April 2009 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde Wien
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„Mama, wir werden<br />
zusammen sterben“<br />
Frauen im Holocaust: selbst verfolgt,<br />
hat ten sie sich auch um die Kinder und<br />
die ältere Generation zu kümmern. Sie<br />
entwickelten dabei unglaubliche Kräfte –<br />
und wurden dennoch über Jahrzehnte in<br />
der historischen Bewertung vernachlässigt.<br />
Seit 15 Jahren widmen sich His to -<br />
rikerinnen aus Yad Vashem verstärkt der<br />
Situation jüdischer Frauen im NS-Terror -<br />
regime. Im Nestroyhof in <strong>Wien</strong> ist nun<br />
die von Yehudit Inbar kuratierte Schau<br />
„Lichtflecke. Frau sein im Holocaust“ zu<br />
sehen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Es sind teils erschütternde Briefe und<br />
Tagebucheinträge in denen Yehudit In -<br />
bar verfolgte Frauen zu Wort kommen<br />
lässt. Und dann wieder dokumentieren<br />
Notizen oder Erinnerungen Überlebender,<br />
wie Frauen in der für sie<br />
selbst bedrohlichen Situation versuchten,<br />
für ihre Familie den Alltag<br />
so normal <strong>als</strong> möglich zu gestalten, für<br />
menschlichkeit zu sorgen. Im Theater<br />
Nestroyhof Hamakom geben derzeit<br />
auf Leinwände projizierte Texte, Fo tos<br />
und Abbildungen handschriftlicher<br />
Aufzeichnungen einen Eindruck darüber,<br />
wie Frauen bis zum Tod versuchten,<br />
das Leben lebbar zu gestalten.<br />
Inbar hat dazu Dokumente von und<br />
über 60 Frauen herangezogen und sie<br />
den Themenblöcken Weiblichkeit, Es -<br />
sen, Freundschaft, Glaube, mutterschaft,<br />
Liebe, Kreativität, Für andere<br />
sorgen, Partisanen und Untergrund<br />
zu geordnet. Die projizierten Texte<br />
wechseln einander ab, man kann<br />
lange in den Kellerräumlichkeiten des<br />
Nestroyhofs verweilen, um all die Ge -<br />
schichten in sich aufzunehmen.<br />
mancher Besucherin stehen Tränen in<br />
den Augen. „Mama, wir werden zusammen<br />
sterben“, flüsterte der siebenjährige<br />
michál seiner mutter Genia zu und<br />
um armte sie, ist da etwa zu lesen.<br />
Genia Judzki und ihr Sohn wurden<br />
nach Jahren im Ghetto Sosnowiec 1944<br />
nach Auschwitz deportiert und er -<br />
mordet.<br />
60 Frauen treten in dieser Ausstellung<br />
in Kontakt mit dem Besucher. Aber<br />
was sind 60 Frauen im Vergleich zu<br />
den millionen Ermordeten? Yehudit<br />
Inbar bedauert im Gespräch mit „Die<br />
Gemeinde“, dass sie die Ausstellung<br />
KULTUR<br />
nicht <strong>als</strong> Glaskastenschau konzipieren<br />
konnte. Sie hatte dazu schlicht kein<br />
material. „Drei Millionen Frauen sind ge -<br />
storben – und nichts ist übrig geblieben.“<br />
Texte, ein paar Fotos – aber keine Ob -<br />
jekte. Und auch die wenigen Notizen,<br />
Briefe, Aufzeichnungen wurden von<br />
den Historikerinnen aus verschiedensten<br />
Archiven mühsam zusammengetragen.<br />
Inbar hat für die Ausstellung übrigens<br />
nahezu ausschließlich Fotografien be -<br />
nutzt, die nicht von den Nazis ge macht<br />
wurden, die aber vor allem nicht die<br />
Vernichtung zeigen. Frauen im Ghet to,<br />
die sich für einen Spaziergang hübsch<br />
gemacht haben, Porträtaufnahmen<br />
aus der Zeit vor dem Holocaust oder<br />
knapp nach 1945 bieten einen Blick<br />
auf fröhliche Frauen, lebenslustige<br />
Frauen. Es ist dieser menschliche Blick,<br />
der die menschen von heute eine Ver -<br />
bindung zu den Opfern von dam<strong>als</strong><br />
aufbauen lässt – eine Heran ge hens -<br />
wei se an das Thema Holo caust, die<br />
die Visualisierung des Grauens vermeidet<br />
und den Besucher dennoch<br />
schaudernd zurücklässt.<br />
Yehudit Inbar<br />
In Israel habe die Ausstellung von Yad<br />
Vashem in Jerusalem bei vielen Kin -<br />
dern von Überlebenden dazu geführt,<br />
dass diese sagten, „das ist das erste Mal,<br />
dass wir sehen, wie tapfer unsere Mutter<br />
eigentlich war“, erzählt Inbar. Zuvor<br />
war in den Familien häufig nicht viel<br />
über die Verfolgungsgeschichte ge -<br />
spro chen worden, man schämte sich<br />
teilweise sogar, dass die mutter in<br />
einem KZ gewesen war.<br />
Bereits zu sehen war die Schau auch in<br />
Dresden, mit großem Erfolg: 16.000 Be -<br />
sucher in drei monaten, so die Bilanz,<br />
mehrheitlich nichtjüdischer Herkunft.<br />
Dabei sei besonders gut angekommen,<br />
„nicht wieder eine Holocaust-Aus stel lung<br />
mit dem Blick auf die Gas kam mern zu zeigen“,<br />
so die Kuratorin. mit persönli -<br />
chen Geschichten sei die Ju gend von<br />
heute besser zu erreichen <strong>als</strong> mit Bil -<br />
dern des Grauens. Sie hofft, dass in<br />
<strong>Wien</strong> vor allem viele Schulklassen die<br />
Schau besuchen.<br />
Neben den projizierten Texten und<br />
Fotos erwartet den Besuchern auch<br />
die Videoarbeit „mensch Sein“ von<br />
Michal Rover. „Jede von euch erlebte dieses<br />
historische Ereignis, das <strong>als</strong> Holo caust be -<br />
kannt ist: jenes Ereignis, das man nur<br />
schwer fassen kann“, wird die Künst le -<br />
rin in dem Begleitheft zur Schau zi tiert.<br />
„Auch wenn es noch so viele Orte wie Yad<br />
Vashem gäbe, die sich der Sammlung, Do -<br />
kumentation, Erhaltung und Darstel lung<br />
von Zeugenaussagen und Materialien wid -<br />
men, können diese niem<strong>als</strong> all die Leben<br />
und Lebensabschnitte, die existierten und<br />
ausgelöscht wurden, erfassen, ebensowenig<br />
die damit verbundenen Prozesse und<br />
Gefühle. Während dieses langen Mo ments<br />
des Realitätsbruchs war jede von euch eine<br />
Welt für sich.“<br />
Und, so Rover weiter: „Ich begegne euch<br />
mit Respekt und Ehrfurcht. Mein Wunsch<br />
ist, mich auf eure innere Kraft zu beziehen<br />
und nicht auf das, was euch angetan<br />
wur de; auf eure Handlungsfähigkeit an<br />
einem bestimmten Zeitpunkt, auf eure Ent -<br />
scheidungen. Ich möchte euren eigenen Ge -<br />
danken, Sinn oder besonderen Blick win kel<br />
finden, der euch in dieser Realität half.“<br />
Welche Kraft schon junge Frauen entwickeln<br />
konnten, zeigt die Lyrik von<br />
Selma Meerbaum-Eisinger, die im<br />
Dezember 1942 18-jährig im Zwangsar<br />
beiterlager michailowska an Ty phus<br />
starb. Am 7. Juli 1941 hatte sie in ihr<br />
kleines Büchlein geschrieben:<br />
„Ich möchte leben.<br />
Ich möchte lachen und Lasten heben<br />
und möchte kämpfen und lieben und hassen<br />
und möchte den Himmel mit Händen fassen<br />
und möchte frei sein und amten und schrein:<br />
Ich will nicht sterben. Nein!<br />
Nein …“<br />
meerbaum-Eisinger war die Cousine<br />
des Lyrikers Paul Celan. „Hätte sie über -<br />
lebt, sie wäre womöglich eine noch größere<br />
Dichterin geworden <strong>als</strong> es Celan war“,<br />
sagt Inbar, die es traurig stimmt, wie<br />
wenig Wertschätzung der Leistung<br />
jü discher Frauen im Holocaust über<br />
Jahrzehnte auch von der Geschichts -<br />
wis senschaft entgegengebracht wur de.<br />
mit „Lichtflecke. Frau sein im Holo caust“<br />
rückt sie nun über sechs Jahr zehnte<br />
nach Ende des Grauens die weib liche<br />
Perspektive in den mittel punkt.<br />
„Lichtflecke. Frau sein im Holocaust“<br />
Multimedia Ausstellung der YAD VASHEM<br />
Gedenkstätte für Holocaust, Jerusalem.<br />
Bis 31. Mai <strong>2009</strong> im Theater Nes troy hof<br />
Ha ma kom (Nestroyplatz 1, 1020 <strong>Wien</strong>),<br />
Sonntag bis Freitag, 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr<br />
<strong>April</strong> <strong>2009</strong> - Nissan/Ijar 5769 45