II. Fichtes öffentliche Lehre
II. Fichtes öffentliche Lehre
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b) Signaturen der Selbstzerstörung: Formalismus, Mystizismus<br />
und die korrumpierte Literatur<br />
Mit der Separation der subjektiven Freiheit von der allgemeinen Vernunft setzt in<br />
<strong>Fichtes</strong> Augen ein Prozess der Singularisierung der Existenz ein, der die Menschheit<br />
in die „bloße nackte Individualität“ (GA I, 8, 212) auflöst und ein Zeitalter des<br />
individuellen Egoismus und hedonistischen Materialismus hervorbringt. „Dieses,<br />
einem solchen Zeitalter übrigbleibende individuelle und persönliche Leben ist<br />
bestimmt durch den Trieb der Selbsterhaltung, und des Wohlseyns“ (ebd.). Der<br />
gesellschaftlichen Herrschaft des materiellen Egoismus entspricht auf<br />
wissenschaftlicher Ebene – so <strong>Fichtes</strong> kritische Analyse des „wissenschaftlichen<br />
Zustandes des dritten Zeitalters“ (GA I, 8, 249) – der Formalismus. Die Wissenschaft<br />
reduziert sich dabei auf die bloße wissenschaftliche Methodenreflexion oder die<br />
formal korrekte Begriffskonstruktion, der aber als „leere Form … dasjenige, wodurch<br />
allein die Wissenschaft einen Gehalt bekommt, die Idee, gänzlich abgehet“ (GA I, 8,<br />
247). In einem solchen Zeitalter des wissenschaftlichen Formalismus, in dem der<br />
bloße „Begriff des Begriffs“ (ebd.) vorherrscht und aus dem jeder bedeutsame und<br />
begeisternde Gehalt gewichen ist, breitet sich die Grundstimmung der tiefen<br />
intellektuellen Langeweile aus. Ein Zeitalter, so kritisiert Fichte, „das der Ideen<br />
entbehrt, muß daher nothwendig eine große Leere empfinden, die sich als unendliche,<br />
nie gründlich zu hebende, und immer wiederkehrende Langeweile offenbahrt“ (GA I,<br />
8, 250).<br />
Um ferner der unerträglichen Last dieser Langeweile wenigstens eine Zeit lang zu<br />
entgehen und die „erschöpften Lebensgeister wieder zu erfrischen“ (GA I, 8, 251),<br />
greift man gerne zum Gegenmittel des Lächerlichmachens. Allerdings bleibt – so<br />
<strong>Fichtes</strong> Einwand – der aus Ideenlosigkeit und ~Langeweile geborene Witz rein<br />
negativ. Seine formale Intelligenz vermag lediglich andere Positionen der<br />
Lächerlichkeit preiszugeben und so zu vernichten, bleibt aber selbst unproduktiv und<br />
unfähig zu irgendeiner positionellen Neubegründung. Ihm fehlt gerade die innovative<br />
und genialische Fähigkeit des positiven und geistreichen Witzes, der darin besteht,<br />
eine neue Idee wie „in einen einzigen Lichtstrahl“ (ebd.) blitzartig zu entdecken und<br />
zu vergegenwärtigen.<br />
Die generelle Negativität der „Aufklärung des Zeitalters“ (GA I, 8, 255) bekundet<br />
sich aber nicht nur in der Herrschaft formaler Wissenschaft, sondern auch in seinem<br />
die Gesellschaft dominierenden „Meinungssystem“ (GA I, 8, 258). Im Zeitalter der<br />
„leeren Freiheit“<br />
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