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GSa163_Sept23_Pausenkulturen

Pausenkulturen

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Thema: <strong>Pausenkulturen</strong><br />

„Allen neuen Unterrichtsmodellen zum<br />

Trotz: Die 45-Minuten-Einheit bleibt<br />

die Währung der Schulleitung. Jede<br />

Lehrerstelle wird, laut Schulgesetz, mittels<br />

der 45-Minuten-Einheit verwaltet.<br />

Eine 60-Minuten-Stunde ist laut Schulverwaltung<br />

eine 1 1/3 Stunde. Die 45<br />

Minuten leben als Takt also fort, und<br />

sei es auch nur verdeckt in der Schulverwaltung“<br />

(Kluth 2018).<br />

In solchen Diskussionen ist es allerdings<br />

m. E. auffällig, dass selten „die<br />

Idee formuliert [wird], dass Schülerinnen<br />

und Schüler bei einem solchen Prozess<br />

[der Rhythmisierung bzw. Aushandlung<br />

von Unterrichts- und Pausenzeiten;<br />

Anm. d. V.] beteiligt werden<br />

könnten“ (Esslinger-Hinz 2010: 274).<br />

Stattdessen sind die Wechsel von Unterrichts-<br />

und Pausenzeiten immer „so gestaltet<br />

[…], dass […] der reibungslose<br />

Ablauf des Schulalltags“ (ebd.: 274) gesichert<br />

bleibt (vgl. dazu auch Diener &<br />

Peschel 2019). Aus diesem Grund sind<br />

Unterrichts- und Pausenphasen minutiös<br />

vorgegeben und „passen mit ziemlicher<br />

Sicherheit nicht zu den individuellen<br />

Spannungs- und Entspannungsphasen“<br />

(Peschel 2019: 169) der Schüler*innen<br />

(und im Übrigen auch der<br />

Lehrer*innen: vgl. auch den Beitrag von<br />

Klenk in dieser Zeitschrift).<br />

Diese Art der Dichotomie von Unterricht<br />

und Pause erscheint grundlegend<br />

irritierend: Es wird impliziert, dass (nur<br />

und immer) im Unterricht gelernt, gearbeitet,<br />

sich konzentriert und angestrengt<br />

wird, wohingegen im Umkehrschluss<br />

in der Pause nicht gelernt, nicht<br />

gearbeitet, sich nicht konzentriert und<br />

angestrengt wird. Insbesondere ethnografische<br />

Studien zeigen aber, wie viel<br />

auch und gerade in der Pause gelernt<br />

wird (v. a. unter sozialen Aspekten) (vgl.<br />

z. B. Krappmann & Oswald 1995).<br />

Um den o. g. Unstimmigkeiten zwischen<br />

vorgeordneter Unterrichts- und<br />

Pausenzeiten und individuellen Bedürfnissen<br />

zu begegnen, schlagen verschiedene<br />

Autor*innen „individuell variable<br />

Pausenlösungen“ (Jürgens & Standop<br />

2012) vor. Dies erfordert entweder eine<br />

Abstimmung bzw. Aushandlung „hinsichtlich<br />

der […] Zeitpunkte, Dauer und<br />

Intensität sowie der Art der Lernaktivität[en]“<br />

(Holtappels 2006: 84) oder „ein-<br />

[en] eigene[n] Pausenrhythmus“ (Peschel<br />

2019: 169) und individuell variable<br />

Pausenlösungen je Schüler*in.<br />

Die Einteilung der Arbeitszeit (gemeint<br />

hier im Sinne von z. B. Aufgabenoder<br />

Projektbearbeitungszeit) richtet sich<br />

dann vollends nach den Anforderungen<br />

der jeweiligen Aufgaben, der Projekte,<br />

der Arbeit an sich, also nach den Anforderungen<br />

der Lernenden und nicht nach<br />

einer fremd vorgegebenen Zuweisung<br />

(vgl. Peschel 2016; Peschel 2021). Jedes<br />

Kind macht dann Pause, wenn es Pause<br />

benötigt – aus Sicht des individuellen<br />

Lern- und Arbeitsprozesses.<br />

Bislang wird diese Forderung der Mitbestimmung<br />

bzw. Aushandlung hinsichtlich<br />

der Pausenzeiten meist allgemeingrundschuldidaktisch<br />

oder grundschulpädagogisch<br />

begründet – mit Argumenten,<br />

die vor allem die Konzentrationsfähigkeit<br />

und Aufmerksamkeit der Schüler*innen<br />

oder die Vermeidung von Unruhen bzw.<br />

Störungen durch Ermüdung betreffen,<br />

nicht jedoch unmittelbar deren fachliche<br />

bzw. Sach-Auseinandersetzungen:<br />

„Räumt man dem Lernenden seine<br />

Eigenzeit ein, so ist festzustellen, dass er<br />

nicht nur Spannungs- und Entspannungsphasen<br />

selber am besten arrangieren<br />

kann, sondern vor allem auch, dass die<br />

Konzentrationsphasen wesentlich länger<br />

werden, da selbstgesteuertes Lernen bedeutend<br />

weniger ermüdend ist als fremdgesteuertes<br />

Lernen“ (Peschel 2019: 169).<br />

Im Forschungsprojekt doing AGEN-<br />

CY wurde – als Randaspekt 2 – der Einfluss<br />

von Pausenzeiten auf das naturwissenschaftsbezogene<br />

Lernen analysiert<br />

und damit die fachdidaktische Bedeutung<br />

der Aushandlung und Mitbestimmung<br />

individueller Pausenzeiten rekonstruiert.<br />

Die beispielhafte Vignette<br />

auf Seite 7 verdeutlicht, (a) dass die<br />

Pause Einfluss auf den fachlichen Lern-<br />

(hier: Experimentier-)Prozess der Schüler*innen<br />

hat, indem die Pause die Sach-<br />

Auseinandersetzung der Schüler*innen<br />

verzögert, stört oder sogar gänzlich<br />

unterbricht. Somit zeigt die Vignette,<br />

(b) dass diese Art der von außen festgesetzten,<br />

vorgeschriebenen und für alle<br />

Schüler*innen verpflichtenden Pause<br />

hinsichtlich der individuellen Bedürfnisse,<br />

Interessen und Lern- bzw. Erkenntnisprozesse<br />

der Schüler*innen eigentlich<br />

nie zum richtigen Zeitpunkt kommt. Die<br />

Vignette zeigt zwei Schülerinnen in der<br />

konzentrierten Auseinandersetzung mit<br />

verschiedenen Phänomenen/Erscheinungen<br />

(vgl. Wagenschein 1977; Müller<br />

& Schumann 2022), die in Zusammenhang<br />

mit dem Thema des GOFEX-Tages,<br />

Feuer, stehen. Minutenlang<br />

● vergleichen sie die Entzündungen<br />

unterschiedlich schnell an einer Reibefläche<br />

vorbeigeführter Streichhölzer,<br />

● beobachten sie abbrennende Streichhölzer<br />

oder<br />

● die Vorgänge um eine mittels Kerzenglocke<br />

gelöschte Kerzenflamme<br />

(Wachsnebel),<br />

● variieren sie die Geschwindigkeit,<br />

mit der sie die Kerzenglocke über die<br />

Kerzenflamme stülpen und „retten“ die<br />

Kerzenflamme mehrmals, indem sie<br />

die Kerzenglocke etwas anheben.<br />

Die beiden Schülerinnen wiederholen<br />

all diese Sachauseinandersetzungen<br />

mehrfach, beobachten von ganz nah, mit<br />

etwas Abstand und von allen Seiten –<br />

ohne von der Kerzenflamme abzulassen.<br />

Sie wirken fasziniert. Im kommunikativen<br />

Austausch beschreiben sie ihre Beobachtungen<br />

sehr präzise, wenn auch teilweise<br />

noch mit alltags- statt fachsprachlichen<br />

Mitteln (z. B. „weißer Rauch“ statt<br />

„Wachsnebel“). Sie verständigen sich und<br />

klären bzw. gleichen ab, was sie beobachten.<br />

Dabei kommen auch die unterschiedlichen<br />

Flammenzonen zur Sprache<br />

– Beobachtungen und Verbalisierungen,<br />

mit denen viele Erwachsene Probleme<br />

hätten (vgl. Geiss 2017).<br />

Auffällig ist nun, dass überhaupt rund<br />

zwanzig Minuten vergehen, bevor die<br />

Schülerinnen sich der intendierten Vorgehensweise<br />

(dem „Flammensprung“) zuwenden.<br />

Alle vorherigen Aktivitäten hängen<br />

dennoch mit der Experimentieraufgabe<br />

zusammen – im Sinne von Annäherungen<br />

bereiten sie den eigentlichen Versuch<br />

und seine Teilschritte (u. a. Streichholz entzünden,<br />

Flamme ersticken usw.) gewissermaßen<br />

vor. Den „Flammensprung“ selbst<br />

wiederholen sie mehrmals – aus Eigeninteresse,<br />

Faszination und Neugierde (so<br />

deute ich die Überraschungs- und Begeisterungsinterjektionen<br />

„wow“ und „boah“),<br />

aber auch, weil sie von Mitschüler*innen<br />

aufgefordert werden, das Phänomen „vorzuführen“.<br />

Auch dabei zeigen sich die o. g.<br />

Muster der anhaltenden, fokussierten und<br />

konzentrierten Beobachtung.<br />

Weiterhin wird jedoch deutlich, dass<br />

die von der leitenden GOFEX-Mitarbeiterin,<br />

also von außen, zeitlich festgesetzte,<br />

vorgeschriebene und für alle gültige<br />

Pause nicht zu den individuellen Bedürfnissen<br />

und Erkenntnisprozessen der<br />

beiden Schülerinnen S#1 und S#2 pas-<br />

6 GS aktuell 163 • September 2023

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