Bildung für nachhaltige Entwicklung

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Praxis: Bildung für nachhaltige Entwicklung Tatjana Seidensticker Im FREI DAY über sich hinauswachsen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) – dieser Grundsatz wird gerade wie die Statue einer goldenen Kuh auf die verstaubten Bildungsvorgaben in Niedersachsen und anderen Bundesländern aufgesetzt. Per Erlass (RdErl. d. MK v. 1.3.2021 – Az. 23.5 80009/ 1 – VORIS 22410) soll das Verständnis der Schüler*innen und vor allem der Lehrkräfte für ökologische, ökonomische, soziale, politische, kulturelle sowie ethische und religiöse Themen gefördert werden. Jede Schule muss eine Lehrkraft für BNE beauftragen. Die goldene Kuh ist wichtiger denn je – das wissen alle –, aber sie wird lieber bestaunt als geführt und gefüttert. Selbstwirksamkeit ist der Schlüssel zum eigenen Handeln Ich bin der Ansicht, dass Kinder längst ein Bewusstsein für soziale und ökologische Probleme haben. Sie engagieren sich gern politisch und verfolgen ethische Ziele, wenn sie den Raum dafür haben. An der Grundschule Bredenbeck ist das Lernformat FREI DAY seit Jahren verankert. In einigen Jahrgängen arbeiten die Kinder immer freitags klassenübergreifend an selbst gewählten Projekten rund um die 17 Ziele für Nachhaltigkeit. Jeder Freitag beginnt mit einem Plenum, in dem jede Gruppe ihre Arbeit kurz präsentiert und Ziele für den heutigen Tag festlegt. Fragen und Tipps der anderen Schüler*innen bringen die Akteur*innen oft voran. So Wasser ist wertvoll: Julien Fischer, Mitarbeiter der UN, erforscht mit Kindern der Grundschule Bredenbeck die Bedeutung von Wasser in unserer Welt arbeiten einige Kinder an einem Vortrag über Eisbären, andere bauen Insektenhotels, Nistkästen oder entwickeln Konzepte, um Müll zu vermeiden und Strom zu sparen. Wieder eine andere Gruppe organisiert einen Spendenlauf, um mit dem Erlös ein ukrainisches Kinderheim zu unterstützen. Einige Viertklässler*innen haben mit einer Umfrage unter allen Schüler*innen festgestellt, dass viele Kinder mit dem Auto zur Schule gefahren werden. Daraufhin haben diese Kinder Holzwegweiser gebaut, um einen Fahrradweg zu beschildern – mit Erfolg: Der Fahrradständer ist voller geworden. Allein an dieser Aktion wird deutlich, dass Selbstwirksamkeit der Schlüssel zum eigenen Handeln ist. Sie ist der Motor für politisches Engagement. Die Kinder stehen den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft nicht machtlos gegenüber. Sie können den Krisen, die sie in sämtlichen Medien meist ungefiltert sehen, wenigstens ein Stück weit aktiv begegnen. Das eigene Tun bewirkt Veränderung. In die- Selbstwirksames Handeln: Die selbst gebauten Wegweiser füllen den Fahrradständer der Schule. Weniger Kinder werden mit dem Auto gebracht Tatjana Seidensticker leitet seit zehn Jahren die Grundschule Bredenbeck, eine kleine ländliche Schule in der südlichen Region Hannover. Die Schule ist Mitglied im Netzwerk Schule im Aufbruch und hat im Dezember 2023 für besonderes Engagement im Bereich BNE den Schulpreis youstartN gewonnen. sem Fall ist es der Gruppe gelungen, die gesamte Schülerschaft aufzuklären, ihr neue Wege aufzuzeigen und somit das Ziel „mehr Fahrradfahrer und weniger Autos“ zu erreichen. Unsere goldene Kuh ist lebendig, wird gestreichelt. Verschiedene Kompetenzen verzahnen sich im FREI DAY Ein weiteres Beispiel einer Gruppe von Jungen der Grundschule Bredenbeck zeigt, wie sehr sich verschiedene Kompetenzen im FREI DAY verzahnen. Lesen, Schreiben, Rechnen, religiöse, politische, ökologische, ökonomische und sportliche Fähigkeiten werden gefordert, wenn sich Kinder vornehmen, den Wald (Deister) von Bredenbeck zu retten. Große Kahlflächen im Wald, die durch Trockenheit und Borkenkäfer entstanden sind, haben die Silhouette des Deisters verändert und sind für die Menschen im Ort täglich sichtbar. Der Klimawandel ist zu einem Thema der Kinder in Bredenbeck geworden. Er betrifft sie. Die Kinder werden aktiv: Gespräche mit dem Förster vor Ort, Organisation eines Schulbasars, um die Kosten für 500 Bäume zu erwirtschaften, Termine koordinieren, Presseinformationen formulieren, sich über Pflanzbedingungen informieren, Bäume pflanzen – dabei lernen die Kinder 20 GS aktuell 166 • Mai 2024
Praxis: Bildung für nachhaltige Entwicklung lesen, schreiben, rechnen, recherchieren, planen, verhandeln, argumentieren und sich präsentieren. Die Lerninhalte kommen aus dem Herzen, gehen durch die Hand und bleiben im Kopf. Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten können sich einbringen oder wachsen über sich hinaus. Rollen und Aufgaben der Lehrkräfte verändern sich Die Aufgabe der Lehrkraft verändert sich am FREI DAY. Sie wird zum*zur Lernbegleiter*in, öffnet Türen und Räume. Sie benötigt allerdings auch ein hohes Maß an Toleranz. Der Unterricht bewegt sich weniger in den gewohnten Abläufen und Bahnen. Er ist nicht gut planbar, erfordert Flexibilität, weil die Kinder eigene Pläne haben. Zudem wird die Arbeit am FREI DAY nicht bewertet. Das schreckt zahlreiche Kolleg*innen ab, sich mit dem neuen Lernformat zu beschäftigen. Zeit, sich auf Neues einzustellen, bleibt im Schulalltag selten. Wer allerdings einmal dabei ist, der erkennt, wie viel größer und intensiver der Lernzuwachs der Kinder durch die intrinsische Motivation in den Projekten des FREI DAYs ist. Dieser wirkt sich auf alle Fächer aus. Im FREI DAY sind alle Fächer verzahnt. Eine Vernetzung von Fächern und Kompetenzen, aber auch von Schule und schulischem Umfeld sind im Schulleben verankert. Regional sind Betriebe und Eltern in die Projekte eingebunden. Überregional helfen die Kinder beispielsweise einem Kinderheim in der Ukraine. Oder sie machen auf sich aufmerksam. So haben Kinder aus Bredenbeck den youstartN-Preis 2023 der Stiftung Bildung im vergangenen Dezember in Berlin gewonnen. Es lohnt sich, gemeinsam für ein Ziel zu arbeiten Zahlreiche Projekte, die Kinder umsetzen wollen, kosten Geld, das weder der Schulträger noch die Landesregierung zur Verfügung hat. Schon in der Grundschule lernen die Kinder, dass es sich lohnt, für ein Ziel zu arbeiten – ein Ziel, das Geld kostet. So möchte eine Gruppe von Dritt- und Viertklässler*innen der Grundschule Bredenbeck aktuell einen neuen Schulgarten bauen. Die Schüler*innen wollen damit mehr Lebensraum für Bienen schaffen und allen Kindern der Schule zeigen, wann welche Frucht reift. Sie möchten erreichen, dass die Bredenbecker Obst und Gemüse saisonal und regional kaufen und essen. Darum hat die Gruppe mit einem Tischler und einer Gartenarchitektin des Ortes gesprochen, um die Pläne zu vertiefen. Schnell wurde klar: Selbst wenn die Arbeit der beiden Expert*innen ehrenamtlich ist, muss das Holz für Hochbeete erwirtschaftet werden. Darum haben die Kinder den Landwirt im Ort um Saatgut für Blühstreifen gebeten. Dieses haben die Kinder in bemalte Tüten abgepackt und sie in den Pausen, im Ort und im Umweltausschuss der Gemeinde verkauft. Zudem haben zwei Mädchen einen Spendenbrief an verschiedene Unternehmen geschrieben – einfach formuliert, aber wirkungsvoll. Das Holz konnte beschafft und große Hochbeete konnten gebaut werden. Dabei bekam die Gruppe Unterstützung von Eltern, ehemaligen Schüler*innen und natürlich dem Hausmeister. Die Erde hat ein Bauer von einem benachbarten Feld mit dem Trecker gebracht. Gleich nach Ostern sollen die gespendeten Bäume und Sträucher sowie das selbst vorgezogene Gemüse gepflanzt Vom Herz in die Hand und fest im Kopf verankert: Der Hochbeetebau motiviert, fordert und vernetzt Kompetenzen werden. Sie haben es geschafft. Die Kinder haben ihr Ziel erreicht – unter großer Anstrengung. Ob sie sich ebenso angestrengt hätten, wenn sie den Brief an die Spender als Aufsatz geschrieben hätten? Hätten sie die Kosten für die Hochbeete in Form einer Textaufgabe genauso motiviert errechnet? Ich bezweifele es. Um herauszufinden, ob die Kinder im FREI DAY besser lernen, begleitet eine Gruppe von Professor*innen der Medizinischen Hochschule Hannover nun mit einer Studie die Kinder der Grundschule Bredenbeck. Eine empirische Untersuchung der Vorteile von selbstbestimmtem und selbstwirksamem Lernen könnte die goldene Kuh lebendig machen. Die Bildungsvorgaben müssten angepasst und Kapazitäten für innovative Lehrkräfte und motivierte Kinder geschaffen werden. BNE darf keine Statue sein. Die goldene Kuh wird nur lebendig, wenn wir sie dazu bringen, zu fressen, sich zu bewegen und zu vermehren. Kinder haben mehr Fantasie als wir Erwachsenen. Also geben wir ihnen die Möglichkeit, ihre Ziele und ihre Zukunft zu gestalten. Stolz: Die Projektgruppe Schulgarten hat für den Bau der Hochbeete hart gearbeitet. Lesen, Schreiben, Rechnen, politische, ökologische und ethische Fähigkeiten verzahnen sich dabei Hier geht es zum Video vom FREI DAY GS aktuell 166 • Mai 2024 21
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