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April - Experimenta.de

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Corinna Antelmann<br />

Hinter <strong>de</strong>r Wand<br />

… Die Wän<strong>de</strong> können re<strong>de</strong>n. Aber es ist normal, dass sie re<strong>de</strong>n, wenn du ihnen zuhörst. Es ist<br />

normal, dass sie mit dir sprechen, wenn du neu bist in ihnen und <strong>de</strong>nnoch verlangst, dich in sich<br />

zu bergen.<br />

Fünf Häute gibt es, hat Hun<strong>de</strong>rtwasser einmal gesagt, das fällt mir jetzt ein, während ich die letzte<br />

Kiste ins Haus trage. Die erste Haut ist die natürliche Haut, die zweite die Kleidung, die dritte<br />

das Haus, die vierte das soziale Gefüge und die fünfte die Er<strong>de</strong> selbst. Mir gefällt <strong>de</strong>r Gedanke,<br />

mehrere Hüllen zu haben, die mich schützen und gleichzeitig befreien, so dass ich nackt im Haus<br />

umher tanzen könnte, ohne mich fürchten zu müssen. Scha<strong>de</strong>, dass Großvater das Haus nicht<br />

rund gebaut hat. Es hätte mir gefallen, obendrein in diesen dunkelbunten Farben gestrichen, die<br />

Hun<strong>de</strong>rtwasser in seinen Bil<strong>de</strong>rn verwen<strong>de</strong>t hat, wie zum Beispiel in <strong>de</strong>m Portrait, das er von<br />

Großmutter anfertigte. Ich habe es im Keller wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>n, und nun hängt es in <strong>de</strong>r großen<br />

Küche an <strong>de</strong>r Nordwand.<br />

Ich stelle meinen Esstisch direkt unter ihren Blick, damit sie kosten kann, was ich Gutes koche.<br />

Dort sitzt sie jetzt mit ihrem breiten Hintern, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Geschichte thront und eben diese<br />

Geschichte erstickt, <strong>de</strong>nn im Gegensatz zu <strong>de</strong>r Beredtheit ihrer Wän<strong>de</strong> ist je<strong>de</strong>r Ton, <strong>de</strong>r es je<br />

wagte, aus <strong>de</strong>r Vergangenheit heraus ihren schmalen Lippen entschlüpfen zu wollen, stets von<br />

ihr zurück gejagt wor<strong>de</strong>n, bevor er die diesseitige Welt hätte erreichen können, die Welt jenseits<br />

ihres verletzten Körpers.<br />

Ach, Oma.<br />

Während ich meine Lieblingstassen neben das Geschirr <strong>de</strong>r Großeltern in die Hängeschränke<br />

räume, schaue ich immer wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m Portrait. Woher, frage ich mich, hat die stille Großmutter<br />

Mariechen eigentlich <strong>de</strong>n Hun<strong>de</strong>rtwasser gekannt? Und obendrein so innig, dass er sie hat<br />

abbil<strong>de</strong>n wollen, obwohl Portraits nie seine Sache gewesen sind, und er es ohne bewegen<strong>de</strong>n<br />

Grund sicher vorgezogen hätte, das Haus zu malen statt ihr Gesicht. Dann hätte er diesem Haus<br />

im Übrigen die Rundungen verpassen können, die ich jetzt vermisse.<br />

Das hören sie nur ungern, die Wän<strong>de</strong>, aber Ihr müsst schon verzeihen, meine Lieben, Ihr seid<br />

einfach ein Stück zu gera<strong>de</strong> geraten für mein kantiges Gemüt, ist ja nicht Eure Schuld.<br />

Ich trete an das Bild heran, um die Signatur besser erkennen zu können, und natürlich ist es gar<br />

nicht Hun<strong>de</strong>rtwasser gewesen, <strong>de</strong>r dieses Bild gemalt hat. Vermutlich stammt das Gemäl<strong>de</strong> von<br />

jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>rtwasser verehrt hat und ihm heimlich die Farben entrissen, so wie er <strong>de</strong>r<br />

Traurigkeit meiner Großmutter dieses Lächeln hat entlocken können, das ich nie kennengelernt<br />

habe. Sie hat es mir verschwiegen wie vieles, damals schon, als ich noch ein Kind gewesen bin.<br />

Nur dort in <strong>de</strong>m Bild, schräg über meiner Tüte Semmeln vom Bäcker nebenan, da scheint er mir<br />

unverputzt entgegen, dieser bisher unbekannte Ausdruck, mit <strong>de</strong>m die Oma Mo<strong>de</strong>ll gesessen<br />

haben muss, für jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r womöglich verliebt gewesen ist in sie, was weiß ich.<br />

Ich setze mich vor die Bäckertüte und beiße lustlos in ein Kipferl. Ich mag das Portrait. Es zeigt<br />

die mögliche Liebe, die in ihr gewesen ist, irgendwo, in einem Winkel ihres Herzens versteckt o<strong>de</strong>r<br />

hinter einem <strong>de</strong>r Ziegelsteine <strong>de</strong>r Wän<strong>de</strong> dieses Hauses.<br />

Aber, Oma, ich sage dir: Die Steine <strong>de</strong>ines Hauses sind ziemlich brüchig gewor<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Zeit,<br />

also sieh dich vor. Unsinn, nicht die Steine sind es, die zu bröckeln begonnen haben, es ist<br />

<strong>de</strong>r Mörtel in ihren Zwischenräumen, und das ist ein großer Unterschied, will ich meinen. Pass<br />

<strong>April</strong> 2013 29<br />

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