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3/05 - Akademie für Politische Bildung Tutzing

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Intellektuellen endlich die Vergangenheit<br />

aufarbeiten und „in Bekehrung<br />

gehen“. Um die Erinnerungsarbeit in<br />

Deutschland zu befördern, sei wohl<br />

auch weiterhin sehr viel Phantasie seitens<br />

der „Praktiker der politischen Pädagogik“<br />

gefragt: nicht nur von Politikern,<br />

sondern auch von Musikern,<br />

Künstlern, Lehrern.<br />

Dass Prozesse des Verdrängens von<br />

Erinnerungen in verschiedenen Gesellschaften<br />

und Zeiten ähnlich verlaufen,<br />

darauf wies Heinrich Oberreuter hin.<br />

So hätten 1955 in einer Umfrage 63,7<br />

Prozent der Bundesbürger der Aussage<br />

zugestimmt: „Der Nationalsozialismus<br />

war eine gute Idee, die nur<br />

schlecht umgesetzt wurde.“ Exakt genau<br />

so hoch sei zehn Jahre nach dem<br />

Fall der Mauer der Anteil der ehemaligen<br />

DDR-Bürger gewesen, die die<br />

These bejahten: „Der Kommunismus<br />

war eine gute Idee, die nur schlecht<br />

umgesetzt wurde.“<br />

Realitätsverlust<br />

Gerade vor diesem Hintergrund forderte<br />

Joachim Gauck einen „neuen Respekt<br />

vor der Würde des Faktums“. Um<br />

diesen Appell zu untermauern, zitierte<br />

Gauck wissenschaftliche Befragungen,<br />

wonach Menschen in post-totalitären<br />

Gesellschaften bis zu einem gewissen<br />

Grad unter Realitätsverlust litten. Mit<br />

harten Fakten konfrontiert, flüchteten<br />

sie sich meist in Allgemeinplätze oder<br />

Pauschalmeinungen der Art: „Krieg ist<br />

halt immer was Schlechtes“.<br />

„Paradoxerweise beschweigen nicht<br />

nur die Täter die Vergangenheit, sondern<br />

auch die überwiegende Mehrzahl<br />

der Opfer“, sagte Gauck. Hauptgrund<br />

da<strong>für</strong> sei wohl, dass viele Opfer ihre<br />

Kinder nicht in einem „Opferumfeld“<br />

aufziehen wollten. So sei beispielsweise<br />

belegt, dass gerade jüdische<br />

Opfer nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

häufiger vom Widerstand „mutiger<br />

Juden“ erzählten als vom Schicksal der<br />

<strong>Akademie</strong>-Report 3/20<strong>05</strong><br />

Opfer des NS-Regimes. Gauck: „Was<br />

entsteht, ist eine paradoxe Genossenschaft<br />

von Opfern und Tätern, in der<br />

die Redenden eine Minderheit darstellen.“<br />

Kontrovers diskutiert wurde in der<br />

Runde auch, wie sich die Deutschen<br />

ihrer eigenen Opferrolle erinnerten und<br />

wie dieser Teilaspekt der Erinnerungs-<br />

Mit einer Auswahl von Gedichten brachte<br />

Schriftsteller Reiner Kunze den Zuhörern<br />

den Umgang mit der Vergangenheit näher.<br />

kultur zu bewerten sei. „Die oft geäußerte<br />

Behauptung, es habe ein Redeverbot<br />

über die Vertreibung gegeben,<br />

ist einfach nicht akzeptabel“, argumentierte<br />

Vogel. Im Gegenteil: Der Bund<br />

der Vertriebenen sei sogar unter Adenauers<br />

Koalitionspartnern gewesen.<br />

Trotz dieses Faktums mahnte der<br />

„Es gibt nur ein Vermächtnis, das uns die<br />

Opfer hinterlassen haben. Und das ist:<br />

Nicht noch einmal, nie wieder!“<br />

Hans-Jochen Vogel<br />

Schriftsteller Kunze jedoch an, dass<br />

die „menschlichen Werte allen Opfern<br />

gleichermaßen zu Gute“ gehalten werden<br />

müssten. Er wolle genauso wenig<br />

eine „täuschende Brille“ auf andere<br />

Völker gerichtet wissen wie auf das<br />

deutsche. Erinnerung sei immer selektiv,<br />

führte Kunze aus. Das sei nicht das<br />

Problem. Kritisch zu beurteilen sei<br />

Erinnerungskultur allerdings dort, wo<br />

man sich gezielt selektiv erinnere.<br />

Die Erfolge der deutschen Erinnerungskultur<br />

hob dagegen während der<br />

gesamten Diskussion immer wieder der<br />

SPD-Politiker Vogel hervor. „Mir wurde<br />

in meiner Schulzeit noch eingebläut:<br />

Die Franzosen sind unsere Erbfeinde,<br />

und Krieg ist etwas Selbstverständliches.“<br />

Wer sich an diese Zeitumstände<br />

erinnere, dem würde sehr schnell bewusst,<br />

wie viel seither erreicht worden<br />

sei: durch den Auschwitz-<br />

Prozess beispielsweise oder<br />

das Tagebuch der Anne Frank,<br />

durch die Wehrmachtausstellung<br />

oder die historische<br />

Rede des damaligen Bundespräsidenten<br />

von Weizsäcker<br />

zum 40. Jahrestag des Kriegsendes<br />

am 8. Mai 1985.<br />

Zwar sei das Holocaust-<br />

Mahnmal umstritten gewesen.<br />

Aber zum einen könne ein<br />

solches Projekt wohl gar nicht<br />

ohne kontroverse Diskussionen<br />

realisiert werden. Vogel:<br />

„Und zweitens ist es doch bei<br />

weitem keine Selbstverständlichkeit,<br />

dass ein Volk in der<br />

unmittelbaren Nähe seines<br />

Parlaments statt einer Ruhmessäule<br />

ein Mahnmal an die<br />

dunkelsten Seiten seiner Geschichte<br />

aufstellt!“<br />

Doch wie viel Vergangenheit müssen<br />

junge Menschen in ihre Orientierung<br />

einbauen? „Welche Erfahrungen muss<br />

die Jugend selber machen, was kann<br />

sie von der Generation ihrer Großeltern<br />

lernen?“, fragte Oberreuter nach.<br />

„Sicher muss die junge Generation<br />

nach neuen Erfahrungen suchen“, bekräftigte<br />

Vogel. Hauptziel aller Erinnerungsarbeit<br />

müsse allerdings sein,<br />

der nachwachsenden Generation ein<br />

Gefühl da<strong>für</strong> zu vermitteln, wo es endet,<br />

wenn Grundwerte mit Füßen getreten<br />

werden. Wer Bilder von Auschwitz<br />

vor Augen habe, reagiere sensibler<br />

auf aktuelle Warnzeichen – und<br />

davon gebe es genug: von Gewalttaten<br />

gegen Ausländer bis hin zu nationalistischen<br />

Parolen im Sächsischen Landtag.<br />

„Es gibt nur ein Vermächtnis, das<br />

uns die Opfer hinterlassen haben“, sagte<br />

Vogel. „Und das ist: Nicht noch<br />

einmal, nie wieder!“ �<br />

Florian Töpfl<br />

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