II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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willkürlicher Reflexion sein soll. Insofern sich auch der Philosoph im Entwurf seines<br />
Beweisgangs von ihm leiten lassen muss, gewinnt der populäre Weg<br />
vorwissenschaftlicher Wahrheitsfindung eine grundlegende Bedeutung auch für die<br />
wissenschaftliche Philosophie: Das Populäre folgt dem wissenschaftlichen System als<br />
dessen lebenspraktische Anwendung nicht nur nach, sondern geht der<br />
wissenschaftlichen Philosophie auch voraus.<br />
Dieser Betonung des fundamentalen Charakters des natürlichen Wahrheitssinns und<br />
des populären Wegs liegt <strong>Fichtes</strong> lebensphilosophische Überzeugung zugrunde, dass<br />
die wissenschaftliche Philosophie als abstrakte Reflexionsform aus dem Leben<br />
hervorgeht und schließlich wieder in es hineinführt. Als sensus communis oder – wie<br />
Fichte sich ausdrückt – als ‚Vernunftinstinkt‘ bekundet sich die Vernunft in<br />
präreflexiver und gefühlshafter Form bereits in der Lebenswelt. Damit wird das<br />
vorwissenschaftliche Leben als Bereich der ursprünglichen Erfindung der Wahrheit<br />
durch den Vernunftinstinkt und die Sphäre der philosophischen Vernunftwissenschaft<br />
als Ort ihrer reflexiven Kritik und Rechtfertigung bestimmt. Die Vernunftwissenschaft<br />
dient somit lediglich zur Gewissheitssicherung ursprünglicher Wahrheit, die sich in<br />
intuitiver Form schon im Evidenzgefühl des natürlichen Wahrheitssinns mitteilt.<br />
Der natürliche Wahrheitssinn bildet zudem die anthropologische Voraussetzung, auf<br />
der die fichtesche Konzeption einer philosophischen Rhetorik aufbaut. Er ist das<br />
intuitive Organ der Empfänglichkeit für die Vernunft, die jeder philosophische Redner<br />
beim Hörer voraussetzen muss. Ohne die Sensibilität der Menschen für die Stimme<br />
der Vernunft wäre jede Anrede an sie sinnlos.<br />
An diesen natürlichen Wahrheitssinn nun … wendet der populäre Vortrag sich unmittelbar,<br />
ohne noch etwas anderes zu Hülfe zu ziehen; rein und einfach aussprechend die Wahrheit,<br />
und nichts, als die Wahrheit, wie sie in sich, keinesweges, wie sie dem Irrthume gegenüber,<br />
ist; und rechnet auf die freiwillige Beistimmung jenes Wahrheitssinnes (GA I, 9, 72).<br />
Mit dieser Theorie des natürlichen Wahrheitssinns nähert sich Fichte der bei Jacobi<br />
verarbeiteten Philosophie des common sense an und besitzt ein plausibles Konzept zur<br />
rhetorischen Vermittlung von Spekulation und Leben. 2323<br />
23<br />
23 Zum Einfluss von Thomas Reid, dem Hauptvertreter der schottischen Schule des commorc sense, auf Jacobi<br />
s.: G. Baum, Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F. H. Jacobis, Bonn 1969, 13 u. 42–49.