epd Dokumentation online - Der Deutsche Koordinierungsrat der ...
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Und doch nennt Rosenzweig den ganzen SE »ein<br />
System <strong>der</strong> Philosophie«! Müssen wir dies dann<br />
im genannten Sinn von Philosophie verstehen,<br />
nämlich so, dass im ganzen SE immer nur gezeigt<br />
wird, wie man es nicht machen soll, zu welch<br />
großen Irrtümern man gelangt, wenn man von<br />
einem kleinen falschen Anfang ausgeht? Dann<br />
wäre – um das Beispiel zu nennen, das die<br />
Grundfeste <strong>der</strong> Buber-Rosenzweig-Stiftung erschüttern<br />
würde – die berühmte systematische<br />
Parallelsetzung von Judentum und Christentum<br />
im dritten Teil des SE also nichts an<strong>der</strong>es als eine<br />
philosophische Verführung?<br />
Wir könnten uns retten, indem wir das Wort<br />
Philosophie in sich unterscheiden nach einer<br />
Philosophie, die das Faktum des Todes ignoriert<br />
und folglich »schlechte« Philosophie ist, und einer<br />
solchen, die dies nicht tut und wie in weiten Passagen<br />
des SE Rosenzweig selbst vom Faktum des<br />
Todes und damit von <strong>der</strong> Einmaligkeit des Denkenden<br />
selbst ausgeht und folglich »gute Philosophie«<br />
betreibt. Wenn dies mehr sein soll als eine<br />
bloße begriffliche Distinktion, dann hat diese<br />
Unterscheidung – bei aller sachlichen Berechtigung,<br />
die ihr zukommt – ihren eigentlichen<br />
Bestreiter in Rosenzweig selbst. Denn er teilt im<br />
Rückblick den SE nicht nach »guter« o<strong>der</strong><br />
»schlechter« Philosophie ein, son<strong>der</strong>n er fasst die<br />
gesamte Argumentation des SE vom ersten über<br />
den zweiten bis zum dritten und letzten Teil unter<br />
den einen umfassenden und nicht weiter differenzierenden<br />
Titel eines »Systems <strong>der</strong> Philosophie«.<br />
Folglich müssen wir uns die Anlage dieses Systems<br />
so denken, dass es als System – gewissermaßen<br />
in sich selbst – <strong>der</strong> Weg vom »Tod« zum<br />
»Leben« geht. Insofern es als System diesen Übergang<br />
markiert, ist es eben das, was Rosenzweig<br />
von ihm sagt: »bloß (!) ein System <strong>der</strong> Philosophie«.<br />
<strong>Der</strong> ganze SE kann nicht mehr als ein System<br />
<strong>der</strong> Philosophie, ein in die Form eines Systems<br />
gebrachtes Denken sein – genau als solches<br />
aber ist es die Überwindung <strong>der</strong> Systematizität<br />
des Denkens o<strong>der</strong> – wie Rosenzweig seine Charakterisierung<br />
des SE im Rückblick weiter ausführt<br />
– »seine, des Denkens, vollkommene Erneuerung«.<br />
6<br />
Wir müssen also den SE als System lesen, das im<br />
System selbst seine Selbstsuspension als System<br />
vorantreibt – um dorthin zu führen, wohin <strong>der</strong> SE<br />
eben führen will: »ins Leben«. Lesetechnisch formuliert:<br />
wir müssen den SE so lesen, dass wir<br />
dessen Systematik rekonstruieren und immer<br />
zugleich mitrekonstruieren, an welcher Stelle die<br />
<strong>epd</strong>-<strong>Dokumentation</strong> 10/2007 13<br />
Selbstauflösung <strong>der</strong> Systematik in diese Systematik<br />
bereits mit eingebaut ist. Denn – so meine<br />
These – Rosenzweig betreibt im SE laufend<br />
»déconstruction« <strong>der</strong> systematischen Philosophie<br />
avant la lettre.<br />
So gesehen bietet sich die Struktur eines sechseckigen<br />
Sterns vielleicht für die Beschreibung des<br />
formalen Aufbaus des SE an, nicht aber für die<br />
Logik des argumentativen Vorgehens in diesem<br />
Buch. Denn durch dieses Bild kann man das Potential<br />
<strong>der</strong> Selbstauflösung, das in <strong>der</strong> Systematik<br />
des SE steckt, nicht einfangen. Besser gefällt mir<br />
persönlich deshalb ein an<strong>der</strong>es Bild, das Norbert<br />
Samuelson einmal in einer öffentlichen Aussprache<br />
über ein Referat vorgebracht hat: das Bild<br />
einer Welle, genauer das Bild von drei Wellen.<br />
Sie haben so viel Wucht, dass sie vornüber kippen<br />
und sich selbst dadurch sukzessive in die<br />
eigene Fortbewegung hineinfallen und schließlich<br />
am Strand auslaufen. Diese auslaufenden Wellen<br />
sind dieselben, die draußen auf hoher See noch<br />
hoch aufgeschäumt hatten. Durch ihre eigene<br />
Wucht fallen sie wörtlich »in sich« zusammen<br />
und bauen sich dadurch selber ab – so wie die<br />
drei systematischen Türme, die Rosenzweig in<br />
jedem <strong>der</strong> drei Teile des SE aufbaut, in sich selbst<br />
das Potential zu ihrer Destruktion zur Verfügung<br />
stellen. Die eingeebneten Steine kontrastieren mit<br />
den vormals hohen Türmen so wie die flach auslaufenden<br />
Wellen mit den vorher hoch aufbrausenden<br />
draußen auf dem Meer. Genau dieser Weg<br />
hin zur »Vereinfachung« findet sich in <strong>der</strong> Geste,<br />
die Rosenzweig von seinen Leserinnen und Lesern<br />
mitvollzogen wissen will: in einem Anfall<br />
von Gigantomachie wirft er zunächst <strong>der</strong> »ganzen<br />
ehrwürdigen Gesellschaft <strong>der</strong> Philosophen von<br />
Jonien bis Jena ... den Handschuh hin« (SE 13) –<br />
und wird schlussendlich doch ganz schlicht und<br />
einfach, sofern er dem Rat von Micha 6,8 folgt:<br />
»Recht tun und von Herzen gut sein« (SE 471)<br />
und »einfältig wandeln mit deinem Gott« (SE<br />
471).<br />
Mein Lektürevorschlag lautet also: den SE als<br />
»System <strong>der</strong> Philosophie« so lesen, dass dabei<br />
klar wird, wie dieses System zur Selbstauflösung<br />
aller denkerischen Systematik führt. Dafür gibt<br />
Rosenzweig in jedem <strong>der</strong> drei Teile, aus denen<br />
<strong>der</strong> SE besteht, gleich am Anfang jeweils einen<br />
kleinen Hinweis. Das erste Buch ist geschrieben<br />
»in philosophos«, das zweite »in theologos« und<br />
das dritte »in tyrannos«. Das lateinische »in«<br />
meint hier jeweils »gegen«. Im Folgenden gehe<br />
ich alle drei Bücher durch und versuche, diese<br />
selbstauflösende Systematik in <strong>der</strong> Argumentation<br />
des SE jeweils herauszuarbeiten. Ich gehe dabei