Das Magazin NR. 5/2023
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Zweimal<br />
die ganze<br />
Wahrheit<br />
Bachs »Weihnachtsoratorium«<br />
im Originalklang<br />
und als<br />
urbane Hausmusik<br />
»WO« ist unter Kennern und Liebhabern<br />
die Abkürzung für »Weihnachtsoratorium«.<br />
Natürlich Johann Sebastian Bachs »Weihnachtsoratorium«.<br />
»Weihnachten ohne WO«,<br />
sagt die Konzertmeisterin Juditha Haeberlin<br />
ganz richtig, sei »nur die halbe Wahrheit«.<br />
Aber darf es dann nur eine einzige Aufführung<br />
sein, wären zwei nicht noch viel schöner?<br />
Die Kölner Philharmonie bietet zur<br />
Einstimmung im Advent tatsächlich zwei<br />
Interpretationen von Bachs Meisterwerk<br />
an, und zwar ganz unterschiedliche: Da ist<br />
zum einen pünktlich am 1. Dezember das<br />
Konzert mit Masaaki Suzuki und dem Choir<br />
and Orchestra of the Age of Enlightenment<br />
aus London, Spezialisten der historischen<br />
Aufführungspraxis: das WO also in<br />
Originalklanggestalt. Wenn unter Suzuki<br />
mit »Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die<br />
Tage« der berühmte, festliche Eingangschor<br />
anhebt, erklingt er nicht nur historisch informiert,<br />
sondern ebenso mitreißend, schließlich<br />
folgen Chorsängerinnen und -sänger<br />
mitsamt Orchester dem Dirigierstab eines<br />
anerkanntermaßen Besessenen: Den Namen<br />
eines »Bach-Besessenen« trägt der<br />
1954 im japanischen Kobe geborene Suzuki<br />
nämlich schon längst. Sein Leben lang<br />
hat er sich mit dem großen Thomaskantor<br />
beschäftigt, gründete vor über dreißig<br />
Jahren sein eigenes, gleichfalls auf historischen<br />
Instrumenten musizierendes Bach<br />
Collegium Japan und hat mit ihm auf nicht<br />
weniger als 55 CDs Bachs gesamtes Kantatenwerk<br />
eingespielt. Ein Riesenprojekt, mit<br />
dem er sich in bester Gesellschaft etwa mit<br />
Nikolaus Harnoncourt, Gustav Leonhardt,<br />
seinem Lehrer Ton Koopman oder John<br />
Eliot Gardiner befindet. Dabei interpretiert<br />
Masaaki Suzuki Bachs Kirchenmusik nicht<br />
ausschließlich unter dem musikalischen<br />
Aspekt: Suzuki entstammt einer Familie aus<br />
der evangelisch-christlichen Minderheit in<br />
Japan. Er ist tief in der Religiosität verwurzelt,<br />
Bachs Musik sei für ihn »ohne diesen<br />
Glauben und das Leben in der Kirche nicht<br />
zu begreifen.«<br />
<strong>Das</strong> Oratorium, »welches die heilige Weynacht<br />
über in beyden Haupt-Kirchen zu<br />
Leipzig musiciret wurde«, in der Thomasund<br />
Nikolaikirche, entstand für die Jahreswende<br />
1734/35. Die Anordnung der Festtage<br />
in diesem Jahr erforderte sechs Kantatenteile.<br />
Die einzelnen Kantaten sah Bach für<br />
die Gottesdienste an den damals üblichen<br />
drei Weihnachtsfeiertagen, dem Neujahrstag,<br />
dem Sonntag nach Neujahr und dem<br />
Epiphaniasfest vor. Wir verstehen sie als in<br />
sich geschlossenes Werk und vollkommenen<br />
musikalischen Ausdruck christlicher<br />
Weihnachtsfreude. Vollständig und mit allen<br />
Teilen ist es heute dennoch selten zu<br />
hören. Auch hier erweist sich Suzuki als der<br />
leidenschaftliche Bach-Interpret: Die Aufführung<br />
in der Kölner Philharmonie umfasst<br />
als Besonderheit sämtliche Kantaten I-VI.<br />
Wer das »Oratorium Tempore Nativitatis<br />
Christi«, wie der ursprüngliche Titel lautet,<br />
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