22.08.2013 Aufrufe

II. Fichtes öffentliche Lehre

II. Fichtes öffentliche Lehre

II. Fichtes öffentliche Lehre

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

86<br />

willkürlicher Reflexion sein soll. Insofern sich auch der Philosoph im Entwurf seines<br />

Beweisgangs von ihm leiten lassen muss, gewinnt der populäre Weg<br />

vorwissenschaftlicher Wahrheitsfindung eine grundlegende Bedeutung auch für die<br />

wissenschaftliche Philosophie: Das Populäre folgt dem wissenschaftlichen System als<br />

dessen lebenspraktische Anwendung nicht nur nach, sondern geht der<br />

wissenschaftlichen Philosophie auch voraus.<br />

Dieser Betonung des fundamentalen Charakters des natürlichen Wahrheitssinns und<br />

des populären Wegs liegt <strong>Fichtes</strong> lebensphilosophische Überzeugung zugrunde, dass<br />

die wissenschaftliche Philosophie als abstrakte Reflexionsform aus dem Leben<br />

hervorgeht und schließlich wieder in es hineinführt. Als sensus communis oder – wie<br />

Fichte sich ausdrückt – als ‚Vernunftinstinkt‘ bekundet sich die Vernunft in<br />

präreflexiver und gefühlshafter Form bereits in der Lebenswelt. Damit wird das<br />

vorwissenschaftliche Leben als Bereich der ursprünglichen Erfindung der Wahrheit<br />

durch den Vernunftinstinkt und die Sphäre der philosophischen Vernunftwissenschaft<br />

als Ort ihrer reflexiven Kritik und Rechtfertigung bestimmt. Die Vernunftwissenschaft<br />

dient somit lediglich zur Gewissheitssicherung ursprünglicher Wahrheit, die sich in<br />

intuitiver Form schon im Evidenzgefühl des natürlichen Wahrheitssinns mitteilt.<br />

Der natürliche Wahrheitssinn bildet zudem die anthropologische Voraussetzung, auf<br />

der die fichtesche Konzeption einer philosophischen Rhetorik aufbaut. Er ist das<br />

intuitive Organ der Empfänglichkeit für die Vernunft, die jeder philosophische Redner<br />

beim Hörer voraussetzen muss. Ohne die Sensibilität der Menschen für die Stimme<br />

der Vernunft wäre jede Anrede an sie sinnlos.<br />

An diesen natürlichen Wahrheitssinn nun … wendet der populäre Vortrag sich unmittelbar,<br />

ohne noch etwas anderes zu Hülfe zu ziehen; rein und einfach aussprechend die Wahrheit,<br />

und nichts, als die Wahrheit, wie sie in sich, keinesweges, wie sie dem Irrthume gegenüber,<br />

ist; und rechnet auf die freiwillige Beistimmung jenes Wahrheitssinnes (GA I, 9, 72).<br />

Mit dieser Theorie des natürlichen Wahrheitssinns nähert sich Fichte der bei Jacobi<br />

verarbeiteten Philosophie des common sense an und besitzt ein plausibles Konzept zur<br />

rhetorischen Vermittlung von Spekulation und Leben. 2323<br />

23<br />

23 Zum Einfluss von Thomas Reid, dem Hauptvertreter der schottischen Schule des commorc sense, auf Jacobi<br />

s.: G. Baum, Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F. H. Jacobis, Bonn 1969, 13 u. 42–49.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!