Sigrid Leuschner (Landtag) und Belgin Zaman - Kleeblatt

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Ohrenbetäubend Wir Deutschen sind ja ein eher ruhiges Völkchen. Wir schreien in der Öffentlichkeit nicht herum und wir tragen unsere Familienstreitigkeiten nicht auf offener Straße aus. Geschrien wird bei uns höchstens auf dem Marktplatz oder beim Fußball. Ansonsten sind wir leise und zurückhaltend. Im Wartezimmer beim Arzt ist es uns sogar unangenehm, wenn uns der Magen knurrt. Um so mehr wunderte es mich, als ich vor kurzem eine junge Mutter an der Kasse einer Drogerie vor mir hatte, die ein Gespräch mit ihrem circa dreijährigen Sohn führte – in einer Lautstärke, wie wir sie gerne den Südeuropäern zuschreiben. Der Sohn hieß Julian, das wussten alle Wartenden in der Schlange schon nach wenigen Sekunden. Julian wollte sich die Sachen vom Band angeln, die seine Mutter gerade darauf gelegt hatte. „Nein. Julian. Das müssen wir erst bezahlen. Siehst du? Da sitzt die Kassiererin und die scannt jetzt alles ein", schrie die junge Mutter, nicht ohne Stolz in ihrer Stimme, dem Sohn entgegen. Dabei sah sie aber nicht Julian an, sondern mich, die genau hinter ihr wartete. Ich versuchte ein Lächeln. Es wurde schief. Kurz darauf brabbelte Julian etwas von „bezahlen“. Seine Mutter stimmte daraufhin ein lautstarkes Singsang GLOSSE an: „Du willst bezahlen? Ach, da bin ich aber froh. Das wäre ja schön. Aber nur Erwachsene können bezahlen, weißt du? Kinder dürfen das erst, wenn sie schon größer sind. Das heißt geschäftsfähig.“ Es folgte ein weiterer in die Wartegemeinde gebrüllter Satz, als Julian eine Packung Damenbinden in die Einkaufstüte fallen ließ und diese vorher ausgiebig betrachtete. Diesen Satz werde ich hier aber nicht aufschreiben. Ich döste in der Zwischenzeit etwas von mich hin und fragte mich, ob Julian später einmal schwerhörig sein würde. In meiner Grundschulklasse gab es einen Jungen, der in Deutsch immer eine Sechs hatte. Seine Eltern behaupteten, er würde nur deshalb von Ferden, Heusern und Farädern schreiben, weil er schlecht hören könne. Vielleicht hatten sie ihn auch immer so angebrüllt? Meine Eltern vertraten die Meinung, dass der arme Junge nicht schlecht hören, sondern schlecht verstehen würde. Der Unterschied war mir damals natürlich noch nicht klar. Ich schrieb meine Sechsen in Mathematik und zwar aus reiner Begriffsstutzigkeit für dieses Fach und ohne Erklärungsversuche meiner Eltern. Ich hoffe sehr, dass Julians Mutter bald einmal heiser ist. ela KLEEBLATT · AUSGABE 12/2012 47
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