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April - Experimenta.de

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Astrid Rußmann<br />

Bjarnis Schiff<br />

Nein! Das ist nicht Grönland, dachte Bjarni Herjolfsson, als <strong>de</strong>r Nebel sich lichtete. Er stand,<br />

geklei<strong>de</strong>t in das daunengefütterte Ölzeug eines Nordlandfahrers, auf <strong>de</strong>m achtern Deck <strong>de</strong>r „Ägir“<br />

und schwitzte. Es war bereits Oktober. Wie konnte es um diese Jahreszeit hier oben nur so warm<br />

sein? Hinter <strong>de</strong>m Strand, <strong>de</strong>n sie östlich passierten, erhoben sich, soweit das Auge reichte, vom<br />

Herbst gefärbte Hügel und Wäl<strong>de</strong>r. Das rot-weiß gestreifte Rahsegel <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lsschiffes blähte<br />

sich im Fahrtwind aus Südost. Einige Tage zuvor noch hatte die „Ägir“ gegen einen schweren<br />

Sturm angekämpft. Er hatte sie offenbar vom Kurs abgebracht.<br />

„Es wird Grönlands Osten sein“, sagte Thorolf, Bjarnis Steuermann, <strong>de</strong>r neben ihm stand, während<br />

<strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Mannschaft immer noch dabei war, <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>raum zu lenzen. „Wir sollten wen<strong>de</strong>n<br />

und uns südwestlich halten. Dann müßten wir irgendwann auf Eriks Fjord stoßen.“<br />

„Nein“, antwortete Bjarni. „Das glaube ich nicht. Wenn da drüben Grönland liegt, wo sind dann die<br />

schneebe<strong>de</strong>ckten Gipfel, wo die Gletscher, die man uns beschrieben hat?“<br />

Thorolf strich sich <strong>de</strong>n Bart. „Sicherlich, das ist eigenartig. – Dann laß uns anlan<strong>de</strong>n und die Gegend<br />

erkun<strong>de</strong>n. Vielleicht treffen wir ein paar von unseren Leuten, die uns weiterhelfen können.“<br />

„Weißt du nicht, wie riesig Grönland sein soll? Der Rote und seine Gefolgsmänner haben nur die<br />

Südspitze besie<strong>de</strong>lt. Da drüben ist also kein Mensch. Und nach einer Begegnung mit Eisbären<br />

steht mir nicht <strong>de</strong>r Sinn.“<br />

„Eisbären? Bjarni, die gibt es nur dort, wo auch Packeis ist. Ich sehe weit und breit kein<br />

Packeis.“<br />

„Eben“, sagte Bjarni. „Das ist nicht Grönland.“<br />

www.eXperimenta.<strong>de</strong><br />

Astrid Rußmann, geboren 1963 in Kiel. Seit <strong>de</strong>r Kindheit gilt ihre Liebe allem,<br />

was mit Geschichte zu tun hat. Sie schreibt vorwiegend vor historischem<br />

Hintergrund.<br />

Veröffentlichungen: Historischer Roman „Thiudans“ (über <strong>de</strong>n Westgotenkönig<br />

Alarich) bei BoD; Geschichte „Blut o<strong>de</strong>r Wasser“ in <strong>de</strong>r Anthologie „Klerus,<br />

Pest und Jungfernkranz“<br />

Thorolf gab es auf. Mit Bjarni war nicht zu re<strong>de</strong>n. Aber die Mannschaft, die wür<strong>de</strong> murren. Sie<br />

alle waren seit Tagen ohne Landgang und vollkommen erschöpft. Nach all <strong>de</strong>n Entbehrungen<br />

brauchten sie unbedingt wie<strong>de</strong>r warme Kost. Sie hatten genug von getrocknetem Heilbutt. Dort<br />

drüben hätten sie sicher Karibus jagen können.<br />

Das wußte auch Bjarni, und er hätte seiner Mannschaft ein wenig Rast gern gegönnt. Allein er<br />

traute dieser Küste nicht. Zu<strong>de</strong>m hatte er Waren gela<strong>de</strong>n: Bernstein, Waffen und Bauholz. Er<br />

war vor zwölf Nächten aus Norwegen aufgebrochen, um die Ladung nach Island zu bringen, wo<br />

sein Vater Herjolf Han<strong>de</strong>l trieb. Doch als er dort angekommen war, hatte er das Gehöft verlassen<br />

vorgefun<strong>de</strong>n. Herjolf, so sagte man ihm, sei bereits im Sommer mit Erik <strong>de</strong>m Roten nach Grönland<br />

aufgebrochen, um dort Neuland zu nehmen. Er hatte seinem Sohn die Nachricht hinterlassen,<br />

ihm mit <strong>de</strong>n Waren zu folgen, und obwohl Bjarni nie zuvor nach Grönland gefahren war, stach er<br />

sofort wie<strong>de</strong>r in See, ausgestattet nur mit <strong>de</strong>r Weisung, er möge sich auf striktem Westkurs halten.<br />

Treibeis aus <strong>de</strong>m Nor<strong>de</strong>n war zunächst ihr treuester Begleiter: sicheres Indiz dafür, daß <strong>de</strong>r Winter<br />

nicht mehr weit war. Und dann kam das Unwetter auf. Nach drei Tagen Sturm fiel dichter Nebel<br />

über die „Ägir“. Ohne die Möglichkeit, <strong>de</strong>n Standort zu bestimmen, trieben sie einen ganzen Tag<br />

lang hilflos in <strong>de</strong>r Strömung. Erst heute morgen war die Sicht wie<strong>de</strong>r besser gewor<strong>de</strong>n. Doch es<br />

gab hier kein Treibeis mehr. Wie weit waren sie wirklich nach Sü<strong>de</strong>n abgedriftet? War es möglich,<br />

daß es sie an die Küste Britanniens verschlagen hatte? Dann mußten sie also nach Nor<strong>de</strong>n. Bjarni<br />

wußte, daß die Mannschaft seine Entscheidung nicht billigen wür<strong>de</strong>, doch er war <strong>de</strong>r Eigner<br />

dieses Schiffes. Als er seine Männer mittschiffs um <strong>de</strong>n Mast herum antreten ließ, gab er die<br />

Or<strong>de</strong>r aus, <strong>de</strong>r unbekannten Küste zu folgen, und zwar ohne Landgang.<br />

48 <strong>April</strong> 2013

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