II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
119<br />
in der Form der Begreiflichkeit und bewirkt gerade dadurch auf der anderen Seite die<br />
„absolute Trennung“ (GA I, 9, 96) des menschlichen Daseins vom Absoluten.<br />
In der Anweisung stellt Fichte wie wohl in keiner anderen Schrift neben der<br />
ungeheueren Produktivität auch die Destruktivität reflexiver Rationalität heraus. Als<br />
Grundgesetz des gegenständlichen Selbstbewusstseins wird die Reflexion im Lichte<br />
neutestamentlicher Leben-Tod-Symbolik geradezu als Todesprinzip geschildert. Jedes<br />
reflexive Wissen – so argumentiert Fichte – verlangt nämlich „das stehende und<br />
ruhende Seyn und Vorhandenseyn“ (GA I, 9, 97) dessen, was es begreifen will.<br />
Deshalb bewirkt der Begriff die „Verwandlung des unmittelbaren Lebens in ein<br />
stehendes und todtes Seyn“ (ebd.). Aus der reflexiven Zerspaltung des dem<br />
menschlichen Bewusstsein zugrunde liegenden Absoluten geht die Welt des Wissens<br />
hervor, und die Genesis des menschlichen Gegenstandsbewusstseins setzt geradezu<br />
den Tod des Absoluten voraus.<br />
Dieser inneren Tendenz des menschlichen Selbstbewusstseins zur<br />
Vergegenständlichung des absoluten Seins in einen „todten Begriff“ (GA I, 9, 57)<br />
verfallen nach Fichte auch die „Philosophen, fast ohne Ausnahme“ (ebd.). Ähnlich<br />
wie später Heidegger sieht schon Fichte in der abendländischen Metaphysikgeschichte<br />
eine Verfallsgeschichte, in der die vergegenständlichende Grundtendenz zu einer<br />
‚Ontologie der Vorhandenheit‘ vorherrscht. Das Verfehlen der ontologisch<br />
ursprünglichen Grundaufgabe, das „Seyn – als Seyn“ (GA I, 9, 87) zu denken, wird<br />
bei Fichte aber nicht seinsgeschichtlich, sondern transzendentalkritisch durch das<br />
Reflexionsprinzip erklärt. In der metaphorischen Rede der Anweisung heißt das:<br />
„Nicht im Seyn, an und für sich, liegt der Tod; sondern im ertödtenden Blicke des<br />
todten Beschauers“ (GA I, 9, 57).<br />
Insgesamt hat die kritische Ontologie der Anweisung ein zwiespältiges Resultat:<br />
Auf der einen Seite macht die Reflexion als Spaltungsprinzip den Hervorgang der<br />
Vielfalt der menschlichen Bewusstseinswelt aus der Einheit des göttlichen Seins<br />
begreiflich, auf der anderen Seite erklärt sie aber auch, warum innerhalb der<br />
Wissensform unseres gegenständlichen Selbstbewusstseins das Absolute notwendig<br />
unbegreiflich bleiben muss. Wesentlich ausführlicher und schärfer als in den<br />
Grundzügen hat Fichte damit in seiner Religionslehre die ‚begreifliche<br />
Unbegreiflichkeit‘ des Absoluten als Grundfigur seiner transzendentalkritischen<br />
Ontologie herausgearbeitet. 5 Die Anweisung gibt<br />
{{ Seite 119 }}<br />
5 Zu Gedankenfiguren der Selbstrelativierung des reflexiven Wissens bei Fichte und Schelling s.: L. Hühn,<br />
Fichte und Schelling oder: Über die Grenze menschlichen Wissens, Stuttgart 1994, insb. 107–141.