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Sigrid Leuschner (Landtag) und Belgin Zaman - Kleeblatt

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Der Weihnachtsesel<br />

Der kleine Esel hat die Eselschnute gestrichen voll. Jedes<br />

Jahr um diese Zeit ist es das gleiche Spiel: Er <strong>und</strong><br />

die anderen Holzfiguren der Weihnachtskrippe werden<br />

aus dem Keller des Kindergartens geholt <strong>und</strong> unter dem<br />

Weihnachtsbaum aufgebaut. Die Kinder aus der Kindergartengruppe<br />

lieben Weihnachten <strong>und</strong> in der Zeit<br />

vor dem 24. Dezember spielen sie auch mit ihm <strong>und</strong><br />

den anderen Holzfiguren des Krippenspiels. Welche<br />

das sind? Na, natürlich Maria <strong>und</strong> Josef, das kleine<br />

Jesuskind, der Ochse, die Schafe <strong>und</strong> die Heiligen<br />

Drei Könige.<br />

Die Heiligen Drei Könige; der kleine Esel schnaubt.<br />

Jedes Jahr bringen sie dem Jesuskind zu seiner<br />

Geburt Geschenke mit <strong>und</strong> jedes Jahr dieselben!<br />

Gold, Myrre <strong>und</strong> Weihrauch; den Geruch von Weihrauch<br />

kann der kleine Esel gar nicht leiden <strong>und</strong><br />

von Myrre muss er immer niesen. „Ich mache<br />

nicht mehr mit. Ich gehe woanders hin“, sagt<br />

der kleine Esel. „Das ganze Jahr stehen wir im<br />

Keller rum, nur zu Weihnachten spielen die Kinder<br />

mit uns. Und immer geht es nur um das Jesuskind.<br />

Ich habe keine Lust mehr.“ Der Ochse wirft dem Esel einen<br />

scharfen Blick zu. „Du gehst nirgendwo hin. Du bist ein Teil<br />

der Weihnachtsgeschichte, so wie wir alle. Guck doch, die<br />

Schafe haben sich auch noch nie beschwert.“<br />

Aber der kleine Esel ist stur, so wie es Esel nun einmal<br />

sind. „Niemand interessiert sich für mich. Wenn die Kinder<br />

zusammen die Weihnachtsgeschichte lesen, dann geht<br />

es immer nur um das Jesuskind. Es ist doch völlig egal,<br />

ob ich auch da bin. Mich beachtet niemand in dieser Geschichte.<br />

Ich werde zu den anderen Spielsachen gehen,<br />

zu den Kuscheltieren <strong>und</strong> den Plastik-Pferden. Mit denen<br />

spielen die Kinder das ganze Jahr lang“, sagt er.<br />

Die Schafe blöken wild durcheinander, sie sind aufgeregt,<br />

weil der kleine Esel gehen will. Aber sein Entschluss steht<br />

fest, er will ein richtiges Spielzeug sein, nicht nur eine Holzfigur<br />

aus dem Krippenspiel. „Aber denk doch nur an den<br />

Tag vor Weihnachten, wenn die Kinder gespannt zuhören,<br />

wenn die Erzieherinnen die Weihnachtsgeschichte vorlesen“,<br />

blöken die Schafe ihn an. „Danach spielen die Kinder<br />

mit uns doch die Geschichte nach. Wenn du fehlst, dann<br />

ist die Weihnachtsgeschichte nicht komplett.“<br />

Der kleine Esel hört sie schon gar nicht mehr, er ist auf<br />

dem Weg; quer durch den Raum zu den anderen Spielsachen.<br />

Es ist eine lange <strong>und</strong> anstrengende Reise für den<br />

kleinen Esel. Seine Holzbeine tragen ihn nicht so schnell,<br />

wie er es möchte. Endlich ist er in der Spielecke angekommen,<br />

in der die Kuscheltiere <strong>und</strong> Plastik-Pferde der<br />

Kindergartengruppe wohnen. Der kleine Esel ist glücklich;<br />

52 KLEEBLATT · AUSGABE 12/2012<br />

endlich ist er da, bei den richtigen Spielsachen, mit denen<br />

die Kinder das ganze Jahr über spielen.<br />

Schon entdeckt er ein rosafarbenes Plastik-Pferd mit langer<br />

Mähne. „Hallo!“, ruft der kleine Esel laut. „Ich bin der<br />

Esel aus dem Krippenspiel <strong>und</strong> werde ab sofort bei euch<br />

wohnen.“ Das rosafarbene Pferdchen blickt ihn skeptisch<br />

an: „Du? Aber du bist ja aus Holz! Und du bist eine Krippenfigur.<br />

Ich weiß nicht, ob du hier bei uns bleiben kannst.“<br />

Der kleine Esel ist verunsichert. Immer mehr Pferde, Kuscheltiere<br />

<strong>und</strong> Superhelden kommen aus ihren Verstecken<br />

<strong>und</strong> sehen ihn an. Sie tuscheln sogar. „Meinst du, er kann<br />

bei uns bleiben?“, „Er sieht ganz anders aus als wir“, „Er ist<br />

aus Holz. Wir sind aus Plastik. Das kann niemals gut gehen.“<br />

Dem kleinen Esel wird ganz schwindelig, so durcheinander<br />

reden die anderen Spielsachen.<br />

Aber dann meldet sich der alte Uhu zu Wort. Er hat eine<br />

Weile auf der Fensterbank gesessen <strong>und</strong> dem Treiben zugesehen.<br />

„Ruhe jetzt!“, sagt der Uhu <strong>und</strong> dabei leuchten<br />

seine gelben Augen in der Dunkelheit. „Der kleine Esel hat<br />

einen weiten Weg hinter sich. Natürlich kann er bei uns<br />

bleiben. Ob er nun aus Holz ist oder aus Plastik, das ist<br />

doch am Ende egal. Er ist ein Spielzeug, wie wir alle auch.“<br />

Die Pferde <strong>und</strong> Kuscheltiere wenden sich von dem kleinen<br />

Esel ab, es ist schon spät, sie möchten noch ein bisschen<br />

schlafen, bis ein neuer anstrengender Tag im Kindergarten<br />

beginnt.

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