
Freund dein Leben lang erhalten!“, erklärte<br />
mir eine Hamburgerin. Und tatsächlich<br />
begleiten und bereichern mich<br />
diese dort geschlossenen Kontakte auch<br />
weiterhin.<br />
Ab Dezember verbrachte ich statt in<br />
Israel sehr spontan mehr als zwei Monate<br />
in Costa Rica. Ich kannte die Sprache<br />
nicht, hatte keinen Reiseführer und<br />
war auf die Menschen vor Ort – Einheimische<br />
und Backpacker – angewiesen.<br />
Ich traf dort herzliche Menschen und<br />
war oftmals mit alternativen Lebensentwürfen<br />
konfrontiert: Rente, was ist das<br />
und wozu überhaupt? Leben mit und in<br />
der Natur, Permakultur/Landbesitz und<br />
selbstständiger Umgang mit der Zeit.<br />
Überdies half ich bei neu gewonnenen<br />
Christiane in Israel<br />
Freunden auf einem kleinen Bauernhof<br />
in den Bergen im Landesinneren aus. Sie<br />
leben ein hartes Leben mit viel Herzblut.<br />
Neben weiteren Reisen konnte ich Zeit<br />
für Freundschaften und Familie nutzen.<br />
Es ist eine besondere Zeit, die endlich ist.<br />
Es ist wie ein kostbarer Schatz, der Auswirkungen<br />
hat, auch wenn ich nur einen<br />
Bruchteil davon erzählen und durch<br />
mein Leben (mit-)teilen kann.<br />
Claudia<br />
Nachdem ein längerer Auslandsaufenthalt<br />
aus familiären Gründen nicht in<br />
Frage kam, genoss ich es einfach – ohne<br />
Vorgaben von außen – Zeit zu haben.<br />
Zeit, gemeinsam mit einer Freundin aus<br />
dem Kurs eine umfangreiche Diplomarbeit<br />
als Abschluss zur Montessoripädagogik-Ausbildung<br />
zu erstellen.<br />
Intensive, erfüllende Arbeit und<br />
Gemeinschaft. Zeit, in verschiedenen<br />
Montessori-Einrichtungen zu hospitieren<br />
und dabei stets den Gedanken zu<br />
bewegen, was ich von dem, was mich<br />
an der Arbeit in der Montessorischule<br />
überzeugt, mit in die Regelschule nehmen<br />
kann. Ist das überhaupt möglich,<br />
wenn ich Noten geben muss?<br />
Zeit, mich intensiv um die Familie zu<br />
kümmern, die flügge werdenden Kinder<br />
zu unterstützen und zu ermutigen, wo<br />
es nötig ist, und gleichzeitig zu lernen,<br />
sich zurückzunehmen. Zeit, kürzere und<br />
längere Touren mit dem Ehemann durch<br />
Deutschland zu unternehmen – ohne<br />
einen einzigen Gedanken, was ich für<br />
die Schule in den Ferien noch vorbereiten<br />
sollte. Zeit, intensiv für meine „große“<br />
Reise zu trainieren: mit Schneeschuhen<br />
auf einem Fernwanderweg in Lappland.<br />
120 km auf dem Schnee, Selbstversorgung<br />
in einfachen Hütten, kein<br />
Handyempfang und ab und zu auch stürmisches<br />
Wetter oder die Lawinengefahr<br />
einschätzen müssen. Auf der Heimreise<br />
mit neuem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten<br />
im Gepäck, aber auch der großen<br />
Frage: „Welche Erfahrungen verweigere<br />
ich mir selbst – ohne Ausprobieren<br />
–, weil ich sie mir nicht zutraue?“<br />
Diese Frage ist nun mein ständiger Begleiter<br />
und hat mich zu neuen Erlebnissen<br />
ermutigt. Ich habe – mit der Unsicherheit<br />
eines frischen Diploms und wenig<br />
praktischer Erfahrung – über mehrere<br />
Monate in einer Montessori-Schule<br />
mitgearbeitet und erlebt, in eine vertrauensvolle,<br />
respektvolle Atmosphäre von<br />
den Mitarbeiter*innen, den Kindern und<br />
den Eltern aufgenommen zu werden.<br />
Dabei konnte ich pädagogische Fachkräfte<br />
aus der Ukraine bei ihrem Hospitationsbesuch<br />
in Deutschland begleiten<br />
und wurde eingeladen, sie in ihren<br />
Einrichtungen in der Ukraine zu besuchen.<br />
Dort berührte und bewegte mich<br />
die Hingabe der Mitarbeiter*innen zutiefst.<br />
In diesen Zeiten der Unsicherheit<br />
lassen sie sich nicht von den äußeren<br />
Umständen lähmen, sondern arbeiten<br />
unermüdlich in den inklusiven Montessori-Kinderhausgruppen,<br />
bauen eine<br />
inklusive Montessori-Grundschule auf,<br />
erarbeiten ein Montessori-Curriculum<br />
für Grundschulen, um es staatlich genehmigen<br />
zu lassen. Sie bilden staatliche<br />
Lehrkräfte in Montessori-Pädagogik aus<br />
und entwickeln Konzepte für Inklusion<br />
und die Schulung von Schulbegleiter*innen.<br />
Dabei stehen sie immer wieder – so<br />
wie wir in Deutschland auch – vor der<br />
Herausforderung, neue Flüchtlingskinder<br />
aus dem Osten der Ukraine zu integrieren,<br />
in diesem oft überwältigenden<br />
Spannungsfeld zwischen kindgerechter<br />
Pädagogik und fragwürdigen staatlichen<br />
Vorgaben. Mit großem Herzen und viel<br />
Kreativität, das Vorhandene zu nutzen,<br />
ermöglichen sie es den Kindern, Selbstwirksamkeit<br />
und selbstreguliertes Lernen<br />
zu erfahren, auch wenn dies manchmal<br />
bei Fliegeralarm im Schutzraum des<br />
Kellers stattfinden muss.<br />
Ich habe die Ausbildung zur Didaktik<br />
des Deutschen als Zweitsprache (DaZ)<br />
begonnen und darf dabei auch Arabisch<br />
sprechen und schreiben lernen,<br />
was mich dankenswerterweise sehr in<br />
die Selbsterfahrung der Rolle der Lernenden<br />
treibt. Vertieft konnte ich mich<br />
mathematischen Fortbildungen auch in<br />
anderen Bundesländern widmen und<br />
so dortige Kolleg*innen kennenlernen.<br />
Durch einen dieser Kontakte durfte ich<br />
GS aktuell 163 • September 2023<br />
27