II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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und Materialismus soll trotz des erforderlichen radikalen Umdenkens, was einen<br />
Verzicht auf hedonistischen Selbstgenuss verlangt, dennoch kein lebensfeindlicher<br />
und realitätsferner Kollektivismus folgen. Dies geht aus dem von Fichte in den<br />
Grundzügen entworfenen geschichtlichen Idealismus hervor, der das neue<br />
Gemeinschaftsdenken gedanklich trägt und eine der bemerkenswertesten Konzepte<br />
seiner Geschichtslehre darstellt.<br />
Die Ideen besitzen demnach ihre eigentliche Existenz und objektive Realität nicht in<br />
einem jenseitigen mundus intelligibilis, sondern in der diesseitigen Welt der<br />
menschheitlichen Realgeschichte mit ihren vielfältigen Kulturen und Lebensformen.<br />
Die Vernunft wird hier unmittelbar mit dem geschichtlichen Leben der Menschheit<br />
verknüpft. „Das Leben der Gattung aber ist ausgedrückt in den Ideen“ (GA I, 8, 221).<br />
Damit erklärt sich das ‚Opfer‘ der eigenen Individualität als vernünftiger Beitrag zum<br />
Gesamtleben der Menschheit; „sein Leben an die Gattung setzen, läßt daher sich auch<br />
also ausdrücken: sein Leben an die Ideen setzen“ (ebd.). Die selbstvergessene<br />
Hinwendung auf das Objektive lebensgestaltender Ideen soll die egoistische<br />
Selbstbezüglichkeit und Isolation moderner Individualität aufsprengen und zur<br />
sittlichen Haltung der Selbstlosigkeit führen. Die Zuwendung zur Vernunft bedeutet<br />
für Fichte hier zugleich eine moralische Umkehr. Demnach „besteht das<br />
Vernunftmäßige, und darum rechte gute, und wahrhaftige Leben darin, daß man sich<br />
selbst in den Ideen vergesse(n)“ (ebd.) kann.<br />
Der von Fichte vorgeschlagene neue Idealismus zielt gerade nicht auf eine weitere<br />
Vertiefung theoretischer Vereinsamung, sondern auf moralische Erneuerung, durch<br />
die das Individuum sich wieder in das sittliche Gesamtleben der menschlichen<br />
Gemeinschaft reintegriert. Das auf den ersten Blick Paradoxe des geschichtlichen<br />
Idealismus der Grundzüge besteht darin, das sie keinerlei Aufforderung zur<br />
‚Weltflucht‘ enthalten: die Zuwendung zur Idealität der Vernunft soll zugleich eine<br />
verstärkte Zukehr zur Realität der Geschichte enthalten. <strong>Fichtes</strong> Geschichtslehre gibt<br />
damit den Ideen ihren ursprünglich praktischen Sinn zurück. Ideen bilden demnach<br />
kein transzendentes Sein einer theoretischen ‚Hinterwelt‘, sondern stellen für den<br />
Menschen ein zukunftsweisendes Soll dar, das zu einer praktischen Umgestaltung der<br />
Realgeschichte auffordert und somit ein „die Materie belebender Gedanke“ (GA I, 8,<br />
235) ist. Als überindividuelle Prinzipien des menschheitlichen Gesamtlebens sind<br />
nach Fichte die schöpferischen Ideen die eigentlichen Produzenten der großen<br />
Epochen der Weltgeschichte.<br />
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