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Der Klassiker<br />
Liebesbriefe von Voltaire an Marie-Louise Denis<br />
Montag 27. Dezember 1745<br />
Sie haben mir einen beglücken<strong>de</strong>n Brief geschrieben, <strong>de</strong>n ich an mein<br />
Herz gedrückt habe; ich bin gar nicht überrascht, dass Sie so gut<br />
Italienisch schreiben. Es ziemt sich für Sie, die Sprache <strong>de</strong>r Liebe zu<br />
beherrschen. Bei Gott, ich kann Ihnen keinen Glauben schenken, wenn<br />
Sie mir sagen, dass Sie keinen Liebhaber hätten. Wie kann das möglich<br />
sein? Wie können Sie so viel Anmut einfach brachliegen lassen? Sie - und keine<br />
sinnliche Liebe? Ach, meine Allerliebste, Sie beleidigen Ihren Gott. Sie sagen mir, dass<br />
mein Brief brennen<strong>de</strong> sinnliche Begier<strong>de</strong> in Ihnen geweckt hat, auch ich brenne vor<br />
Begier<strong>de</strong>. Ihre Worte haben mein Herz höher schlagen lassen und meine Lei<strong>de</strong>nschaft<br />
entflammt. Ihrem Brief habe ich <strong>de</strong>n Tribut entrichtet, <strong>de</strong>n ich Ihrer Person hätte spen<strong>de</strong>n<br />
wollen. Die Begier<strong>de</strong> verflüchtigt sich jedoch bald, aber die Freundschaft, die uns<br />
verbin<strong>de</strong>t, das gegenseitige Vertrauen, die Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Herzens, die Begier<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Seele<br />
schwin<strong>de</strong>n nicht so schnell dahin. Ich wer<strong>de</strong> Sie bis zu meinem tod lieben. Hier in meinem<br />
Zimmer wer<strong>de</strong>n Sie die vier Karten für die Aufführung von Armida vorfin<strong>de</strong>n. Ich<br />
wer<strong>de</strong> sie Ihnen zu Füssen legen und anschliessend mit meiner lieben Denis von Paris<br />
nach Versailles fahren. Leben Sie wohl, ich umarme Sie tausendmal.<br />
Diesen Mittwoch, Abends<br />
Mein liebes Kind, Ihr Brief tröstet mich sehr über das Unglück hinweg, das es für mich<br />
be<strong>de</strong>utet, hier in Versailles zu sein, über all die Mühen, die ich hier auf mich nehmen<br />
muss, damit mir auch nur die beschei<strong>de</strong>nsten Bitten gewährt wer<strong>de</strong>n und um die Bosheiten<br />
abzuwehren, die man hier stets bereit ist, einan<strong>de</strong>r zuzufügen. Ich wer<strong>de</strong> noch<br />
ganz blöd davon und bin sehr unglücklich, dass ich nicht zusammen mit Ihnen in Ruhe<br />
und Frie<strong>de</strong>n leben kann, irgendwo weit weg von Königen, Höflingen und Armleuchtern.<br />
Diese Gedanken stürzen mich in Verzweiflung. Es treibt mir die Röte ins Gesicht, dass<br />
ich ein so grosser Philosoph in <strong>de</strong>r Theorie sein kann und ein so armseliges menschliches<br />
Exemplar in <strong>de</strong>r Praxis. Nur jene fin<strong>de</strong>n Glück und einen Sinn im Leben, die selbiges<br />
mit ihren Freun<strong>de</strong>n verbringen. Ich hoffe darauf, bald zurückzukehren; Ihre Gegenwart<br />
vertreibt all meinen Kummer und meine Sorgen. Aber welch ein Schicksal ist dies,<br />
fortwährend voneinan<strong>de</strong>r getrennt zu sein! Sich nach einan<strong>de</strong>r zu sehnen, ohne sich<br />
sehen zu können! Ach, ich bin es leid, nicht mit Ihnen im selben Haus zu weilen! Es<br />
scheint mir, dass Sie mir Seelenfrie<strong>de</strong>n bringen. Leben Sie wohl, mein liebes Kind.<br />
Lieben Sie <strong>de</strong>n Wüten<strong>de</strong>n von Versailles ein wenig!<br />
Voltaire<br />
*21. November 1694 in Paris; † 30. Mai 1778<br />
Voltaire Atelier <strong>de</strong> Nicolas <strong>de</strong> Largillière, portrait<br />
<strong>de</strong> Voltaire, détail (musée Carnavalet)<br />
<strong>April</strong> 2013 9<br />
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