Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe ... - WZB

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19 Wissen, das die normalen Alltagsbezüge ermöglicht, keiner be sonderen Rechtfertigungserwartung unterliegt. Das heißt, das im Alltag fraglos Gegebene wird von den Handelnden angenommen, ohne daß geprüft wird, ob es "stimmt"; aber zugleich wird ange nommen, daß es jederzeit nachprüfbar wäre. Dadurch entsteht subjektiv die Überzeugung, daß das fraglos Gegebene zugleich das Richtige ist und daß derjenige auch rational handelt, der sich am fraglos Gegebenen orientiert. Soeffner schreibt: "Die Routinisierung des Alltagswissens und Alltagshandelns beruht auf der Inexplizitheit, auf der Prämisse, daß nicht alles gesagt oder gefragt werden muß. Man setzt tacit knowledge voraus, das heißt, daß man etwas weiß, ohne daß man sagen muß oder sagen könnte, was man weiß: Alltagswissen ist inexplizit, weil es in einer Welt der Selbstverständlichkeiten untergebracht ist. Diese Welt der Selbstverständlichkeiten funktioniert paradoxerweise nur auf der Basis der Unterstellung, alles sei ausdrückbar, falls die Forderung danach gestellt werde" (1989:19). Das Phänomen Gesundheit hat zwei Eigenschaften, die zu Schütz' Theorem der sozialen Tatbestände des Alltags passen. Erstens ist Gesundheit ganzheitlich als Zustand gegeben; zweitens wird sie fraglos hingenommen und folgt den Idealitäten des "Immer iWieder" und "Und So Weiter". Mit anderen Worten: Gesundheit hat "man, solange man an sie nicht denkt. Im Alltag handeln die Akteure - als Gesunde -, ohne sich zu jedem Zeitpunkt bewußt zu halten, daß sie gesund sind und andere, mit denen sie umgehen, ebenfalls dafür halten. Sie halten sich auch nicht beständig bewußt, daß sie es bleiben wollen und daß sie anderen nichts antun möchten, das diesen verunmöglicht, es bleiben zu können. Natürlich setzen sie dieselbe Orientierung bei anderen fraglos voraus, so daß Reziprozität der Perspektiven besteht. Die theoretische Gestalt der Gesundheit bedeutet für die Medizin soziologie, daß sie folgendes vergegenwärtigen sollte: "Handlungs- und gesellschaftstheoretisch bedeutet die Selbstverständlichkeit, daß Gesundheit im Alltag vorausgesetzt wird, daß man nur Krankheit explizit wahrnimmt. Man hat Gesundheit, so kann man sagen, immer dann, wenn ihr Fehlen nicht auffällt oder andere Alltagspraktiken nicht stört. Sie t r i t t erst ins Aufmerksamkeitsfeld, wenn sie brüchig wird oder in Krankheit umgeschlagen ist. Dann wird retrospektiv ein Zustand des Gewesenen als Gesundheit thematisch, der aber wiederherzustellen ist oder möglichst sein sollte. Soziologisch hat Gesundheit eine ähnliche Konstitution wie Raum und Zeit: man
20 erfaßt sie metrisch nach kulturellen Konventionen, alltagspraktisch ist sie ganzheitlich gegeben" (Gerhardt 1993b:84). Die Eigenschaft, ganzheitlich gegeben zu sein und fraglos im Alltag vorausgesetzt zu werden, hat die Gesundheit mit anderen Phänomenen gemeinsam. Beispielsweise sind im Alltag die "Kollektivgüter" Luft oder Wasser, Rechtssicherheit oder ehe liches Sich-Verstehen fraglos gegeben. Damit ist gesagt, daß erst ihre Beschaffenheit beim Zustand des Nicht-mehr-Vor- herrschens, d.h. zum Beispiel bei verunreinigter Luft oder ver schmutztem Wasser, fehlender Rechtssicherheit oder verlorenem ehelichen Einvernehmen dazu veranlaßt, überhaupt das Gut als ein - nunmehr per Verlustzustand - reales Phänomen wahrzu nehmen. Das Gut wird thematisch via neaationis. nämlich indem sein Fehlen oder Verschwinden darauf aufmerksam macht, daß es einmal vorhanden war und überhaupt nicht fehlen sollte. Gesund heit, so kann man soziologisch folgern, wird als Wert der Hand lungsorientierung erst virulent, wenn sie nicht mehr vorhanden bzw. nicht mehr fraglos gegeben ist. Dieser Gesundheitsbegriff, dessen Wirklichkeitsverständnis soziologisch im Einklang mit den handlungstheoretischen Konzep tionen Max Webers und Alfred Schütz' steht, legt nahe, die soziologischen Überlegungen zu Public Health, das als neue Gesundheitswissenschaft gilt, zu überdenken. Dies wiederum regt an, die Frage nach der Funktion der Medizin aus soziologischer Perspektive noch einmal zu stellen. Public Health als Gesundheitswissenschaft Die jüngere Medizinsoziologie, die "Gesundheit für alle im Jahr 2 000" bejaht, sucht nach einer Neudefinition der Aufgaben der Medizin. Die neue Richtung, in die das Gesundheits-Krankheits- Denken drängt, heißt Public Health. Seit dem Ende der achtziger Jahre werden an deutschen Universitäten Ausbildungsprogramme in Epidemiologie, Gesundheitswissenschaften und Bevölkerungs medizin eingerichtet, um den neu definierten Bedarf nach Public Health durch Wissensvermittlung und Expertenqualifizierung zu befriedigen. 8
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