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Pausenkulturen

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Nachruf auf Dr. Manfred Pollert<br />

„Wir sind nicht verpflichtet,<br />

pädagogischen Unsinn zu machen!“<br />

Als 1985 die neuen Richtlinien für Grundschulen in NRW veröffentlicht<br />

wurden, wussten viele, dass Grundschulrektor Manfred<br />

Pollert als Vorsitzender der Richtlinienkommission die<br />

wichtigsten Akzente gesetzt hatte. Erstmalig fand man Freie Arbeit<br />

in den Richtlinien. Busweise pilgerten Lehrerinnen und Lehrer nach<br />

Münster, um in Pollerts Grundschule Berg Fidel die Praxis zu sehen.<br />

In seiner eigenen Klasse probierte Pollert alles aus, so wie andere<br />

Pioniere es in der Zeit taten. Ein Vierteljahr konnten dort die Projekte<br />

dauern, z. B. über Indigene oder das Mittelalter. Die Kinder beschäftigten<br />

sich mit einem gemeinsamen Gegenstand, bauten Zelte,<br />

machten Musik, tanzten, schrieben Geschichten, druckten sie selbst<br />

für eine Zeitung, rechneten in anderen Maßeinheiten und untersuchten<br />

Kultur. Dabei nahm er immer ernst, was Kinder ihm sagten.<br />

Mit viel Geduld ermutigte er Kinder und gab ihnen und ihren Eltern<br />

Sicherheit. Seine Schule wurde zu einer Laborschule im Grundschulbereich.<br />

Nie verleugnete Pollert, dass er alles von den alten Meistern<br />

wie Freinet, Montessori oder Petersen „abgeguckt“ hatte.<br />

Pollert faszinierte in Vorträgen, teils zusammen mit dem befreundeten<br />

Schulrat Gerhard Sennlaub, Hunderte von Zuhörer*innen<br />

und überzeugte auch im eigenen Kollegium. Sennlaub fasste die<br />

Grundsätze im Buch „Spaß beim Schreiben“ (1980) zusammen.<br />

In Pollerts Schulklasse entstanden die Karteikarten für den CVK-<br />

Rechtschreiblehrgang, den Pollert und Sennlaub zu einem Renner<br />

machten. Auch viele seiner Schulbücher bestanden hier ihre<br />

Praxisprobe.<br />

Als ich 1992 als sein Stellvertreter in seine Schule kam, sagte Manfred<br />

Pollert in typisch knapper Art zu mir: „Ich bin Klassenlehrer,<br />

die Schule leite ich nebenbei!“ Er setzte sich stets warmherzig<br />

für die Kinder ein. Konsequent verfolgte er sein Ziel, dass alle ihre<br />

höchstmöglichen Erfolge erleben und selbstständig arbeiten konnten.<br />

Er integrierte auf „stille“ Art möglichst viele aus dem Stadtteil<br />

Berg Fidel. Pollert wollte, dass kein Kind auf eine Sonderschule<br />

käme, auch deshalb, weil dort so wenig differenziert wurde, sodass<br />

er die Kinder lieber „bei sich“ lernen ließ.<br />

„Differenzieren kann man lernen“, antwortete er Skeptikern. Er überzeugte,<br />

indem er ihre Sorgen ernst nahm und mit Eltern und Lehrkräften<br />

zusammen in Arbeitskreisen Wege suchte, allen Kindern<br />

gerecht zu werden. Seine schlichte Erklärung dafür hieß: „Weil es<br />

nicht anders geht!“<br />

In den Behörden fand er immer Verbündete, die unterstützten, was<br />

Pollert für jeden verstehbar erklären konnte. Im Zweifel praktizierte<br />

er das Motto „Nicht fragen, sondern einfach machen!“. „Ungehorsam<br />

im Schuldienst“ und kreative Lösungen konnten wir bei ihm<br />

lernen. Wenn Behörden sich etwas ausgedacht hatten, was in der<br />

Praxis nicht funktionierte, sagte er rigoros und zugleich gelassen:<br />

„Wir sind nicht verpflichtet, pädagogischen Unsinn zu machen!“<br />

Pollert gehört zu den „entschiedenen Schulreformern“, die in den<br />

1970er- und 1980er-Jahren die Grundschule in Westdeutschland zu<br />

einem Ort der „ermutigenden“ Pädagogik gemacht haben und den<br />

Boden der Integrations- und Inklusionspädagogik gelegt haben.<br />

Seine Wirkung für ganz NRW (und mit seinen Publikationen weit<br />

darüber hinaus) entspricht dem Wirken von Hermann Schwarz in<br />

Hamburg. Mit seinem Buch „Lernen und Leben im ersten Schuljahr“<br />

(2002) gelang ihm ein unvergleichlicher Praxisbericht, der für Lehrkräfte<br />

noch heute eine hilfreiche Fundgrube ist.<br />

Dr. Manfred Pollert (4.6.1938–30.5.2023), ein „entschiedener<br />

Schulreformer“, ist im Mai 2023 im Alter von 85 Jahren<br />

gestorben. Hier zu sehen mit seinem Nachfolger als Schulleiter<br />

Dr. Reinhard Stähling (l.)<br />

Als er 2002 pensioniert wurde, war es für ihn selbstverständlich,<br />

dass wir als seine Nachfolger die Altersmischung einführten, zumal<br />

er doch selbst als Junglehrer eine einklassige evangelische<br />

Dorfschule im westlichen Münsterland geführt hatte. Die älteren<br />

unterrichteten die jüngeren Kinder. Davon hatte er erzählt.<br />

Eigentlich wollte Pollert Gemeindepfarrer werden. Er wurde Lehrer, Seminarleiter<br />

und schließlich Gründungsvater der Grundschule in Berg<br />

Fidel und „nebenbei“ promovierte er in Erwachsenenbildung. Was<br />

auch immer er anfasste, gelang leicht und hatte Zukunft. Im Stadtteil<br />

Berg Fidel, der den Ruf eines sozialen Brennpunktes hatte, war<br />

er derjenige, der mit allen Institutionen wie Kitas, Jugendhilfe- und<br />

Beratungsstellen, aber auch mit allen Verwaltungschefs in enger Kooperation<br />

stand und als Vorsitzender des Stadtteilarbeitskreises sehr<br />

viel bewirkte. So fanden schon früh Schulgottesdienste statt, die die<br />

Schule in einer christlichen Kirche mit einem Vertreter des Islam, einem<br />

evangelischen Pastor und einem katholischen Priester zusammen gestalteten.<br />

Die gegenseitige Toleranz von Menschen mit verschiedenster<br />

Herkunft wurde im Stadtteil immer selbstverständlicher.<br />

Nach seiner Pensionierung machte er dann seinen früheren Berufswunsch<br />

wahr und wurde Seelsorger des Altenheims in Berg Fidel.<br />

Bis zu seinem Tod mit 85 Jahren ging er täglich zu Bewohner*innen<br />

und hielt Andachten in der Kirche. Mit Hingabe begleitete er viele<br />

bis zu ihrem Tod. Zufrieden und selbstbewusst lebte er seine Vision<br />

vom weltoffenen, toleranten und sozialen Christentum.<br />

Manfred Pollert ist am 30.5.2023 nach kurzer Krankheit gestorben.<br />

Seine Spuren werden noch Generationen später zu sehen sein. So<br />

hätte es ohne seine fundamentale Vorarbeit zwölf Jahre nach seiner<br />

Pensionierung keine Erweiterung der Schule zu einer Primus-<br />

Schule bis zur Klasse zehn gegeben. In Dankbarkeit können wir<br />

uns vor diesem großen Lehrer und Schulreformer verneigen - und<br />

seinen Weg fortsetzen. Das wäre ganz in seinem Sinne.<br />

Dr. Reinhard Stähling war seit 1992 Manfred Pollerts Stellvertreter und<br />

seit 2002 sein Nachfolger als Schulleiter der Grundschule Berg Fidel. Bis<br />

zu seiner Pensionierung im Jahr 2022 leitete er die Primus-Schule Berg<br />

Fidel - Geist, eine Gesamtschule mit den Jahrgängen 1–10, die 2014<br />

aus der Grundschule Berg Fidel hervorgegangen ist.<br />

Dr. Reinhard Stähling<br />

GS aktuell 163 • September 2023<br />

U III

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