Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe ... - WZB
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Zwei Auffassungen <strong>der</strong> Medizin<br />
28<br />
Die Public-Health-Medizin vertritt eine nicht-klinische Vari<br />
ante des Krankheits-Gesundheits-Denkens. Entsprechend den Vor<br />
annahmen <strong>der</strong> schließenden Statistik sieht sie den Einzelfall<br />
als beliebig bzw. nicht aussagekräftig an. Dies entspricht <strong>der</strong><br />
Vorgabe, daß die Forschungsergebnisse für Bevölkerungen gelten,<br />
also Kollektive, wobei von dort aus auf Individuen rückge<br />
schlossert wird. Mervyn Süsser (1973) sieht das Spezifikum <strong>der</strong><br />
Epidemiologie darin, daß sie sich am ökologischen Modell <strong>der</strong><br />
Lebenszusammenhänge orientiert. Dies begründet er mit dem - im<br />
Sinne <strong>der</strong> klassisch-griechischen Tradition genuinen - hippokra-<br />
tischen Prinzip, daß die Umgebung für die Entstehung und Hei<br />
lung von Krankheiten bedeutsam ist. Vor diesem Hintergrund, so<br />
Süsser, sind die heute verwendeten Modelle des Verhältnisses<br />
von Träger und Immunität und des spezifischen Agens <strong>der</strong> Krank<br />
heitsverursachung Fortentwicklungen des hippokratischen Ge<br />
dankens .<br />
Die Logik <strong>der</strong> multivariaten Verursachung, so Süsser, erlaubt<br />
auch, komplexe Zusammenhänge <strong>der</strong> Krankheitsentstehung epidemio<br />
logisch zu erfassen. Aber man muß stets bedenken, welche<br />
Faktoren individuell und welche kollektiv bedeutsam sind. Da<br />
sie diese Unterscheidung nicht treffen, so Süsser, erliegen<br />
viele empirische Studien dem ökologischen Fehlschluß, d.h. <strong>der</strong><br />
Benutzung individuell erhobener Merkmale zur Beweisführung auf<br />
Bevölkerungsebene o<strong>der</strong> umgekehrt kollektiver Merkmale auf Indi-<br />
vidualebene. Letzteres geschieht beispielsweise bei <strong>der</strong> Be<br />
nutzung von Daten, die an <strong>der</strong> Gesamtheit beobachtbar sind - wie<br />
etwa Luftverschmutzung o<strong>der</strong> Arbeitszeitregelung -, zur<br />
Beweisführung auf <strong>der</strong> Ebene einzelner Bewohner o<strong>der</strong><br />
Erwerbstätiger. Verwechslungen bezüglich <strong>der</strong> Organisationsebene<br />
von Daten bezeichnet Süsser als aggregativen und als<br />
atomistischen Fehlschluß. Für den letzteren gibt er folgendes<br />
Beispiel: Bluthochdruck ist häufiger bei Schwarzen als bei<br />
Weißen in den USA, und es steht fest, daß bei Bluthochdruck oft<br />
koronare Herzkrankheit entsteht; aber daraus kann nicht<br />
gefolgert werden, daß koronare Herzkrankheit bei Schwarzen<br />
häufiger als bei Weißen wäre - was empirisch falsch ist. Denn