II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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Fichte wird hier zum Begründer der später von Schelling in seinen Vorlesungen über<br />
die Methode des akademischen Studiums (1802) gelobten „lebendigen Lehrart“, die<br />
„das Ganze der Wissenschaft gleichsam erst vor den Augen des Lehrlings entstehen<br />
läßt“ (SW V, 234). Ausgehend vom Problem der Lehrbarkeit der kantischen<br />
Transzendentalphilosophie erfindet Fichte diesen genetischen Vortragsstil, der von der<br />
rhetorischen Figur der evidentia oder enargeia Gebrauch macht, um den Hörern einen<br />
Sachverhalt durch Rede gleichsam vor Augen zu führen. Dieser wird somit selbst zum<br />
Zeugen der vor seinem inneren Auge erzeugten Gedanken und auf diese Weise<br />
innerlich überzeugt. 12<br />
Die entgegengesetzte Einstellung zur Rhetorik bildet eine bisher unterschätzte<br />
wesentliche Differenz zwischen kantischem Kritizismus und fichteschem Idealismus.<br />
Nicht zuletzt durch die Intensivierung des von Kant abgelehnten persuasiven<br />
Momentes der Philosophie entsteht Fichte im Jahre 1794 gleichsam unter der Hand<br />
das erste große ‚System‘ des deutschen Idealismus. Es kann sogar gesagt werden, dass<br />
die Erfindung des Idealismus bei Fichte mehr oder weniger unabsichtlich in der<br />
rhetorischen Überarbeitung der kantischen Transzendentalphilosophie geschieht.<br />
Dabei geht das drängende Grundproblem der Lehrbarkeit in den Namen des neuen<br />
fichteschen Idealismus mit ein: Der sprechende Titel Wissenschaftslehre spielt auf den<br />
Doppelsinn des deutschen Worts <strong>Lehre</strong> an und weist darauf hin, dass in dieser<br />
Philosophie die Theorie und ihre Lehrbarkeit eine unauflösbare Einheit bilden sollen.<br />
c) <strong>Fichtes</strong> Weg von den frühen Rhetorik-Studien<br />
zur Wissenschaftslehre<br />
Das wichtigste Dokument der frühen Rhetorik-Studien <strong>Fichtes</strong> bildet die bereits<br />
angesprochene Valediktionsrede Über den rechten Gebrauch der Regeln der Dicht-<br />
und Redekunst von 1780. Der junge Fichte vertritt hier eine rhetorikaffine<br />
Anthropologie, deren Zentrum die „<strong>Lehre</strong> von den eingeborenen Gefühlen“ 13 darstellt.<br />
Demgemäß<br />
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12 Vgl. zur Geschichte des Konzepts P. Galand-Hallyn, „De la rhétorique des affects à une metapoétique:<br />
Evolution du concept d’enargeia“, in: H. F. Plett (Hrsg.), Renaissance-Rhetorik/Renaissance Rhetoric,<br />
244–265.<br />
13 Vgl. R. Preul, Reflexion und Gefühl. Die Theologie <strong>Fichtes</strong> in seiner vorkantischen Zeit, Berlin 1969, 28.