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ICH WOHN’ im Haus <strong>de</strong>r Möglichkeit –<br />
kein schöneres als das –<br />
mehr Fenster hat es – bessre Türen,<br />
als Prosa je besaß –<br />
Gemächer hoch wie Ze<strong>de</strong>rn,<br />
in die kein Auge fällt –<br />
und als ein immerwährend Dach<br />
das blaue Himmelszelt –<br />
Gar liebenswerte Gäste –<br />
und mein Geschäft ist dies –<br />
die schmalen Hän<strong>de</strong> breit ich aus<br />
und sammle das Paradies.<br />
Wann für Emily Dickinson Dichtung spürbar ist, lässt sich bei Susanne Schaup eindrücklich<br />
nachlesen: „Wenn ich ein Buch lese und mein ganzer Körper so kalt wird, dass kein Feuer mich<br />
erwärmen könnte, dann weiß ich, das ist Dichtung. Wenn ich das körperliche Gefühl habe, als ob<br />
mir <strong>de</strong>r Schä<strong>de</strong>l abgerissen wür<strong>de</strong>, weiß ich, das ist Dichtung. Ich erfahre es nur auf diese Weise.<br />
Gibt es <strong>de</strong>nn eine an<strong>de</strong>re?“ äußert sie 1870 in einem Gespräch mit <strong>de</strong>m befreun<strong>de</strong>ten Verleger<br />
und Literaten Thomas Wentworth Higginson. Im Nachklang <strong>de</strong>ssen wird er später seiner Frau<br />
sagen: „Ich war nie mit einem Menschen zusammen, <strong>de</strong>r meine Nervenkraft <strong>de</strong>rart erschöpfte.<br />
Ohne dass ich sie berührte, zehrte sie an mir.“<br />
En<strong>de</strong> 1883, als ihr achtjähriger Neffe an Typhus stirbt, schreibt sie wenige Monate später: „Die<br />
Krisis <strong>de</strong>r Trauer zu vieler Jahre, sie ist’s, die mich mü<strong>de</strong> macht.“ Über seinen Tod kommt sie nicht<br />
hinweg. Ein Jahr danach stirbt ihre späte Liebe. Der Ton ihrer Dichtung in diesen letzten Jahren<br />
ihres Lebens ist Spiegel unermesslicher Trauer. Emily Dickinson stirbt im Mai 1886. Im weißen Sarg<br />
wird sie zur hinteren Tür <strong>de</strong>s Hauses hinausgetragen bis zum Familiengrab. Obwohl sich Thomas<br />
Wentworth Higginson lange nicht mit Emily Dickinsons Dichtung anfreun<strong>de</strong>n kann, beteiligt er<br />
sich an <strong>de</strong>r Herausgabe <strong>de</strong>s ersten, posthum verlegten Gedichtban<strong>de</strong>s. Die Herausgeberin<br />
Uda Strätling zitiert <strong>de</strong>n Literaten in Wil<strong>de</strong> Nächte, ein Leben in Briefen. In Ge<strong>de</strong>nken an Emily<br />
Dickinson schreibt er zwanzig Jahre nach ihrem Tod: „Wenn uns ein Gedanke <strong>de</strong>n Atem raubt,<br />
zählen wir da noch Silben?“<br />
Bibliographie:<br />
Emily Dickinson: Ich wohn’ im Haus <strong>de</strong>r Möglichkeit. Zusammengestellt von Susanne Schaup.<br />
Freiburg (Her<strong>de</strong>r) 1990. ISBN 978-3451087110. 140 Seiten. Nur antiquarisch erhältlich.<br />
Emily Dickinson: Wil<strong>de</strong> Nächte. Ein Leben in Briefen. Herausgegeben von Uda Strätling. Frankfurt<br />
am Main (S. Fischer) 2006. ISBN 978-3100139078. 400 Seiten. 24,90 €.<br />
60 <strong>April</strong> 2013