II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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(GA I, 8, 209) wird die jedem Subjekt zustehende Urteils- und Meinungsfreiheit<br />
lediglich formal verstanden. Die subjektive Form des „eigne(n) Begreifen(s) …, ist<br />
dem Zeitalter das höchste“ (GA I, 8, 257), der Aspekt des objektiven Wahrheitsgehalts<br />
der selbsterdachten Meinungen dagegen gleichgültig. Durch die formalistische und<br />
subjektivistische Reduktion ihrer Zentralbegriffe ‚Denkfreiheit‘, ‚Freiheit des Urteils<br />
der Gelehrten‘ und ‚Publizität‘ verliert die Aufklärung schließlich ihren positiven und<br />
humanen Sinn. Dass „jedermann schlechthin über alles urtheilen möge“ (ebd.), führt<br />
gerade nicht zu der von Kant noch erhofften allgemeinen Beförderung des<br />
<strong>öffentliche</strong>n Vernunftgebrauchs, sondern dazu, wie Fichte kritisiert, ohne „Richtung<br />
…, innerhalb des leeren Gebiets grundloser Meinungen herumzuschwärmen“ (GA I, 8,<br />
258).<br />
Die selbstdestruktive Tendenz der Aufklärung, deren radikale Kritik an jeder<br />
Autorität schließlich auch die „Vernunft selber zerstört“ (GA I, 8, 206), zeigt sich für<br />
Fichte auch im zeitgenössischen Literaturbetrieb. Die Gelehrtenrepublik wird, wie<br />
Fichte ironisch bemerkt, nur noch durch „die Kraft der Drucker=Presse“ (GA I, 8,<br />
260) zusammengehalten. Der wissenschaftliche Literaturbetrieb verwandelt sich zu<br />
einem Markt vielfältiger Meinungen, der durch einen stetig anschwellenden „Strom<br />
der Litteratur“ (ebd.) versucht, die Neugier des Leserpublikums zu befriedigen. In<br />
dieser unübersehbaren Flut der Veröffentlichungen relativieren die wissenschaftlichen<br />
Meinungen und Moden einander und „jede neue Welle wird die vorhergehende<br />
verdrängen“ (ebd.). Die unübersehbare Flut der Neuerscheinungen wird vom<br />
Leserpublikum wie ein narkotisches Mittel rezipiert und wiegt es „in süße<br />
Selbstvergessenheit“ (GA I, 8, 262), anstatt die Menschen zum Selbstdenken zu<br />
motivieren oder ihre Selbstbesinnung anzuregen.<br />
Fichte kritisiert damit schon in den Grundzügen von 1804/05 den Verfall der<br />
literarisch formierten bürgerlichen Öffentlichkeit. Der Übergang vom kritischen zum<br />
konsumierenden Leserpublikum führt zu einer Verselbstständigung des Lesens um<br />
seiner selbst willen und zur Entstehung des Typus des ‚reinen Lesers‘: der „lieset nun,<br />
sogar ohne alle Beziehung auf Kenntniß …, lediglich damit er lese, und lesend lebe“<br />
(GA I, 8, 263). Diese Verselbstständigung des literarischen Mediums lässt die von ihm<br />
transportierten Inhalte schließlich völlig beliebig und austauschbar werden und<br />
vernichtet so die Möglichkeit ernsthafter <strong>Lehre</strong> und Wissensvermittlung. Der<br />
philosophische Schriftsteller steht schließlich ohnmächtig einem konsumierenden und<br />
hedonistisch eingestellten Lesepublikum und seiner „völligen Un-<br />
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