II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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„vollendetste Eklectizismus“ (ebd.) erscheinen. Aufgrund ihrer ungewöhnlichen und<br />
manchmal verwirrenden, stilistischen wie thematischen „Aspektfülle“ 3 kann die<br />
Anweisung auch heute noch leicht als eklektizistisches Konglomerat verkannt werden.<br />
Der Parallelismus von systematischer Argumentation und bildhafter Rede, die<br />
Verbindung von Transzendentalphilosophie, Metaphysik, Daseinshermeneutik,<br />
Sprachreflexion und die Vielzahl der gedanklichen Anspielungen auf Parmenides,<br />
Platon, Augustinus, Meister Eckhart bis hin zu Jacobi machen die fichtesche<br />
Religionslehre zu einem auf den ersten Blick ebenso reichen wie rätselhaften Text,<br />
dessen Gesamtsinn sich erst erschließt, wenn er als Werk der angewandten<br />
Philosophie <strong>Fichtes</strong> gelesen wird.<br />
Die Anweisung verkörpert nämlich das gewagte und schwierige Projekt, die „tiefste<br />
Metaphysik und Ontologie“ (GA I, 9, 67) in populärer Form einer größeren<br />
Öffentlichkeit nahezubringen. Sie gehört deshalb nicht in die Reihe der<br />
systematischen Abhandlungen zur Wissenschaftslehre, sondern zur <strong>öffentliche</strong>n<br />
<strong>Lehre</strong>, die unmittelbar auf das geschichtliche Leben Einfluss zu nehmen versucht. Als<br />
metaphysischer Höhepunkt der <strong>öffentliche</strong>n Philosophie <strong>Fichtes</strong> verbindet sie die<br />
Form des populären Vortrags mit den Inhalten des gründlichen Denkens und sollte<br />
nicht als bloße ‚Popularphilosophie‘ missverstanden werden. Ausdrücklich weist<br />
Fichte darauf hin, dass seine Religionslehre der „seit sechs bis sieben Jahren, mit mehr<br />
Muße, und im reifern Mannesalter, unablässig fortgesetzten Selbstbildung“ (GA I, 9,<br />
47) entsprungen sei. Mit ihr findet Fichte endlich zu der von Kant vergeblich<br />
gesuchten Gattung philosophischer Literatur, die Popularität und Gründlichkeit in sich<br />
vereint und die rhetorische Differenz zwischen spekulativer Wahrheit und <strong>öffentliche</strong>r<br />
Glaubwürdigkeit überwinden soll. Dass auch die Metaphysik im Rahmen der<br />
<strong>öffentliche</strong>n <strong>Lehre</strong> mehr zu sein hat als ein bloßes Begriffssystem, erklärt schon die<br />
bereits erwähnte stilistische und thematische Aspektfülle des Textes.<br />
Das neue ‚religiöse Denken‘, das implizit die gesamte Trilogie der <strong>öffentliche</strong>n<br />
Philosophie <strong>Fichtes</strong> bestimmt und schon am Ende der Grundzüge hervorgetreten war,<br />
bringt sich nun in der Anweisung ausdrücklich selbst zur Sprache. Die<br />
außergewöhnliche, disziplinübergreifende Spannweite dieses religiösen Denkens<br />
erstreckt sich, ausgehend von der transzendentalen Metaphysik, über die Hermeneutik<br />
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3 H. Traub, „Vollendung der Lebensform. <strong>Fichtes</strong> <strong>Lehre</strong> vom seligen Leben als Theorie der Weltanschauung<br />
und des Lebensgefühls“, Fichte-Studien 8 (1995), 161–191, hier: 161.