II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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Die Wirksamkeit der Vernunft und ihrer fortschrittlichen Ideen in der<br />
Realgeschichte bleibt allerdings kontingent und vollzieht sich nach Fichte nicht mit<br />
Notwendigkeit. Der Zusammenhang zwischen der Idealität des Weltplans und der<br />
Faktizität der geschichtlichen Wirklichkeit hängt nämlich ab von dem – nicht zuletzt<br />
vom Gelehrten vermittelten – Durchbruch der neuen epochalen Idee gegen den<br />
Widerstand des herrschenden materialistischen Zeitgeistes. Dabei vermag nicht die<br />
bloß negative Ermahnung zur Askese, sondern nur das Positive einer neuen,<br />
begeisternden Idee die Menschen zum freiwilligen Verzicht zu bewegen.<br />
Bricht aber die Idee durch, offenbar und begreiflich als Idee, und reißt sich los zu eigenem, in<br />
ihr als Idee begründeten Leben, so … entsteht, mit Einem Worte, dasjenige Phänomen,<br />
welches in allen unsern bisherigen Schilderungen sich zeigte: das Phänomen der Aufopferung<br />
(ebd.).<br />
Nur durch einen solchen Einbruch schöpferischer Vernunft in die empirische<br />
Wirklichkeit kann sich das geschichtliche Leben wirklich erneuern und eine originäre<br />
geschichtliche Epoche der Menschheit hervorbringen.<br />
d) Die politische Utopie des Kulturstaats der Zukunft<br />
Die vielleicht auffälligste Differenz der Geschichtsmetaphysik <strong>Fichtes</strong> zur<br />
gewöhnlichen Geschichtswissenschaft bildet ihr prognostischer Zukunftsbezug, der<br />
weit über eine bloße Rekonstruktion der Vergangenheit und eine entsprechende<br />
Kulturkritik der Gegenwart hinausgeht. Die spekulative Hypothese des Weltplans und<br />
die daraus resultierende Fünf-Epochen-<strong>Lehre</strong> erlaubt nämlich den Entwurf des<br />
Ganzen der Menschheitsgeschichte in ihren drei Dimensionen der Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft. Deshalb erschöpft sich die fichtesche Geschichtslehre nicht<br />
in der Darstellung der Vergangenheit oder der kritischen Beschreibung der<br />
Gegenwartskultur, sondern kann es auch wagen, die Grundzüge der zukünftigen<br />
Geschichte der Menschheit zu prognostizieren. Dabei sieht Fichte den Hauptfortschritt<br />
menschheitlicher Kultivierung auf dem Gebiet der Staatspolitik. Die Prognose einer<br />
‚Revolution der Gesinnung‘ in der kommenden vierten und fünften<br />
Menschheitsepoche gipfelt in der Utopie eines Kulturstaats der Zukunft, der nach<br />
Fichte die eigentliche „Bestimmung des menschlichen Geschlechts“ (GA I, 8, 311) ist.<br />
Fichte vertritt dabei die konkrete Utopie einer positiven Staatsidee,<br />
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