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3/05 - Akademie für Politische Bildung Tutzing

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Willi Dressen, der ehemalige Chef der<br />

Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen<br />

zur Aufklärung von NS-<br />

Verbrechen in Ludwigsburg, berichtete<br />

über „die strafrechtliche Aufarbeitung<br />

der NS-Verbrechen seit 1945“.<br />

Schon 1955 seien alle Verbrechen mit<br />

Ausnahme von Mord, Totschlag und<br />

schwerer Körperverletzung verjährt<br />

gewesen. Nach der Übergabe der Justizrechte<br />

an die bundesdeutschen Gerichte<br />

und Staatsanwaltschaften durch<br />

Willi Dressen: im Angesicht ungesühnter<br />

Morde verstummen<br />

die Alliierten Anfang der 50er Jahre sei<br />

nur noch sehr wenig geschehen. Ein<br />

Beispiel: Von alliierten Gerichten zum<br />

Tode verurteilte ehemalige SS-Leute,<br />

Lehrer im Zivilberuf, die in der Sowjetunion<br />

ein ganzes Kinderheim ausgelöscht<br />

hatten, seien im Zuge der<br />

deutschen Wiederbewaffnung 1955<br />

begnadigt, wieder in den Schuldienst<br />

eingestellt und später normal pensioniert<br />

worden. Nur durch Zufall kam es<br />

1958 zum Ulmer Einsatzgruppenverfahren,<br />

als ein wegen möglicher NS-<br />

Gräueltaten entlassener Leiter eines<br />

bundesdeutschen Flüchtlingslagers<br />

gegen die Kündigung klagte. Viele<br />

Verbrechen von SD, SS, Polizei und<br />

Einsatzgruppen sind erst in der Folgezeit<br />

ans Licht gekommen. 1958 wurde<br />

deshalb die Zentrale Stelle in Ludwigsburg<br />

gegründet. Zunächst allerdings<br />

sah diese sich vielfach als „Nestbeschmutzer“<br />

diffamiert und kein Jurist<br />

wollte dort Dienst tun.<br />

Die ersten Vorermittlungen liefen ab<br />

1959. Viele Verfahren mussten wegen<br />

mangelnder Erfahrung der Staatsanwälte,<br />

personeller Unterbesetzung,<br />

<strong>Akademie</strong>-Report 3/20<strong>05</strong><br />

mangels ausländischer Zeugen oder<br />

aufgrund der Verjährung <strong>für</strong> Totschlagsdelikte<br />

eingestellt werden.<br />

Während die Gauck-Behörde zur Sicherstellung<br />

der Stasi-Unterlagen in<br />

Berlin in den 90er Jahren über 3000<br />

Mitarbeiter hatte, so Dressen, habe die<br />

NS-Aufklärungsbehörde in Ludwigsburg<br />

nie mehr als 130 Mitarbeiter gehabt.<br />

Auch die Justiz habe damals in<br />

Teilen versucht, den „Schild der Wehrmacht<br />

sauber zu halten“. Ermittlungen<br />

gegen beteiligte und nach 1945 wieder<br />

tätige Polizeibeamte gestalteten sich<br />

schwierig, da nur zugegeben wurde,<br />

was auch bewiesen werden konnte.<br />

Außerdem hätten sich viele auf den<br />

Befehlsnotstand berufen. So sei von<br />

allen Wachleuten des Vernichtungslagers<br />

Belzec nur einer verurteilt worden.<br />

In Wirklichkeit sei jedoch kein<br />

einziger Fall von Befehlsverweigerung<br />

mit tödlichen Folgen bekannt gewor-<br />

Regisseur Oliver Storz: „Die Sender<br />

erfüllen ihre <strong>Bildung</strong>saufgabe nicht<br />

mehr.“<br />

den, allenfalls wurde jemand zur Front<br />

abkommandiert oder beschimpft , häufig<br />

geschah aber überhaupt nichts. In<br />

den Euthanasieverfahren gegen Ärzte<br />

seien diese oft wegen entschuldbaren<br />

Irrtums über die Strafbarkeit ihres Handelns<br />

freigesprochen worden.<br />

Pro Mord nur zehn<br />

Minuten Haft<br />

Die Justizverbrechen des Volksgerichtshofs<br />

und der Sondergerichte blieben<br />

ungesühnt, da der Bundesgerichts-<br />

hof nur bei vorsätzlicher Rechtsbeugung<br />

durch die Richter von einer Strafbarkeit<br />

ausging. Erst 1995 nahm der<br />

BGH von dieser Rechtsprechung Abstand<br />

und bezeichnete sie als verfehlt.<br />

Der berüchtigte „Gestapo-Müller“ –<br />

Chef der Gestapo im Reichssicherheitshauptamt<br />

in Berlin – sei nie gefunden<br />

worden. Das Strafverfolgungsabkommen<br />

mit Frankreich sei auf<br />

Druck des FDP-Abgeordneten Achenbach,<br />

der in der NS-Zeit in der Pariser<br />

Botschaft tätig war, erst sehr spät ratifiziert<br />

worden. Oft sei die Beweislage<br />

sehr schwierig gewesen, da Unterlagen<br />

durch Bombenkrieg oder Beteiligte<br />

vernichtet worden waren oder weil<br />

überlebende Zeugen die Täter und Orte<br />

verwechselten, da sie in vielen Lagern<br />

waren und manchmal nur den Spitznamen<br />

der Mörder kannten.<br />

Die Gesamtzahl der Ermittlungen in<br />

NS-Strafsachen bezifferte Dressen auf<br />

106 000; aber nur 6 500 Täter seien<br />

verurteilt worden, davon 166 zu lebenslanger<br />

Haft. Rein statistisch habe<br />

es also pro Mord nur zehn Minuten<br />

Haft gegeben. Viel zu oft seien die Täter<br />

ungeschoren davon gekommen,<br />

aber das Ohr der Öffentlichkeit habe<br />

sich geschärft. Dressen zog das Fazit,<br />

dass man sich nicht erinnern könne,<br />

wenn man seine Geschichte nicht kenne<br />

und dass wir im Angesicht ungesühnter<br />

Morde verstummen müssten.<br />

Oliver Storz, Autor und Regisseur des<br />

preisgekrönten Fernsehfilms „Drei<br />

Tage im April“ sprach vor der Vorführung<br />

seines Films über „Beobachtungen<br />

eines Praktikers – Zeitgeschichte<br />

in Film und Fernsehen“. Wie kam er<br />

zu dieser Geschichte? Er habe zufällig<br />

in einer Fußnote davon gelesen,<br />

dass vier Eisenbahnwaggons mit KZ-<br />

Häftlingen kurz vor Kriegsende in einem<br />

kleinen Dorf in Süddeutschland<br />

wegen Maschinenschadens des Zuges<br />

abgehängt worden seien. Die Dorfbevölkerung<br />

habe nichts mit den sterbenden<br />

Häftlingen in den Waggons anzufangen<br />

gewusst. Alle Sender hätten die<br />

Verfilmung dieses Themas abgelehnt,<br />

weil man sich schlechte Quoten ausrechnete,<br />

so dass er es dem Theater angeboten<br />

habe. Dort sei das Stück zu<br />

einem Riesenerfolg geworden. Die Sache<br />

mit den zu erwartenden schlech-<br />

�<br />

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