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EMILY DICKINSON<br />
Von Marlene Schulz<br />
1.800 Gedichte hat sie verfasst, sieben wur<strong>de</strong>n zu ihren Lebzeiten<br />
publiziert. „Wäre <strong>de</strong>r Ruhm mein“, schrieb sie 1862 einem befreun<strong>de</strong>ten<br />
Verleger, <strong>de</strong>r ihr von einer Veröffentlichung abriet, „ich könnt ihm nicht<br />
entkommen – wenn aber nicht, <strong>de</strong>r längste Tag hetzt mir voraus beim<br />
Jagen.“<br />
Emily Dickinson (1830 – 1886) stirbt 56-jährig, ohne dass bis dahin<br />
jemand weiß, dass sie eine <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendsten amerikanischen<br />
Lyrikerinnen ist.<br />
Etwa ab ihrem vierzigsten Lebensjahr verlässt sie das Haus nicht mehr.<br />
Schon Jahre zuvor geht sie ungern über die Grenzen ihres Gartens<br />
hinaus, Besuche stellt sie weitestgehend ein. Neuere Forschungen<br />
gehen davon aus, dass sie allein aus eigenem Entschluss getrieben war, sich <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />
zu entziehen.<br />
Was für an<strong>de</strong>re trivial und alltäglich erscheint, ist für sie Anlass, sich<br />
<strong>de</strong>m Staunen hinzugeben, sich Raum und Zeit auch für die kleinen<br />
Dinge <strong>de</strong>s Lebens zu nehmen. „Leben ist für mich Ekstase – das bloße<br />
Gefühl, am Leben zu sein, ist Glück genug“, schreibt sie in einem ihrer<br />
zahlreichen Briefe. „Das Leben ist so aufregend, dass es nur wenig<br />
Raum für an<strong>de</strong>re Beschäftigungen übrig lässt.“ Im Kreis <strong>de</strong>r Familie<br />
bewegt sie sich, führt ein ereignisloses Leben, Sommer wie Winter<br />
weiß geklei<strong>de</strong>t, bleibt unverheiratet, macht sich im Haushalt nützlich,<br />
züchtet Blumen, pflegt Kranke, schreibt Briefe und Gedichte. Bereits<br />
in <strong>de</strong>r Schule fällt ihre herausragen<strong>de</strong> Intelligenz auf.<br />
Ihre Dichtung ist gezeichnet von präziser Naturbeobachtung, von<br />
emotionaler Kontrolle, Ironie und Selbstironie. Natur, Liebe, Tod,<br />
To<strong>de</strong>serwartung, Unsterblichkeit und auch Entsagung und Verzicht sind ihre Themen.<br />
Emilly Dickinson<br />
Marlene schulz, marlene_02<br />
Emily Dickinson bricht mit klassischen Formen <strong>de</strong>r Lyrik. Zum Markenzeichen ihrer Dichtung<br />
wer<strong>de</strong>n zahlreich eingefügte Gedankenstriche. Sie hält sich nicht an grammatikalische Regeln,<br />
verstößt gegen die normale Syntax, stellt Worte in ungewöhnliche Zusammenhänge. In <strong>de</strong>r 1990<br />
erschienenen Sammlung Ich wohn’ im Haus <strong>de</strong>r Möglichkeit führt Susanne Schaup dazu aus:<br />
„Viele ihrer Reime sind ‚unrein’, das heißt, sie reimen nicht in vollem, son<strong>de</strong>rn nur in annähern<strong>de</strong>m<br />
Gleichklang, nicht selten gar nicht. Es braucht ein geschärftes Ohr, das sozusagen nach innen<br />
hört, um die vollkommene Kongruenz zwischen Gedanken und Klanggestalt, Inhalt und Form,<br />
wahrzunehmen. Wo die Wirklichkeit klafft, ist auch <strong>de</strong>r Vers uneben. Das Paradox <strong>de</strong>s Lebens,<br />
die Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>de</strong>s Daseins lassen sich nicht in glatte Reime fassen. Aber diese Art zu dichten<br />
und Aussage an Klang zu bin<strong>de</strong>n, war ihrer Zeit weit voraus.“<br />
Marlene Schulz, *1961 in Hei<strong>de</strong>lberg. Studien <strong>de</strong>s belletristischen und journalistischen<br />
Schreibens. Stipendiatin am Institut für kreatives Schreiben in Bad Kreuznach. Lesungen<br />
auf unterschiedlichen Bühnen, u.a. Stalburgtheater Frankfurt, Burg Eppstein, Radio Rheinwelle,<br />
Buchmesse Frankfurt. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften im<br />
<strong>de</strong>utschsprachigen Raum.<br />
<strong>April</strong> 2013 59<br />
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