Volltext (PDF) - Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
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lernen, uns den neuen Fragen zu stellen’.<br />
Frage: Ein anderes Muster, das man häufig findet,<br />
ist etwa folgendes: Wir treffen auf eine selbständige<br />
Frau, die auch heute noch ihre Frau steht, sie<br />
sieht in den neuen Verhältnissen ihre Chance, will<br />
es doch noch einmal wissen. Der Ausbruchsversuch<br />
wirkt auf die Familie explosiv, es geht schlicht auseinander,<br />
die Familie steht vor der Trennung. Ein<br />
Partner setzt eben seine Interessen durch ohne<br />
Rücksicht auf die anderen Familienmitgliedern;<br />
meist sind es dann die Kinder, die auffällig werden.<br />
Foertsch: Ja, die Kinder entwickeln dann Symptome,<br />
die versuchen, die Familie zusammenzuhalten.<br />
Sie werden auffällig, fangen an zu zündeln, werden<br />
kriminell, das ruft die Familie wieder an einen<br />
Tisch und dann müssen sie Kriegsrat halten, was sie<br />
mit dem mißratenen Sohn machen. Als Familientherapeuten<br />
sehen wir, daß solch ein Symptom –<br />
auffälliger Sohn – immer eine Funktion <strong>für</strong> die Familie<br />
hat.<br />
Wagner: Dies gilt besonders dann, wenn das Paar<br />
die Probleme nicht von sich aus angeht. Wenn es<br />
also untergründig schwelt und agiert wird, ohne daß<br />
es zu einer Lösung kommt. Denn andererseits kann<br />
ein glückliches Ende <strong>für</strong> eine Familie durchaus auch<br />
in einer Scheidung bestehen. Der Überzeugung bin<br />
ich mittlerweile doch. Wenn schwelende, ungute<br />
Verhältnisse aufbrechen und die Krise kommt, ist<br />
eben beides möglich: eine neue Balance oder das<br />
Ende der Familie.<br />
Frage: Kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück:<br />
Was ist gleich geblieben in der Familienkommunikation<br />
seit 1989, was hat sich verändert?<br />
Wagner: Was sich verändert hat? Die Riesenschlangen<br />
vor den Beate-Uhse-Läden!<br />
7.15 Die fehlende Sprache <strong>für</strong> Sexualität<br />
Die sog. sexuelle Revolution hat ja ihre beiden Seiten.<br />
Ich denke jetzt nicht nur an die Titelseiten in<br />
den Schmierenblättern, es kann durchaus durch die<br />
Liberalisierung gelingen, leichter über Sexualität zu<br />
sprechen. Ich erinnere mich an einen Klienten aus<br />
einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, der sagte,<br />
‘wenn meine Potenzstörungen dort bekannt werden,<br />
ist das schlimmer, als wenn ich ein Haus angezündet<br />
hätte; dann kann ich mein Heimatdorf verlassen.’<br />
Er kam extra zu uns in die Therapie nach<br />
53<br />
Berlin. Wenn heute freier über Sexualität gesprochen<br />
werden kann, kann dies zu einer Entlastung<br />
der Paare führen, es muß ja nicht immer hundertprozentig<br />
und optimal funktionieren.<br />
Frage: Wenn in Familiengesprächen die Sprache<br />
auf Sexualität kommt, reagieren die Gesprächspartner<br />
sehr unterschiedlich. Oft können die Frauen<br />
leichter darüber sprechen als die Männer. Auffallend<br />
jedoch ist es, daß es in Familien, in denen nicht die<br />
Erwachsenen, sondern die Jugendlichen Verhaltensauffälligkeiten<br />
zeigten, mit der Sexualität der Eltern<br />
nicht gestimmt hat. Die gestörte Sexualität hat offenbar<br />
Auswirkungen auf das gesamte Familiengefüge.<br />
Foertsch: Es ist klar, daß Sexualität in Paarbeziehungen<br />
die empfindlichste Stelle ist und auch die<br />
Stelle, an der ein Paar zuerst merkt, daß etwas nicht<br />
in Ordnung ist. Aber bis ein Paar dann in die Familientherapie<br />
kommt, ist oft schon ganz viel passiert,<br />
weil viele – das gilt <strong>für</strong> Ost wie <strong>für</strong> West gleichermaßen<br />
– keine Sprache <strong>für</strong> Sexualität gefunden haben.<br />
Mehr Offenheit über Sexualität entsteht ja in einem<br />
anderen Bereich: Dort, wo Sexualität als Ware gehandelt<br />
wird. Da redet man anders über Sexualität<br />
als in der Paarbeziehung, wo es eigentlich um Liebesworte<br />
geht. Aber die Sprache darüber findet sich<br />
nur in schöner Literatur, und wer liest die?<br />
Wenn jedoch keine Sprache da ist, wie will man<br />
dann darüber reden? Nehmen wir das Standardproblem:<br />
Der Mann will, die Frau verweigert sich, und<br />
der Mann weiß gar nicht warum und kann das auch<br />
nicht fragen. Oder umgekehrt kann die Frau nicht<br />
fragen, ‘warum willst Du immer und ich nicht?’<br />
Frage: Offenbar reden Paare gerade in solchen<br />
Krisensituationen nicht weiter. Man kann ungelöste<br />
sexuelle Konflikte ja kurzfristig hinnehmen, aber<br />
über längere Sicht muß Sexualität, also ein Kernbereich<br />
in Partnerbeziehungen, zu befriedigenden Lösungen<br />
führen.<br />
Foertsch: Wir machen da sehr erstaunliche Erfahrungen:<br />
Die Geduld der Menschen ist offenbar<br />
ganz, ganz lang.<br />
Wagner: Wir haben Paare getroffen, die waren<br />
seit Jahren zusammen und hatten noch niemals sexuelle<br />
Beziehungen. Oft ist es nicht nur eine Frage<br />
der sexuell-erotischen Begriffe, sondern der dahinter<br />
liegenden Beziehungsstörung. Die sexuellen<br />
Diskrepanzen sind ein Symptom <strong>für</strong> eine darunter