II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
17<br />
lassen oder eingeebnet werden. Aber ihre Differenz wird nicht mehr von dem<br />
Gegensatz ‚Arhetorizität versus Rhetorizität‘ bestimmt, sondern von zwei<br />
gegensätzlichen Denkstilen, die die Rhetorik der Metaphysik von der der Sophistik<br />
unterscheiden.<br />
Historisch wie systematisch ist die Sophistik eine Reaktion auf diese<br />
Herausforderung durch die Metaphysik. Die spekulative Vernunft, die im Lehrgedicht<br />
des Parmenides beginnt, ihren wirkungsgeschichtlichen Herrschaftsanspruch zu<br />
verkünden, provoziert die Herausbildung einer Rationalitätsform, die die<br />
Alltäglichkeit gegen ihre paradoxale Wahrheit zu verteidigen sucht. Unter Verzicht<br />
auf transzendente Maßstäbe versucht sie, die permanente doxale Krise der<br />
menschlichen Lebenswelt immanent zu meistern. So tritt gegen die Frühform der<br />
metaphysischen Vernunft die Gegenform der sophistischen Rationalität auf, die sich<br />
in <strong>Lehre</strong>rgestalten wie Protagoras und Gorgias manifestiert.<br />
Im Unterschied zur ‚starken‘ Anthropologie der Metaphysik, die den Menschen als<br />
einsichtsfähiges Vernunftwesen entdeckt, vertritt die Sophistik eine ‚schwache‘<br />
Anthropologie, die im Menschen ein kurzsichtiges Meinungswesen sieht, das die<br />
wechselnden, situativen Ansichten der gewöhnlichen Lebenswelt gerade nicht zu<br />
übersteigen vermag. Durch ihre deszendente Rede neutralisiert die Sophistik die<br />
aszendente Rede der frühen Metaphysik und holt den Menschen aus dem Himmel des<br />
eleatischen Seinsdenkens radikal auf den Boden der Normalität zurück. So vertritt<br />
Protagoras gegen alle scheinbar uneinlösbaren theologischen und metaphysischen<br />
Wissensansprüche den vernunftkritischen Standpunkt:<br />
Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen … weder daß sie sind, noch<br />
daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen …<br />
hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und daß das Leben des Menschen kurz ist (Frag. B 4).<br />
Auch der berühmte homo-mensura-Satz des Protagoras – „Aller Dinge Maß ist der<br />
Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind.<br />
– Sein ist gleich jemandem Erscheinen“ (Frag. B 1) – darf deshalb nicht nur als<br />
Ausdruck eines hybriden Subjektivismus und Relativismus gelesen werden. Er ist<br />
auch Ausdruck des typisch sophistischen Realismus, der sich im Gegenzug gegen die<br />
ontotheologische Geistwelt der eleatischen Seinsdenker in der gewöhnlichen Existenz<br />
des Menschen etabliert. Aus der Perspektive eines ganz der täuschungsträchtigen<br />
sinnlichen Wahrnehmung und kurzen Lebenszeit unterworfenen Daseins muss jede<br />
Aussicht auf absolute Transzendenz versperrt bleiben.<br />
{{ Seite 17 }}