II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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und Zeitumstände, insbesondere das Einwirken widriger Mächte und retardierender<br />
Kräfte, die die Realisierung des Weltplans erheblich stören und aufhalten, sind für den<br />
Philosophen nicht voraussehbar. Denn „alle diese besonderen Umgebungen gehen aus<br />
dem Begriffe jenes Welt=Planes keineswegs hervor; sie sind das in ihm unbegriffene“<br />
(GA I, 8, 304). Dieses a priori Unbegreifbare der individuellen historischen Situation<br />
muss der Philosoph als das nicht Deduzible der Realgeschichte notwendig der<br />
empirischen Erkenntnis des Historikers überlassen.<br />
Die fichtesche Geschichtsphilosophie beruht auf der Grundeinsicht seiner<br />
Wissenschaftslehre, dass „überall nur Ein lebendiges, die Eine, lebende Vernunft“<br />
(GA 1, 8, 210) existiert, deren geschichtliches Leben sich in den fünf Epochen<br />
entwickelt, die der Weltplan vorzeichnet. 4 Bei diesem Konzept fällt die Gegenwart<br />
genau in die Mitte der Zeit, nämlich in das dritte Zeitalter ‚vollendeter<br />
Sündhaftigkeit‘, in dem sich die Vernunft in ihrer tiefsten Krise befindet. Vor diesem<br />
Hintergrund entfaltet sich <strong>Fichtes</strong> Geschichtsphilosophie als radikale Kritik der<br />
Gegenwartskultur, in der die zur allgemeinen Herrschaft gelangte individuelle<br />
Selbstsucht die menschliche Gemeinschaft zu zerstören droht.<br />
Der Grund dieser von Fichte behaupteten selbstzerstörerischen Tendenzen der<br />
Moderne liegt in der geschichtlich vorgezeichneten Separation von Vernunft und<br />
Freiheit. Durch die Abspaltung der infinit gewordenen individuellen Freiheit droht die<br />
Menschheit ihr inneres synthetisches Prinzip, nämlich die „Einheit der Vernunft“<br />
(ebd.) zu verlieren, die als Gemeinsinn das Denken und Handeln der Einzelnen in den<br />
Gesamtzusammenhang menschlicher Gemeinschaft integriert. Mit seiner Kulturkritik<br />
am selbstzerstörerischen Prozess grenzenloser Individualisierung knüpft Fichte an<br />
seine frühe Anthropologie in der Bestimmung des Gelehrten von 1794 an, in der er<br />
schon seine Überzeugung von der grundsätzlich gesellschaftlichen Bestimmung des<br />
Menschen vertreten hatte. Demnach kann sich der Mensch als individuelle Person nur<br />
in der kommunikativen Wechselwirkung mit anderen Menschen finden und sein<br />
Selbst verwirklichen. In den Grundzügen, die den „Ursprung der verschiednen<br />
individuellen Personen aus der Einen Vernunft“ (GA I, 8, 211) hervorheben, hat sich<br />
dieses frühe poli-<br />
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4 Zur theoretischen Ableitung der in der Geschichtslehre vorausgesetzten Einsicht siehe den 2. Vortrag der<br />
Wissenschaftslehre von 1804, insbesondere die Vorlesungen XXV<strong>II</strong> u. XXV<strong>II</strong>I. (Vgl. auch H. Traub,<br />
Johann Gottlieb <strong>Fichtes</strong> Populärphilosophie, 91–129.)